Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Kinder und das KiTa-System und wie können wir diesen begegnen? Diese Frage stand im Fokus der BAG-BEK-Herbsttagung, die in Präsenz an der HAW Hamburg stattfand und auch online übertragen wurde.

tinaZur Begrüßung wies die BAG-BEK-Vorsitzende Prof. Dr. Tina Friedrich auf die „nicht gerade rosige gesellschaftliche Gesamtlage“ und die hohe Belastung der KiTas durch Pandemie, Fachkräftemangel, Krieg und Flüchtlinge sowie das (noch nicht endgültige) Aus für das Bundesprogramm Sprach-Kitas hin. Umso wichtiger sei es, gemeinsam mit allen Akteur*innen das Feld weiter zu entwickeln und auch „gemeinsam laut zu werden“. Die BAG-BEK bilde hierfür als Plattform für die interdisziplinäre Vernetzung und Austausch eine „einzigartige Institution“.

nappIm Auftaktvortrag stellte Ann-Kathrin Napp vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf die Ergebnisse der mittlerweile vier Befragungswellen im Rahmen der Copsy-Studie vor. In dieser Längsschnittstudie wurde gefragt, wie Kinder und Jugendliche die Pandemie erleben, was sie besonders belastet und was die Risiko- und Schutzfaktoren für sie sind. Dafür wurden unter anderem 1.500 Eltern mit ihren Kindern online befragt.

Übergreifend ergaben die Befragungen ein „hohes Belastungserleben“ der Kinder insbesondere in den Lockdown-Phasen. Ein Kind sagte dazu: „Der geht nicht weg, der blöde Lockdown“. In der zweiten Befragungswelle beklagten so auch die Hälfte der Kinder eine niedrigere Lebensqualität und über die Befragungswellen hinweg wiesen zwischen 27 und 31 Prozent der Kinder psychische Auffälligkeiten auf. Während bei Mädchen dabei insbesondere internalisierende / emotionale Symptome auftraten, waren dies bei Jungen eher externalisierende wie Hyperaktivität. Bis zur Hälfte der Kinder bzw. ihre Eltern berichteten von Sorgen und Ängsten, depressiven Symptomen sowie psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Einschlafproblemen oder Gereiztheit. Insgesamt bewegten sich die Kinder weniger, aßen mehr Süßigkeiten und nutzten mehr digitale Medien.

Risiko- und Schutzfaktoren

Als Risikofaktoren führte Ann-Kathrin Napp insbesondere einen niedrigen sozioökonomischen Status verbunden mit geringem Bildungsniveau der Eltern, Migrationshintergrund und beengtem Wohnraum an. Gestärkt wurden Kinder in der Pandemie demnach durch Familien mit gutem Zusammenhalt und durch Unterstützung durch das soziale Umfeld. Die Eltern mussten und konnten zum Teil also viel auffangen in der Pandemie, fühlen sich aber aktuell zu 80 Prozent nach wie vor von der Pandemie belastet sowie erschöpft und niedergeschlagen.

Im Hinblick auf die Kinder unterstrich die Referentin, dass jetzt dringend beobachtet werden müsse, ob sich die Belastungen und depressiven Symptome der Kinder chronifizieren würden. Hierfür seien auch die Fachkräfte in den KiTas zu sensibilisieren. Zur Frage, was darüber hinaus jetzt getan werden müsse, verwies Ann-Kathrin Napp auf die Ad Hoc-Stellungnahme der Leopoldina sowie auf die Empfehlungen des Expert*innenrats der Bundesregierung. Hier würden unter anderem spezifische und nachhaltige Konzepte für sozial benachteiligte und vulnerable Gruppen sowie niedrigschwellige Betreuungsangebote gefordert.

Im Ausblick auf die gerade abgeschlossene und in der Auswertung befindliche vierte Befragungswelle der Copsy-Studie konnte Ann-Kathrin Napp von einer „Stabilisierung auf hohem Niveau“ berichten. Neue Sorgen bereiteten jetzt aber zusätzliche Belastungen wie der Krieg in der Ukraine und die Energieknappheit.

Herausforderungen für KiTa-Leitungen

In einem Doppelvortrag berichteten in der Folge Dr. Katrin Lattner von der Universität Leipzig und Prof. Dr. Petra Strehmel von der HAW Hamburg von zwei Studien, in denen sie die Herausforderungen der Pandemie für KiTa-Leitungen in den Blick genommen hatten.

katrinDr. Katrin Lattner konnte in ihrer im Sommer 2020 und Sommer 2021 durchgeführten qualitativen Längsschnittstudie insbesondere folgende Herausforderungen für KiTa-Leitungen identifizieren:
  • Verordnungen zum Hygieneschutz und deren schwierige Umsetzung
  • Bürokratischer Aufwand
  • Auseinandersetzungen mit Eltern
  • Ängste und Sorgen der Mitarbeiter*innen um die eigene Gesundheit
  • Strikte Gruppentrennung und kein flexibler Personaleinsatz
Insgesamt, so Katrin Lattner, fühlten sich die Leitungskräfte stark belastet. Gründe dafür seien viele parallele neue Aufgaben gewesen wie das Informations-Management rund um die Pandemie, das Aufrechterhalten der Kommunikation mit Team und Eltern, Spannungen und Konflikte mit Eltern und im Team sowie das Umsetzen häufig unklarer Regelungen jeweils von Freitagsnachmittag bis Montagfrüh. Belastet wurden Leiter*innen aber auch durch pädagogische Rückschritte und ein Gefühl der (System-) Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Doch je länger die Pandemie anhielt, so berichtete Katrin Lattner, um so mehr nutzten Leiter*innen aber auch vorhandene Spielräume und Grauzonen und wichen begründet von Vorgaben ab.

petraDie qualitative Querschnittstudie von Prof. Dr. Petra Strehmel wurde aus organisations- und stresspsychologischer Perspektive durchgeführt und legte den Fokus auf Personal- und Teamführung. Das BAG-BEK-Vorstandsmitglied berichtete von einer veränderten Rolle der Leitung, da diese plötzlich "als verlängerter Arm des Gesundheitsamtes" nur noch Verordnungen von außen umsetzen musste. Belastet wurden die Leiter*innen demnach aber auch dadurch, dass sie sich für alle Gruppen rund um die KiTa verantwortlich fühlten, den Sorgen und Ängsten der Mitarbeiter*innen und Eltern begegnen mussten und mit Personalmangel zu kämpfen hatten.

Wie Petra Strehmel berichtete, „sind vorher schon starke Team gut durch die Krise gekommen“, bei anderen hätten sich die Probleme verschärft. Folgende Bewältigungsstrategien bzw- faktoren seien in der Pandemie für Leiterinnen zentral gewesen:
  • Viele Gespräche, partizipatorische Ansätze und Maßnahmen zur Förderung der Beziehungskultur im Team
  • Vernetzung und gegenseitige Unterstützung von Leiter*innen
  • Unterstützung und Wertschätzung durch den Träger
  • Überprüfung der pädagogischen Konzepte / Selbstvergewisserung

Für den Weg hin zu einem „resilienten und kompetenten System“ konnte die beiden Wissenschaftlerinnen aus ihren Studien heraus folgende Handlungsempfehlungen geben:
  • Psychologische und strategische Aufarbeitung der Erfahrungen in der Einrichtung und auf persönlicher Ebene z.B. durch Supervision, Coaching etc.
  • Künftiger Einbezug von KiTa-Leitungen bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Entscheidungen und Verordnungen
  • In Krisensituationen den Workload beobachten und Infrastruktur für „organisationale Katastrophenhilfe“ aufbauen (z.B. Einsatz von „Alltagshelferinnen“)
  • Schulungen von KiTa-Leiter*innen und Fachberater*innen zur Stress- und Krisenbewältigung
  • Klärung der Arbeitsteilung zwischen Träger und Leitungskräften auch für Krisensituationen

Das KiTa-System im Dilemma

In der anschließenden Diskussion der Teilnehmer*innen wurde die Gefahr langfristiger und chronischer Erkrankungen der Kinder durch die Corona-Pandemie mit entsprechenden volkswirtschaftlichen Folgeschäden diskutiert. Einigkeit herrschte darüber, dass sowohl zusätzliche Präventions- wie auch Nachsorge-Maßnahmen wichtig sind. Angeführt wurden hier die KiTa-Sozialarbeit, die Schulung der Fachkräfte, um das Wohl- oder Missbefinden von Kindern zu erkennen oder auch die stärkere Vernetzung mit den Frühen Hilfen. Für die generelle Professionalisierung schlug Petra Strehmel aber auch sogenannte „Professionell Learning Communities“ vor, in denen Fachkräfte, Leitungen oder auch Fachberatungen ihre tägliche Arbeit miteinander reflektieren könnten.

Deutlich wurde in der Diskussion aber auch einmal mehr, dass das System am Limit steht und an allen Ecken und Enden die finanziellen und personellen Ressourcen fehlen. Exemplarisch sagte so ein Teilnehmer: „Wir sind ein System, dass den Mangel verwaltet und schon vor Corona im Krisenmodus war.“

Das ganze Dilemma, in dem das KiTa-System derzeit steckt, wurde auch in der Bundesländerabfrage im Rahmen der Tagung deutlich: Mit verschiedensten Maßnahmen und Notfalllösungen wie Absenkung der Standards (in der Ausbildung, bei der Gruppengröße), Trennung von Bildungs- und Betreuungszeiten, „Alltagshelfer*innen“ oder quereinsteigenden Zusatzkräften wird in den Bundesländern versucht, den Betrieb der KiTas irgendwie aufrecht zu erhalten. Doch dabei droht das Wohl der Kinder ebenso wie die Gesundheit der Fachkräfte aus dem Blick zu geraten.


Download Präsentation Lattner & Strehmel

Zum Thema "KiTas am Limit" siehe auch hier:
KiTas am Limit

Karsten Herrmann