978 3 17 034713 7 GMit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 hat sich auch Deutschland zur Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet. Während das Thema Inklusion im Schulbereich immer noch häufig auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen beschränkt ist, hat sich in der Frühpädagogik ein weiter Inklusionsbegriff etabliert, der alle Heterogenitätsdimensionen wie Geschlecht, Kultur oder sozio-ökonomische Lage einbezieht und allen Kindern eine aktive Teilhabe ermöglichen soll.

Unter diesen Vorzeichen haben Anke König und Ulrich Heimlich auch den Band „Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Eine Frühpädagogik der Vielfalt“ herausgegeben. Sie bieten einen breiten und prägnanten Überblick über den aktuellen Inklusions-Diskurs und Anke König unterstreicht in ihrem Auftakt-Beitrag: „Teilhabe und Partizipation gelten als Schlüsselkompetenzen einer pluralen Gesellschaft. Eine Frühpädagogik der Vielfalt zu verwirklichen und Kindertageseinrichtungen zu inklusiven Bildungsorten weiterzuentwickeln ist eine zentrale Aufgabe.“

Grundsätzlich zeichnet sie noch einmal die Effekte frühkindlicher Bildung in der KiTa nach und unterstreicht, dass diese nur bei hoher Qualität und dann insbesondere aber auch bei Kindern aus sozio-ökonomischen Risikolagen greifen. Entscheidend für die Qualität seien dabei die unmittelbaren, sensiblen und responsiven Beziehungs- und Interaktionsprozesse sowie die „Agency“, die Wirkmacht der Kinder. Diese „erweist sich stets als Zusammenspiel der Möglichkeiten, die sich in sozialen Gruppen für den Einzelnen eröffnen [...]. Hier liegt die entscheidende Schnittstelle, um PluralitätPluralität|||||Pluralität bezeichnet die Koexistenz von Vielfalt. In der heutigen Gesellschaft bedeutet das, dass es häufig  vielfältige, individuelle  Interessen und Lebensstile, Bildungswege, Familienkonstellationen etc. in der Gesellschaft geben kann. und Heterogenität in Kindheiten überhaupt erst zu erkennen und deren Mechanismen zu verstehen“. In diesem Sinne vollzieht sich Bildung in der Wechselwirkung von Ich und Welt und die kooperative und dialogische „Interaktion wird als zentrale Kategorie der Dynamisierung von Bildung und Lernen erkennbar“.

Gute Beziehung als Herzstück der Inklusion

Im Anschluss an Anke König zeichnet Annedore Prengel in beeindruckender Klarheit die Grundlinien einer Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten nach, die synonym mit inklusiver Pädagogik sei. Ausgehend von den menschenrechtlichen Grundlagen unterstreicht sie, dass Kindergartenpädagogik demokratischen Entwicklungen dient, „indem Annäherungen an die menschenrechtlichen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität angestrebt werden“. Unter den sozial- und bildungsphilosophischen Grundlagen führt sie ein „egalitäres und hierarchiekritisches Verständnis von Verschiedenheit“ aus. Mit dem Verzicht auf jegliche Hierarchisierung, Festschreibung oder Trennung von Verschiedenem resultiert eine „egalitäre Differenz“, die sich aus Gleichberechtigung, intersubjektiver Freiheit und Solidarität speist. Von den theoretischen Grundlagen und einer historischen Einordnung geht Annedore Prengel dann zu dezidierten praxisbezogenen Handlungsperspektiven über. Diese führt sie für die „Institutionelle Ebene“, die „Professionelle Ebene“, „Beziehungsebene“, Didaktische Ebene“ sowie die „Finanzielle und bildungspolitische Ebene“ aus. Zur Pädagogischen Ebene bringt sie auf den Punkt:

„Die gute Beziehung zwischen Erziehenden und Kindern bildet ein Herzstück frühpädagogischer Arbeit. Feinfühliges anerkennendes pädagogisches Handeln und der Verzicht auf diskriminierende und verletzende Adressierungen sowie auf vernachlässigendes Ignorieren sind bestimmend für inklusives Beziehungshandeln.“ (s.a. hier den kompletten Beitrag: Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten)

Im weiteren Verlauf des Buches werden dann zentrale Heterogenitätsdimensionen wie Behinderung, Kultur bzw. Migration und Armut bzw. soziale Benachteiligung beleuchtet. In seinem Beitrag zu Kindern mit Behinderungen hebt Ulrich Heimlich die Bedeutung des freien Spiels als „genuiner Ort für Partizipation“ hervor und führt inklusive Spielprozesse und -situationen aus.

Als diskussionswürdig erscheint mir der Beitrag von Argyro Panagiotopolou zur Inklusion und Migration, in dem sie aus migrationspädagogischer Perspektive eine „Kulturalisiering“ und ein „Othering“ beklagt und stattdessen eine systemische Perspektive einnimmt und auf Machthierarchien rekurriert. Den KiTa wirft sie pauschal vor, an der Herstellung von Differenzen und Ungleichheiten beteiligt zu sein, „indem sie sich als die erste gesellschaftliche Bildungsinstitution versteht, die Familien und Kindern mit – in der Regel impliziten – monolingualen Normen und imaginären ‚ethnischen‘ oder ‚kulturellen Einheitsvorstellungen konfrontiert und eine Gruppe von ihnen als Andere und Anderssprachige adressiert“. Zugleich kritisiert sie, dass „Kompensationsmaßnahmen zur Bestätigung der konstruierten Andersartigkeit und sogar zur Diskriminierung von Familien und Kindern führen (können)“. Keine Lösung bietet sie allerdings dafür an, wie Kinder mit Flucht- oder Migrationshintergrund in der KiTa auf eine aktive gesellschaftliche und demokratische Teilhabe vorbereitet und entsprechende Werte und Kulturtechniken vermittelt werden sollen.

Eine kritische, aber auch sehr differenzierte Darstellung leistet Hans Weiß zum Thema der „Kinder in Armut und sozialer Benachteiligung“. So fragt er zurecht ob der KiTa nicht auch „eine unangemessene Hoffnungs- und Verantwortungslast aufgeladen [wird], insbesondere, wenn man die Vielschichtigkeit und Komplexität von Armuts- und Benachteiligungssituationen im Kontext von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen bedenkt“. Sehr eingängig führt er in der Folge aus, was Armut für Kinder und Eltern tatsächlich bedeutet und welche komplexen Auswirkungen es auf den verschiedenen sozialen und gesundheitlichen Ebenen hat. Fachkräfte in Kitas bedürften daher „einer hohen Selbstreflexionskompetenz, um mit Menschen in prekären Lebenslagen und deren Verhaltensweisen angemessen umzugehen. Die ‚Welt‘ dieser Menschen ist für Professionelle, sofern sie nicht selbst aus dieser ‚Welt‘ kommen oder damit persönliche Erfahrungen gemacht haben, weitgehend fremd. Gegenüber dieser ‚Welt‘ bestehen oftmals Distanz und mangelnde Kenntnis, damit aber auch (partielles) Unverständnis.“

Weitere Beiträge im Buch beschäftigen sich mit „Ableismus und Rassismus“ (Donja Amirpur) in der frühen Kindheit, den (inklusiven) Übergang von der KiTa in die Grundschule (Michael Lichtblau und Timm Albers) und noch einmal grundsätzlich mit „Bildungsteilhabe und Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“. Praxisorientiert abgerundet wird es durch die Vorstellung des Einsatzes des „Leitfaden für inklusive Kindertageseinrichtungen“ (Ulrich Heimlich & Claudia Ueffing) sowie zur „Inklusiven Vernetzung“ von Kitas im Sozialraum (Daniela Kobelt-Neuhaus).

Insgesamt bietet der Herausgeberband „Inklusion in Kindertageseinrichtungen“ einen fundierten Überblick über die verschiedenen Aspekte der Inklusion und Vielfaltspädagogik in KiTas sowie über den „state of the art“. Überzeugend ist dabei auch die Mischung aus wissenschaftlichen Grundlagen und praxisorientierten Ausführungen, die das Buch für verschiedene Zielgruppen von der KiTa-Leitung über Fachberatung und Aus- und Weiterbildung bis zur Lehre attraktiv macht.

Abschließend sei hier noch Anke König im Hinblick auf eine zentrale Grundbedingung inklusiven Handelns in der KiTa zitiert: „Eine inklusive Pädagogik erkennt die Eigenkonstruktion der jungen Kinder an, die die Welt aus ihrer Perspektive ordnen und verstehen. Kindern dafür im pädagogischen Alltag Resonanz und Mitwirkung zu ermöglichen, d.h. an sozio-kulturelles Lernen anzuknüpfen, das wird mit inklusiver Bildung und Erziehung deutlicher als je zuvor in der Pädagogik.“

  • Anke König / Ulrich Heimlich: Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Eine Frühpädagogik der Vielfalt. Kohlhammer, 238 S., 34 Euro.

Karsten Herrmann