Im ersten Kapitel des Buches geht die Herausgeberin des Bandes Ellen Beate Hansen Sandseter - Dozentin für physische Aktivität an der Dronning Maud Minne Hochschule in Trondheim, Norwegen - auf die Bedeutung von riskantem Spiel für die kindliche Entwicklung ein und präsentiert ihre Folgerungen für die Kita-Arbeit.
Entwicklung von Risiko-Bewältigungsstrategien
Bei allen individuellen Unterschieden in der Risikofreude einzelner Kinder zeigt sich immer wieder, dass bereits kleine Kinder im Spiel aktiv das Risiko in der für sie passenden Dosis suchen. Für manche Kinder löst der Sprung vom untersten Ast bereits einen Adrenalin-Schub aus, andere müssen dafür bis zum höchsten Ast klettern. Wenn ein Kribbeln im Bauch anzeigt, dass etwas gewagt wird, ist das Erfolgserlebnis nach dem Meistern der Herausforderung besonders intensiv. In dem mit dem sprechenden Titel „Sprudelnde Freude und Kribbeln im Bauch“ überschriebenen Kapitel beschreibt Sandseter, dass Kinder in diesen oft von physischen Aktivitäten geprägten Situationen erleben, dass sie in der Lage sind, Risikobewältigungsstrategien zu entwickeln. Oft geschieht das im Zusammenspiel mit Peers, da meist in Gruppen geklettert und gerutscht wird. Diese Art von Spielen finden in der Regel Draußen und im Freispiel statt. „Kinder erspielen sich so die Wahrnehmung des eigenen Körpers“ (S. 18). Diese Wahrnehmung macht sie selbstbewusster und sozial kompetenter. Risikoreiches Spiel habe, so die Autorin, eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung von Kindern im Kindergartenalter. Daher ist geschultes Personal die Voraussetzung für riskantes Spiel in der Kita.Jens-Ole Jensen, ebenfalls Herausgeber des Bandes und Leiter des Forschungs- und Entwicklungszentrums für Kinder- und Jugendkultur am VIA University College Aarhus in Dänemark, beschreibt im zweiten Kapitel, wie die weitgehend institutionalisierte Kindheit unserer Zeit eine Idealisierung des ruhigen und harmonischen Spiels bewirkt hat und durch pädagogische Anleitung wilde und gefährliche Momente aus vielen Aktivitäten ausgegrenzt werden (S. 30 ff). Selbst Situationen, die nur ein sehr überschaubares Risiko mit sich führen, werden mitunter verboten. Die Möglichkeiten zur Entwicklung der Aggressionskontrolle, die beispielsweise durch spielerisches Kämpfen und Tobespiele entstehen, werden längst nicht in jeder Kita gezielt eingesetzt. Zentral erscheint in diesem Kontext die Frage von Sandseter aus dem ersten Kapitel, ob es die Bedürfnisse und Grenzen der Kinder oder der Erwachsenen sind, die bestimmen, wie weit Kinder in explorativen Spielen gehen dürfen.
Tendenz zur Kontrolle und Überwachung
Derzeit verstärkt sich die Tendenz zur engmaschigen Überwachung von Kindern. Kitas erhalten die Betriebserlaubnis nur, wenn es keine Ecke gibt, in der sich Kinder den Blicken der Erwachsenen entziehen können. Dies widerspricht laut den Autoren des Bandes den Grundbedürfnissen von Kindern, die Rückzugsorte benötigen. Der immer stärker vorherrschende Sicherheitsgedanke macht Kindheit weniger aufregend und mitunter sogar langweilig. Kinderschutz ist ein zentraler und wichtiger Bestandteil von Kita-Arbeit. Das Buch macht jedoch deutlich, dass die Vermeidung aller risikoreichen Situationen nicht gesellschaftliches Ziel sein kann. Wichtig ist hingegen die Begleitung der Kinder im Umgang mit herausfordernden Situationen und ihre Unterstützung beim Finden geeigneter Lösungsstrategien. Fazit aus dem vierten Kapitel des Buches ist: „Das Leben sollte für Kinder und Jugendliche nicht so sicher wie möglich gemacht werden, sondern so sicher wie notwendig“ (S. 75). Auf diese Weise können Kinder ihre Fähigkeiten erweitern, Situationen selbständig zu meistern.Der Sammelband bietet viele weitere Aufsätze von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zu Themen wie riskante Spiele in der Kita, die Zivilisierung von wilden und gefährlichen Bewegungsspielen, Gefahrenbewältigung beim Trampolinspringen oder Kampf- und Tummelspiele in der Kita. Weitere für die Pädagogik der Kindheit relevante Themen sind Zirkus im Kindergarten und Spiel in Naturkindergärten mit der Frage nach der Gefährlichkeit der Natur.
Risiko-Toleranz entwickeln
Das abschließende Kapitel behandelt schließlich das Spannungsverhältnis zwischen Schutz vor Unfällen und Freiraum für selbstgewählte Herausforderungen in Kitas. Interessant ist dabei die Feststellung, dass Unfälle bei riskantem kindlichen Spiel besonders dann entstehen, wenn Erwachsene eingreifen (S. 213). Eine der Schlussfolgerungen aus dem Kapitel ist, dass Sicherheitsarbeit im Kindergarten ein gewisses Maß an Risikotoleranz auf Seiten von Eltern und pädagogischen Fachkräften erfordert.Den Autor*innen und Übersetzerinnen ist es gelungen, ein gut lesbares Buch zu einem bildungspolitisch höchst aktuellen Thema vorzulegen. Es stellt wichtige Fragen nach den Rahmenbedingungen in Kitas, die zur Erlangung von - nicht nur - körperlichem Wohlbefinden bei Kindern führen und ihnen die Möglichkeit geben, herausfordernde Situationen selbständig zu meistern. Die vielen Praxisbeispiele zeigen konkret auf, wie das Entwicklungspotenzial des riskanten Spiels genutzt werden kann, ohne die Sicherheit der Kinder zu vernachlässigen.
- Ellen Beate Hansen Sandseter, Jens-Ole Jensen (Hrsg.): Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern. Hintergründe, Entwicklungspotenziale und Spielformen für Kita und Schule. Cornelsen - Verlag an der Ruhr (Mühlheim an der Ruhr) 2022. 220 Seiten. 27,99 €. ISBN 978-3-8346-5289-8. Originaltitel: Vilt og farlig. Om barns og unges bevegelseslek. Gyldendahl Norsk Forlag 2014, ins Deutsche übersetzt von Annette Kessler und Antje Engelking.
Julia Krankenhagen