Aladin El-Mafaalani beleuchtet "superdiverse Kindheiten"


Wie zeigt sich die zunehmende DiversitätDiversität|||||siehe Diversity unserer Gesellschaft und der Familien und was bedeutet sie für die Arbeit von KiTas und Grundschulen? Diese Fragen beleuchtete der erfolgreiche Buchautor und Professor für Soziologie Aladin El-Mafaalani in einem Online-Vortrag des nifbe in Kooperation mit der Landeselternvertretung (LEV). Moderiert wurde er von nifbe-Geschäftsführerin Dr. Bettina Lamm und LEV-Vorstand Christine Heymann-Splinter.

mafaalaniAusgehend von den Entwicklungen in Großbritannien prognostizierte El-Mafaalani auch für Deutschland eine „superdiverse“ Gesellschaft. Damit gebe es immer mehr Gruppen, die sich jeweils nicht mehr einheitlich beschreiben. So haben hierzulande schon über 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, doch dieser sage nichts mehr über Erstsprache, Religion, Zugehörigkeitsgefühl oder Bildungsbiographie aus. Menschen mit Migrationshintergrund seien zum Beispiel sowohl im Bereich der Höchst- wie auch der Niedrig-Qualifizierten überrepräsentiert. „Wir haben heute vielschichtige Diversitäten und nichts ist mehr selbstverständlich“ resümierte der Soziologe und bezeichnete KiTas und Grundschulen als Vorreiter der Superdiversität in unserer Gesellschaft.

Ebenso superdivers wie die Kindheit, so El-Mafaalani, sind heute die Familien und traditionelle Beschreibungen greifen auch hier nicht mehr. Heute gebe es biologische und soziale Eltern und neben der klassischen Mutter-Vater-Kind-Familie zunehmend mehr Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien. Das „doing family“ umfasse heute sehr unterschiedliche Lebenspraxen und „nichts ist mehr übersichtlich oder greifbar unterscheidbar“.

Die sozio-ökonomische Schere geht auseinander

Einen Fokus legte Aladin El-Mafaalani in seinem Vortrag auf den Themenkomplex Armut und Reichtum. Denn obwohl das Armuts-Niveau in Deutschland seit 20 Jahren sehr konstant sei, „gehen die Lebensverhältnisse von Kindern heute immer weiter auseinander“. Dabei gehe es nicht primär um das ökonomische Niveau, wie er mit einem plastischen Vergleich verdeutlichte: Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hätten immer mehr Menschen am gedeckten „Wohlstands“-Tisch Platz genommen: Es kamen die zunehmend arbeitenden Frauen hinzu, die Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderungen und anderen Heterogenitätsmerkmalen oder nach der Wende dann auch die Ostdeutschen. In dieser Zeit seien die solidarischen Strukturen von Menschen, die nicht mit am Tisch sitzen, erodiert. Und es habe auch keinen volkswirtschaftlichen „Trickle Down“-Effekt gegeben - das heißt, vom Tisch seien nicht mehr oder größere Krümel auf den Boden gefallen.

Menschen, die heute nicht mit am Tisch sitzen, so der Soziologe, „fühlen sich zurückgelassen und entfalten resignative Tendenzen“. Ihnen werde das Gefühl des „selber Schuld-Seins“ vermittelt und sie befänden sich „in einer sozial und mental schwierigen Lage“. Diese „Dramatisierung im Prekariat“ stelle KiTa und Grundschule vor eine große Herausforderung und verlange besondere Ressourcen. Für eine systemische Zusammenarbeit mit Eltern brauche es „eine hohe Professionalität“, um Eltern aus prekären Lebenssituationen nicht zu beschämen oder zu verprellen, sondern zu Verbündeten in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu machen.

Kompensation sozialer Ungleichheiten in KiTa und Grundschule

Grundsätzlich hob auch El-Mafaalani die „unwahrscheinlich große Bedeutung“ der ersten Jahre in den Bildungseinrichtungen heraus. Kinder seien heute auf das Lebensalter bezogen so früh wie nie und auf den Tag bezogen so lange wie nie in KiTa, Grundschule oder Ganztagsbetreuung. In diesem Sinne würden diesen Institutionen auch viele Aufgaben zum Beispiel zur Kompensation von ungleichen Startvoraussetzungen zugeschrieben. Und er machte klar „Das geschieht zu Recht, denn es geht nicht anders“.

Für den Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten durch KiTa und Grundschule seien aber „eine hohe Qualität“ und entsprechende Rahmenbedingungen die Voraussetzung. Aber, so kritisierte El-Mafaalani scharf: “Die finanzielle und personelle Ausstattung ist in KiTa und Grundschule im gesamten Bildungssystem am schlechtesten“ und diese würden zusätzlich stark durch den Fachkräftemangel belastet. Hier machte er ein „riesiges Missverhältnis zwischen Personal, Bezahlung und Bedeutung“ aus. Dadurch würden letztlich auch der Sozialstaat und der Wohlstand unserer Gesellschaft gefährdet.

Neugieriger und offener Blick auf Kinder wichtig

Im Hinblick auf die konkreten Herausforderungen für Fachkräfte und die Teams in KiTa und Grundschule durch superdiverse Kindheiten stellte El-Mafaalani klar, dass diese „im Grunde keine festen Erwartungen mehr an die Kinder haben dürfen und nichts voraussetzen können“. Nichts vorauszusetzen und zu erwarten sei aber viel leichter gesagt als getan und bedürfe eines intensiven Reflexionsprozesses im Team. Ziel sollte es sein, jedes Kind „neugierig und offen“ zu betrachten und in diesem Sinne auch keine Kategorien, Schubladen oder Klischees mehr zu bemühen.

Angesichts der vielfältigen pädagogischen Herausforderungen und auch des mittelfristig nicht zu behebenden Fachkräftemangels sprach sich der Soziologe klar für ein breit aufgestelltes „multiprofessionelles Team“ in KiTa und Grundschule aus. Dazu zählte er auch das Ehrenamt und die intensive Vernetzung und Kooperation mit externen Organisationen wie Sportvereinen oder Musikschulen. Diese Ressourcen müssten aber nicht nur punktuell, sondern „systematisch und strukturell in die KiTa eingebunden werden“.

Besondere Förderung notwendig

Um soziale Ungleichheiten auszugleichen, so El-Mafaalani, bräuchten Kinder aus prekären Verhältnissen auch eine besondere Förderung. Grundsätzlich sollten alle Kinder in der KiTa die gesamte Bandbreite unsere Gesellschaft kennen lernen – von der Natur über Kunst und Kultur bis zum Sport. Ganz besonders gelte das Sozialverhalten sowie Selbstdisziplin und Selbststeuerung zu fördern. Als „relevante Größe“ seien aber auch die in der KiTa eher unbeliebte Schulvorbereitung und entsprechende Vorläuferfähigkeiten in den Blick zu nehmen.

Abschließend unterstrich El-Mafaalani die nicht zu überschätzende Bedeutung des lebenslangen Lernens für Fachkräfte. Fortbildung sei heutzutage wichtiger als Ausbildung und dafür bräuchte es ein gut ausgebautes Fortbildungssystem, mit dem alle Fachkräfte immer wiederkehrend auf die neuen Herausforderungen vorbereitet werden. Für die Grundfinanzierung von KiTa und Grundschule als den „wichtigsten Bildungseinrichtungen“ sah er den Bund in der Pflicht, um perspektivisch überall gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen.


Zur Aufzeichnung des Vortrags auf YouTube



Links zu Zahlen rund um Migration, Familie und Kindertagesbetreuung:

Familie
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/meta/en/publications-en/family-today-data-facts-trends-190148)

Kindertagesbetreuung Kompakt Daten und Fakten https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/kindertagesbetreuung-kompakt-198584

Wie sieht Familie heute in Niedersachsen aus: Statistisches Monatsheft Niedersachsen Ausgabe 2022/10 https://www.statistik.niedersachsen.de/startseite/veroffentlichungen/statistische_monatshefte/statistische-monatshefte-niedersachsen-87704.html

Migration:
https://www.dji.de/themen/jugend/kinder-und-jugendmigrationsreport-2020.html


Aktuelle Bücher von Aladin El-Mafaalani:
  • Mythos Bildung (2020). Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
  • Das Integrationsparadox (2018): Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt.

Karsten Herrmann