kinder achtsam und beduerfnisorientiert begleiten in krippe kita und kindertagespflege 978 3 451 38930 6 69762Nicht weniger als den Bildungs- und Erziehungsauftrag neu definieren möchten die Kindheitspädagog*innen und Bloggerinnen Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann mit ihrem Ansatz der achtsamen und bedürfnisorientierten Begleitung von Kindern in der KiTa. Ziel ist ein gleichwürdiges Miteinander in der KiTa, in der auch schwierige Situationen ohne Manipulation, Strafen oder Belohnung gemeistert werden.

"Miteinander-in-Beziehung-sein"

Mit ihrem Ansatz stellen die Autorinnen nicht einen vorgegebenen Bildungs- und Erziehungsauftrag in den Vordergrund, sondern die Bedürfnisse von Kindern, Eltern und Fachkräften. Es geht dabei zentral um „das Miteinander-in-Beziehung-sein und das Aufeinander-Bezogen sein. Jeder kann von jedem lernen, jeder kann sich von jedem in der Gruppe inspirieren lassen – auch die Großen von den Kleinen“. In Anlehnung an die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg wird jeder Mensch als ein Individuum gesehen, welches aufgrund seiner Bedürfnisse „begründet handelt und den ständigen Drang verfolgt, sich selbst zu verwirklichen, zu entfalten, zu entwickeln und persönlich zu wachsen“. In diesem Sinne liege in jedem äußerlich sichtbaren Verhalten der Grund in einem Bedürfnis und dieses gelte es achtsam zu erspüren und ihm feinfühlig zu begegnen. In der Gruppe müssten die einzelnen Bedürfnisse dann entsprechend „gegeneinander abgewogen, priorisiert und ausgehandelt werden“ – was nicht zuletzt auch genuin zur Demokratiebildung in der KiTa beiträgt.

Ausführlich legen Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann die entwicklungspsychologischen und neurophysiologischen Grundlagen ihres bedürfnisorientierten Ansatzes dar und gehen dabei insbesondere auch auf die – mittlerweile zum Beispiel aus interkultureller Perspektive durchaus in die Kritik geratene – Bindungstheorie und das damit eng zusammenhängende Konzept der Feinfühligkeit oder Sensitiven Responsivität ein. Auf Basis einer responsiven, feinfühligen Interaktion gilt es ihnen zufolge zwischen Fachkraft und Kind eine sichere, verlässliche Beziehung zu entwickeln.

Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen

Als die drei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierung stellen die Autorinnen die „Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen“ dar. Sie beschreiben die unbewusste Macht der Emotionen und sogenannter „Somatischer Marker“ und die hinter den Gefühlen wie Ärger, Wut, Traurigkeit, Angst, Freude oder Neugierde liegenden Bedürfnisse. Sie unterstreichen: „Mit den eigenen und den Gefühlen anderer umzugehen, ist eine wichtige Kompetenz für Kinder, die Auswirkungen auf ihr gesamtes Leben hat“. Emotionale Kompetenz könne sich am besten entwickeln, wenn Kinder
  • Ihre eigenen Gefühle wahrnehmen und einordnen können
  • Ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können
  • Sie eigenständig regulieren können,
  • die Gefühle von anderen Menschen wahrnehmen und verstehen können (Empathie)
Gefühle, so die Autorinnen, sind dabei immer auch Signale, um auf unbefriedigte Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Damit Kinder lernen können, ihre Bedürfnisse hinter den sie häufig überschwemmenden Gefühlen zu erkennen, sollten Fachkräfte diese versuchen zu spiegeln (zum Beispiel über eine „Empathieschleife“) und helfen, sie sozial angemessen zu erfüllen. Dabei sei es häufig sowohl bei Kindern wie auch bei Eltern fast wichtiger das Bedürfnis wahrzunehmen und es zu verbalisieren als es tatsächlich zu erfüllen. Herausfordernd sei es allerdings, die hinter den Gefühlen und dem Verhalten liegenden Bedürfnisse zu entziffern und dann auch noch die richtige Balance zu finden zwischen den Bedürfnissen Einzelner und den Bedürfnissen der Gruppe, zu der natürlich auch die Fachkräfte gehören.

Grundsätzlich gehe es in der Bedürfnisorientierung darum, „die Bedürfnisse ALLER Beteiligten in der Gruppe einander gegenüberzustellen und auszuhandeln“. Und im Sinne von Kant ende die Freiheit des Einzelnen (und damit ggf. auch seine Bedürfniserfüllung) immer da, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Entsprechend müssten die jeweiligen körperlichen und psychischen Grenzen des Einzelnen respektiert und auch klar kommuniziert werden. Wie die Autorinnen ausführen, nimmt die Fachkraft dabei eine Vorbildfunktion ein, denn Kinder „brauchen keine Grenzen, sondern Menschen, die eigene Grenzen haben“. Durch ein authentisches Nein der Fachkraft - „Stopp, ich fühle… und ich brauche…!“ - lerne das Kind „mit Frust umzugehen, zu wachsen, Konflikte zu üben und Lösungen zu suchen“.

Selbstreflexion und Selbstfürsorge der Fachkräfte

Immer wieder unterstreichen Lea Wedewarth und Kathrin Hohmann auch die Bedeutung von Selbst- und Teamreflexion sowie die Selbstfürsorge der Fachkräfte. Nur wer sich mit seiner eigenen Biographie und seinen eigenen Wertevorstellungen auseinandersetze, seinem „inneren Kind“, blinden Flecken oder unbewussten Triggerpunkten auf die Spur komme, könne auch den Kindern bedürfnisorientiert begegnen und tief im Unbewussten verankerte Handlungsmuster aufbrechen.

Im Hinblick auf das bedürfnisorientierte Lernen des Kindes hinterfragen die Autorinnen sehr kritisch die in Ausbildung und Praxis noch immer weit verbreitete Angebotspädagogik. Diese entspräche weder den ganz unterschiedlichen Entwicklungsverläufen von Kindern noch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über das emotional befeuerte und intrinsisch motivierte Lernen: „Es lässt sich zusammenfassen, dass Menschen, also auch Kinder, interessegeleitet am effektivsten und lustvollsten lernen. Sie empfinden dann am meisten Freude am Lernen, wenn sie für sich einen Sinn erfahren.“

Schätze der Kinder ans Licht befördern

In diesem Sinne sollten auch nicht die Fachkräfte bestimmen, was gelernt wird, sondern die Kinder. Die Erwachsenen müssten das Lernbedürfnis nur wahrnehmen und – zum Beispiel mit vorbereiteten und anregenden Lernumgebungen – füttern. Eine zentrale Rolle für das bedürfnisorientierte Lernen spiele aber auch das selbstbestimmte Freispiel. Grundsätzlich plädieren die Kindheitspädagoginnen auch dafür, nicht die Defizite und die im Hinblick auf die Schulvorbereitung gängigen Lern-Standards in den Blick zu nehmen, sondern das, was das Kind gut könne. Fachkräfte sollten „ihre Wahrnehmung darin schulen, zu sehen, wo die Schätze der einzelnen Kinder liegen und sie ans Licht zu befördern."

Das vorliegende Buch von Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann überzeugt durch eine leicht lesbare und ausgewogene Mischung aus wissenschaftlich fundierten Textteilen, vielen Praxisbeispielen und -tipps sowie kleinen Reflexionsübungen. Deutlich wird dabei immer wieder, dass dieses Buch aus einer tiefen Überzeugung und klaren inneren Haltung der absoluten Gewaltfreiheit und konsequenten Bedürfnisorientierung geschrieben ist. Sicherlich sprechen die Autorinnen damit vielen Fachkräften aus der Seele, aber die Herausforderung liegt darin, diesen Paradigmenwechsel unter den häufig ungenügenden Rahmenbedingungen im KiTa-Alltag auch tatsächlich zu vollziehen. Das kann nur Schritt für Schritt gelingen – aber dieses Buch zeigt sehr eindrücklich, dass es sehr lohnenswert ist sich gemeinsam auf den Weg zu machen!

  • Lea Wedewarth und Kathrin Hohmann: Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten. Herder, 174 S., 24 Euro


Karsten Herrmann