„Im Morgenkreis (…) das wird den manchmal ZU VIEL“

Ein kritischer Blick auf die Wahrung der Tradition einer Durchführung von Sitzkreisen

Im Kitaalltag ist die Durchführung eines Sitzkreises beispielsweise in Form eines Morgen-, Montags-, Abschluss- oder Geburtstagskreises fester Bestandteil der pädagogischen Arbeit, obgleich die Durchführung hinsichtlich verschiedener Zielsetzungen wie beispielsweise das sprachbildende Potenzial und partizipative Gelegenheiten kontrovers diskutiert wird. In diesem Beitrag soll der wissenschaftliche DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  skizziert werden. Zudem werden Ergebnisse einer Befragung von pädagogischen Fachkräften (n=260) dargestellt. Hierbei wurde unter anderem der Umfang, die Form sowie die eigene pädagogische Haltung in Bezug auf die Durchführung von Sitzkreisen erfragt. Die Ergebnisse werden mit weiteren Ankerzitaten aus Gruppendiskussionen untermauert. Im Anschluss an die Darstellung der Ergebnisse soll ein kritischer Blick – vor allem unter Berücksichtigung des sprachbildenden Potenzials – erfolgen, um darauf aufbauend mögliche Alternativen zur traditionellen Form eines Sitzkreises aufzuzeigen.

Was spricht für oder gegen die Durchführung von Sitzkreisen?

In der wissenschaftlichen Diskussion wird die Durchführung von Sitzkreisen kontrovers beurteilt. Jaschke-Roehl (2002) und Gödde (2007) stellen beispielsweise das sprachbildende Potenzial heraus (vgl. Kurtenbach et al. 2013: 101). Jungmann/Morawiak und Meindl (2015) beschreiben ebenfalls Möglichkeiten, wie der Stuhlkreis den Ausbau phonetischer, lexikalischer, grammatischer sowie pragmatischer Fähigkeiten der Kinder unterstützen kann (vgl. Jungmann/Morawiak & Meindl 2015: 57ff.). Sitzkreise können demnach unter anderem die Funktionen einnehmen, gemeinsam mit der Gruppe den Tag zu beginnen, geplante Aktionen zu besprechen oder Gesprächsregeln einzuüben und den Wortschatz der Kinder zu erweitern (vgl. ebd.). Feste Rituale – zu denen die regelmäßige Durchführung eines Sitzkreises zu zählen ist – bieten den Kindern zudem Orientierung und Halt, indem sie als wichtige Anker-punkte im Alltag fungieren können. Insbesondere in unbeständigen Zeiten können sie Kindern helfen, aufkommenden Gefühlen wie Hilflosigkeit oder Unsicherheit vorzubeugen (vgl. Mays et al. 2022: 45ff.).

Albers (2009) sowie Becker-Mrotzek (2011) vertreten hingegen eine kritische Perspektive auf den Einsatz von Gesprächskreisen (vgl. Kurtenbach et al. 2013: 101). Der Erzählkreis gleiche dabei eher einem Lösen von Aufgaben bzw. einem Frage-Antwort-Dialog, der nur wenig Raum für die Entwicklung freier Gespräche zuließe (vgl. Becker-Mrotzek 2011: 43).

Einige pädagogische Fachkräfte publizieren innerhalb von einschlägigen Blogs ebenfalls ihre Erfahrungen zu Sitzkreisen und stellen heraus, dass diese häufig nicht auf eine freiwillige Teilnahme basieren und damit den Prinzipien der Partizipation widersprechen. Des Weiteren seien sie geprägt von langen Sitzphasen sowie festen Strukturen. Die verschiedenen Praxisbeiträge haben gemein, dass sie sich nicht grundsätzlich gegen die Durchführung eines Sitzkreises aussprechen, sondern es im Wesentlichen auf die Art der Durchführung ankomme. Hier plädieren die Fachkräfte unter anderem für eine freiwillige Teilnahme, partizipative Elemente (beispielsweise in der thematischen Gestaltung) sowie eine möglichst aktive Teilnahme der Kinder (vgl. u.a. Knauf 2020: 20f.).

Ergebnisse der Fragebogenerhebung

Über Supervisor:innen sowie weitere Multiplikator:innen wurde ein Fragebogen sowohl als Pencil-Paper-Fragebogen als auch über einen Link, der zur digitalen Version führte, verteilt. Die Pencil-Paper-Fragebögen wurden im Anschluss ebenfalls digitalisiert. Da keine genauen Angaben zur Weitergabe des Links bekannt sind, können hier keine expliziten Angaben zur Rücklaufquote getätigt werden. Insgesamt haben sich 260 pädagogische Fachkräfte an der Umfrage beteiligt.

Im Rahmen des Fragebogens wurde zunächst nach Form und Häufigkeit der Durchführung von Sitzkreisen gefragt. Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Sitzkreisformate sortiert nach absteigender Reihenfolge:


HäufigkeitAbbildung 1: Auftreten der Durchführung von Sitzkreisen innerhalb verschiedener Formate (eigene Darstellung)

Deutlich zu erkennen ist, dass die Formate Geburtstagskreis (75,2 %) sowie täglicher Morgenkreis (73,8 %) mit großem Abstand am häufigsten in den Einrichtungen durchgeführt werden. Dabei stellt der Geburtstagskreis ein unregelmäßiges Angebot dar, wohingegen der tägliche Morgenkreis als routinierte regelmäßige Aktivität einzuordnen ist. Die Dominanz des Sitzkreises im täglichen Ablauf wird auch durch die Frage nach der grundsätzlichen Durchführungshäufigkeit unabhängig der verschiedenen Formate deutlich. Mehr als die Hälfte der Fachkräfte geben an, dass ein Sitzkreis in ihrer Gruppe täglich stattfindet (56,2 %), in einigen Gruppen wird dieser sogar mehrmals täglich durchgeführt (12,4 %). Der kumulierte Wert für die Durchführung von Sitzkreisen mindestens einmal pro Woche liegt bei 89,1 %. Dieses Ergebnis zeigt, dass der Sitzkreis im Alltag von Kindertageseinrichtungen nach wie vor einen festen Bestandteil einnimmt und deckt sich mit einer Erhebung von Burghardt & Kluczniok (2020), die im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen sowie Fragebögen das Setting des Sitzkreises ebenfalls untersucht haben. Hier wurde als Durchführungshäufigkeit von Morgenkreisen ein Mittelwert von M = 4,89 „Tage in der Woche“ identifiziert, sodass eine nahezu tägliche Durchführung konstatiert werden konnte (vgl. Burghardt & Kluczniok 2020: 291).

Da die Frage nach den verschiedenen Formaten der Sitzkreise noch keine Aussagekraft zu den Aktivitäten enthält, wurde hierzu, im Rahmen der vorliegenden Erhebung, ein separates Item formuliert. Folgende Aktivitäten wurden auf einer vierstufigen Likert-Skala von „gar nicht“ bis „sehr häufig“ berücksichtigt: „gemeinsames Spielen eines Spieles“, „Kinder erzählen nacheinander“, „gemeinsames Singen eines Liedes“, „gemeinsame Durchführung eines Fingerspiels“, „Vorstellung (z.B. eines neuen Themas) durch die päd. Fachkraft“ sowie „gemeinsame Abstimmung (z.B. im Kontext von Partizipation)“. Die Mittelwerte zeigen, dass das gemeinsame Singen (M = 2,61) und Spielen (M = 2,24) am häufigsten durchgeführt werden, wohingegen die Abstimmung (M = 1,95) sowie die Vorstellung eines neuen Themas (M = 1,82) vergleichsweise seltener stattfinden. Die Aktivität des nacheinander Erzählens wird von 39,5 % der pädagogischen Fachkräfte als „sehr häufige Aktivität“ eingeschätzt (M = 2,13). Diese Form kann aus sprachbildender Sicht als besonders kritisch beurteilt werden, stellt sie doch eine Kommunikationsart dar, in der ‚sprechscheue‘ Kinder gezwungen werden, etwas zu erzählen und ‚sprechfreudige‘ Kinder nicht ausreichend Redezeit erhalten.

Im Anschluss wurden die pädagogischen Fachkräfte danach gefragt, durch wen die Aktivitäten hauptsächlich bestimmt werden. Hier lag die größte Zustimmung in der vorwiegenden Aktivität durch die pädagogische Fachkraft (M = 2,13). Die Aktivierung aller Kinder gleichzeitig nimmt einen vergleichsweise geringen Stellenwert ein (M = 1,56). Durch dieses Item wird damit die Einschätzung bekräftigt, dass ein Großteil der Kinder oftmals eine passive Rolle einnimmt und nicht in die Interaktion im Sitzkreis aktiv eingebunden ist.

Des Weiteren wurden verschiedene Aussagen getätigt und die Fachkräfte nach ihrer Zustimmung gefragt („stimme voll zu“, „stimme eher zu“, stimme eher nicht zu“, „stimme gar nicht zu“). Die folgende Tabelle 1 zeigt eine Zusammenfassung der gültigen Zustimmungen zu den jeweiligen Aussagen:

TabelleTabelle 1: Beurteilung zu den getroffenen Aussagen (Minimum, Maximum, Mittelwert sowie Standardabweichung)


Die Ergebnisse zeigen relativ geringe Zustimmungen zu den negativ konnotierten Aussagen „Ich empfinde die Durchführung eines Sitzkreises als anstrengend“ sowie „Mir ist es lieber, wenn ein:e Kolleg:in den Sitzkreis anleitet“, was die Deutung einer positiven Einstellung gegenüber der Durchführung von Sitzkreisen seitens der pädagogischen Fachkräfte zulässt. Die Aussagen bezüglich des Sitzkreises als Ritual im pädagogischen Alltag sowie im täglichen Ablauf enthalten wiederum die höchsten Zustimmungen und stellen gleichzeitig ein Begründungselement dar. Weitere Begründungen lassen sich in der Strukturierung und Orientierung des Alltags sowie in der Stärkung des Gruppenzusammenhalts finden, welche ebenfalls vergleichsweise hohe Zustimmungswerte enthalten.

Diese Aspekte wurden von den pädagogischen Fachkräften ebenfalls angeführt, als sie darüber hinaus in einem halboffenen Frageformat nach Kompetenzen gefragt wurden, die bei der Durchführung von Sitzkreisen gestärkt werden. Des Weiteren wurden unter anderem Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Bereichen der sprachlichen Bildung, musisch-kreativen Kompetenzen, Ausdauer/Konzentration und sozialen Kompetenzen genannt. Gründe, die gegen eine Durchführung von Sitzkreisen sprechen, wurden von den pädagogischen Fach-kräften insbesondere darin gesehen, dass die Kinder in ihrem Freispiel unterbrochen werden, das lange Sitzen teilweise von den Kindern nicht gut ausgehalten wird, der Zwang zur Teilnahme der Bedürfnisorientierung der Kinder und auch dem partizipativen Gedanken wider-spricht und der Sitzkreis häufig nicht an den Interessen der Kinder ausgerichtet ist.

Diese Aspekte und ein daraus resultierendes Verhalten seitens der Kinder wurde auch innerhalb von Gruppendiskussionen thematisiert, die im Rahmen eines Forschungsvorhabens zum Thema „alltagsintegrierte Sprach(en)bildung in der Frühpädagogik“ geführt wurden.

Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen

Im Rahmen eines Forschungsvorhabens wurden Gruppendiskussionen mit pädagogischen Fachkräften (n=50) aus neun Kindertagesstätten geführt. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Verständnis sowie der Umsetzung alltagsintegrierter Sprach(en)bildung (vgl. Tessmer 2021). In allen Gruppeninterviews wird die Durchführung von Sitzkreisen angesprochen. Dies weist auf eine hohe Dominanz im pädagogischen Alltag hin. Die Fachkräfte benennen hierbei un-ter anderem das Lernen von Ritualen und Strukturen sowie die Möglichkeit zur Einschätzung des kindlichen Sprachstandes als Funktionen und Zielsetzungen eines Stuhlkreises. Darüber hinaus wird der Stuhlkreis von einigen Einrichtungen als Möglichkeit des Einbezugs mehrsprachiger Elemente genutzt: zum Beispiel Zählen und Singen in unterschiedlichen Sprachen. Gleichzeitig beschreiben die pädagogischen Fachkräfte Verhaltensweisen von Kindern, die eine enorme psychische Belastung verdeutlichen:

Ja. Unsere X, die (…) die weint jedes Mal sobald wir uns zum Begrüßungs-kreis hinSETZN. JEDES MAL.(…) Beim letztn Mal hat sie halt zu unsrer Praktikantin gesacht: ‚Ich möchte lieber spieln.‘ Sie MÖCHTE sich nicht da hinsetzn und mit uns den Begrüßungskreis machn. Aber auch diese Struktur hat sie zu (.) LERNEN (I1 Z: 317-325).

Ja, und dann ham wir auch n russisches Mädchn, die is uns immer so weg-gelaufn, der war das einfach zu viel. […] Im Morgnkreis, grade wenn man dann so (.) oder auch grade bei diesn Kindern, immer dieses Vorlesn, mit den Büchern, das wird den manchmal ZU VIEL. Das is dann zu viel Sprache auf einmal für diese Kinder, und dann äh, könn die das auch teilweise nich mehr AUShaltn, und dann entziehn sie sich dem. Dann sind sie nich mehr im Kreis. Dann wolln sie einfach nur noch weg (I6 Z: 206-214).

Beide Zitate verdeutlichen eine enorme psychische Belastung der Kinder. In diesen Beispielen handelt es sich um Kinder, die eine andere Erstsprache als die deutsche Sprache sprechen. In einem anderen Gruppeninterview wird jedoch eine ähnliche Situation beschrieben, in der sich ein Kind ebenfalls vom Stuhlkreis entzieht, wo eine mögliche Mehrsprachigkeit nicht thematisiert wird und demnach scheinbar nicht der Grund zu sein scheint (I2 Z: 455-460). Die Fachkräfte hinterfragen dabei nicht, ob der Kontext des Stuhlkreises ursächlich für das Verhalten des Kindes sei und welcher Nutzen daraus hervorgeht, an der Durchführung des Stuhlkreises festzuhalten. Die Kinder müssen sich in derartig ritualisierten Aktivitäten, die von den Fachkräften initiiert werden, anpassen. An diesem Beispiel wird das asymmetrische Verhältnis zwischen den Kindern und pädagogischen Fachkräften besonders deutlich, das einem partizipativen Gedanken widerspricht.

Lediglich die Mitarbeiterinnen einer Einrichtung lehnen die Durchführung eines Stuhlkreises auf Initiative der Fachkräfte gänzlich ab. Als einen wesentlichen Grund gegen die tägliche Durchführung äußern sie, dass die Interaktion mit der Gesamtgruppe aufgrund der verschiedenen Interessen und heterogenen Altersstruktur der Kinder, einem Großteil der Gruppe nicht gerecht werden kann (I8 Z: 824-849). Die Leitung der Einrichtung weist auf das diesbezügliche Machtverhältnis zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Kindern wie folgt hin:

AU: Wenn ich dann um halb neun sag: ‚SO (.) jetz is Stuhlkreis‘, dann hol ich sie alle aus einzelnen Situation Sprachbildungsprozessn, sonst welchen Bil-dungsprozessn RAUS und äh ja mach das, da VIELES kaputt, für meine Begriffe und äh (.) ja MISSACHTE auch das, was die Kinder TUN, weil ich äh das so gering schätze, dass ich meine Sache, die ich jetz hier durchziehe ÜBER dem Ganzn stelle. (I8 Z: 859-864)

Mit der Aussage wird deutlich, dass den unangeleiteten alltäglichen (Peer-)Interaktionen in dieser Einrichtung mindestens ein gleicher bzw. sogar übergeordneter Stellenwert beigemessen wird. Diese Auffassung lässt sich im Rahmen der anderen Gruppeninterviews nicht finden.
Die pädagogischen Fachkräfte benennen im Rahmen der Gruppendiskussionen überdies unterschiedliche Funktionen, die sie dem Stuhlkreis zuschreiben. Dabei führen sie an, dass es sich um ein Ritual handle, die Kinder Strukturen lernen und die Fachkräfte den Stuhlkreis nutzen, um den Sprachstand der Kinder einzuschätzen:

AQ: Ein Hindernis is natürlich auch oft die Gruppngröße, jetz grad im Stuhlkreis zum Beispiel, kuckt man halt, dass man alle Kinder auch mal drannimmt, und (.) alle Kinder mal sprechn hört. (I7 Z: 398-400)
Die Eignung des Stuhlkreises als diagnostisches Mittel zur Sprachstandeinschätzung kann jedoch insbesondere unter Berücksichtigung der Gruppengröße, der kurzen Zeitfenster für einzelne Redebeiträge sowie dem Druck, den die Kinder hierbei unter Umständen empfin-den, bezweifelt werden.

Die Ergebnisse aus dem Fragebogen sowie den Gruppendiskussionen zeigen, dass die pädagogischen Fachkräfte die Durchführung von Sitzkreisen im pädagogischen Alltag vergleichsweise regelmäßig praktizieren und überwiegend positiv beurteilen. Dennoch zeigen sich vereinzelt auch kritische Einstellungen. Die hier vorliegenden Erkenntnisse können die vorherige theoretische Analyse bekräftigen, dass es im Wesentlichen auf die Gestaltung eines Sitzkreises ankommt, inwiefern diesem ein Potenzial für den Ausbau von Kompetenzen zugesprochen werden kann oder ob dieser sogar hinderlich wirkt.

Auf die Art und Weise kommt es an

Aus den Ausführungen kann konstatiert werden, dass das Potenzial eines Morgen- bzw. Stuhlkreises stark von der Gestaltungsform abhängig ist. Ein Montagskreis, in dem die Kinder nacheinander von ihren Wochenenderlebnissen berichten – diese Form wird auch im Rahmen der Gruppeninterviews angesprochen (I7 Z: 141f.) – kann dabei nur wenig sprachbildender Nutzen zugesprochen werden. Diese Gestaltung wird kaum einem Kind gerecht: So hat beispielsweise ein Kind sehr viel erlebt und möchte hiervon ausführlich berichten, bekommt jedoch nicht die Zeit, da allen fünfundzwanzig Kindern das Rederecht eingeräumt werden muss. Ein anderes Kind hat vielleicht nichts erlebt oder verfügt über wenige Sprachfähigkeiten und steht dann unter dem Druck etwas zu erzählen. Beide Mechanismen – sowohl das Unterbinden als auch das Unterdrucksetzen – stellen konträre Praktiken zur alltagsintegrierten Sprach(en)bildung dar. Auch in freien Formen, in denen die Kinder nicht der Reihe nach etwas erzählen, bergen die Gefahr, dass nur wenige Kinder an der Interaktion aktiv beteiligt sind.

Gleichzeitig existieren Formen, die eine alltagsintegrierte Sprach(en)bildung unterstützen können. In einer Einrichtung wird beispielsweise das Zählen in den verschiedenen Herkunftssprachen der Kinder einbezogen und von den Kindern sowie Eltern nach Einschätzung der pädagogischen Fachkraft positiv wahrgenommen (I4 Z: 356-361). Des Weiteren kann beispielsweise das Singen eines gemeinsamen Liedes oder ein kurzer Impuls zum Start in den Tag das Gruppengefühl stärken, den Wortschatz erweitern sowie den Kindern als Ritual Sicherheit bieten (vgl. Kuhn 2013: 196).

Eine weitere Form, die ein sprachbildendes und partizipatives Potenzial beinhalten kann, stellt die Durchführung von themenspezifischen Gesprächskreisen dar. Mit einzelnen Kindern oder einer Kleingruppe über ein bestimmtes Thema in einen vertieften Dialog zu treten, ein Problem zu lösen oder etwas weiterzuentwickeln entspricht der Vorgehensweise des Sustained Shared Thinking (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2010: 15ff.), welcher ein besonderes sprachbildendes Potenzial zugesprochen wird. In alltäglichen Interaktionen lassen sie sich jedoch insbesondere aufgrund des hohen Aufkommens von Störungen relativ selten finden (vgl. Tessmer 2021: 207ff.; Müller-Using & Speidel 2015: 213f.; König 2009: 208f.).

Unabhängig des Formates ist es bei der Durchführung bedeutsam, dass die pädagogischen Fachkräfte die Intention und Zielsetzung reflektieren, in Bezug auf das einrichtungsspezifische pädagogische Konzept hinterfragen und auch mit den Kolleg:innen über Vor- und Nachteile sprechen, sodass eine bewusste und begründete Haltung zu diesem Thema vorliegt.



Lestipp zum Thema:
Partizipation im Morgenkreis? (Review)



Literatur

  • Albers, Timm (2009): Sprache und Interaktion im Kindergarten. Eine quantitativ-qualitative Analyse der sprachlichen Kompetenzen von drei- bis sechsjährigen Kindern. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.
  • Becker-Mrotzek, Michael (2011): Der Erzählkreis als Exempel für die Besonderheiten der Unterrichtskommunikation. In: Bräuer, Christoph / Ossner, Jakob (Hg.), Osnabrücker Beiträ-ge zur Sprachtheorie. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr, 31-45.
  • Burghardt, Lars & Kluczniok, Katharina (2020): Der Morgenkreis in Kindertageseinrichtun-gen – Untersuchung eines alltäglichen pädagogischen Settings. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. Heft 3-2020, 286-300.
  • Gödde, Kornelia (2007): Sprachförderung im Morgenkreis! In: Braun, Ulrich/Mienert, Mal-te/Müller, Stephanie/Vorholz, Heidi (Hrsg.). Frühkindliche Bildung im Team gestalten und umsetzen. Konzepte, Praxisbeispiele, Materialien.
  • Jaschke-Roehl, Ursula (2002): Der Morgenkreis in der offenen Arbeit. Alte Tradition in neu-em Gewand. In: Kindergarten heute 2002/10, 32-34.
  • Jungmann, Tanja/Morawiak, Ulrike & Meindl, Marlene (2018): Überall steckt Sprache drin. Alltagsintegrierte Sprach- und Literacy-Förderung für 3- bis 6-jährige Kinder. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
  • Knauf, Iris (2020): Morgens früh um neun. Der Morgenkreis als Ort des Erzählens. Online verfügbar unter: https://www.herder.de/ek/hefte/archiv/2020/1-2020/morgens-frueh-um-neun-der-morgenkreis-als-ort-des-erzaehlens/ [15.05.2024].
  • König, Anke (2009): Interaktionsprozesse zwischen Erzieherinnen und Kindern. Eine Video-studie aus dem Kindergartenalltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Kuhn, Melanie (2013): Professionalität im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS Verlag.
  • Kurtenbach, Stephanie/Bose, Ines/Koch, Elena & Krefft, Hannah (2013): Gesprächskreise in Kindertagesstätten – Anlass zur Kommunikationsförderung? In:
  • Kurtenbach, Stephanie & Bose, Ines (Hrsg.), Gespräche zwischen Erzieherinnen und Kindern. Beobachtung, Analyse, Förderung. Frankfurt a.M.: Lang, Seite 111-118.
  • Mays, Daniel/Soyka, Vivien/Blume, Vera/Quenzer-Alfred, Carolin & Harbrecht, Maxi (2022): Löwenstark in die Schule. Vorschulkinder in der Kita optimal vorbereiten. München: Ernst Reinhardt Verlag.
  • Müller-Using, Susanne & Speidel, Hannah (2015): Gesprochene Sprache von Erzieherinnen. Erste Ergebnisse zum Sprach-Alltag in Kindertageseinrichtungen. In: Hoffmann, Hilmar/Borg-Tiburcy, Kathrin/Kubandt, Melanie/Meyer, Sarah & Nolte, David (Hrsg.). All-tagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandieren-den Feld. Weinheim, Basel: Juventa Beltz Verlag. Seite 203-229.
  • Siraj-Blatchford, Iram/Sylva, Kathy/Taggart, Brenda/Melhuis, Edward & Sammons, Pam (2010): Das Projekt „The Effective Provision of Pre-School Education”: Wirksame Bil-dungsangebote im Vorschulbereich – EPPE. In: Sylva, Kathy/Taggart, Brenda (Hrsg.). Frühe Bildung zählt. Das Effective Pre-School and Primary Education Projekt (EPPE) und das Sure Start Programm. Berlin: Dohrmann Verlag. Seite 15-27.
  • Tessmer, Elisa (2021): Sprachendidaktik in der Frühpädagogik. Eine Analyse alltagsinte-grierter Sprachenbildung unter Berücksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press.






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