In welchem Verhältnis stehen Partizipation, Sprache und Geschlecht? Dieses bisher selten beleuchtete Thema stand im Fokus des Vortrags von Prof. Dr. Tim Rohrmann von der HAWK Hildesheim im Rahmen der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „Demokratiebildung und Partizipation“. Moderiert wurde die Veranstaltung von den nifbe-Transfermanagerinnen Julia Krankenhagen und Gerlinde Schmidt-Hood.

rohrmann copyTim Rohrmann startet seinen Vortrag mit einer kleinen Blitzumfrage und wollte von den Teilnehmer*innen zunächst wissen, ob Jungen andere Interesse hätten als Mädchen. Die Hälfte der Befragten sagte dazu „ja“. Zu den Fragen, ob Mädchen sich mehr in die Gruppe einbrächten oder mehr über ihre Wünsche und Bedürfnisse sprächen, meinten allerdings über 80 Prozent, dass das Geschlecht hier keine Rolle spiele und von der jeweiligen Individualität des Kindes abhänge.

Im Hinblick auf die Frage der Partizipation führte der Psychologe aus, dass dies immer von Kommunikation und (sprachlichem) Dialog abhänge. Bei Partizipation gehe es darum, die eigene Meinung zu vertreten, Vorschläge zu machen, auszuhandeln und Vereinbarungen zu treffen. Das erfordere Zuhören, Sprachverständnis, Wortschatz und Ausdrucksstärke – und dies ganz besonders bei demokratischen Gremien wie der Kinderkonferenz. Neben dem Alter und dem ein- oder mehrsprachigen Hintergrund hängt die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen dabei auch mit dem Geschlecht zusammen.

Die „Genderbrille“

In der Folge betrachtete Tim Rohrmann das Verhältnis von Beteiligung und Sprache unter der „Genderbrille“. In einer weiteren Umfrage gaben dabei 61 Prozent der Teilnehmer*innen an, dass Mädchen den Jungen in der Sprachentwicklung voraus sind. Rund die Hälfte sagte auch, dass Jungen mehr Sprachförderbedarf haben, die andere Hälfte sah da allerdings keinen Unterschied.

Den Stand der Forschung zu Sprachentwicklung und Geschlecht fasste Tim Rohrmann dahingehend zusammen, dass Mädchen hier tatsächlich einen Vorsprung hätten, z.B. ihre Wortverbindungen und Sätze in den ersten Lebensjahren im Durchschnitt länger sind.

Hieran schloss Tim Rohrmann die Erkenntnis an, dass Jungen und Mädchen sich zunehmend in ihrer Sprach- und Kommunikationskultur unterscheiden und auch von ihren Müttern und Vätern unterschiedlich angesprochen würden. In ihren Peergroups bevorzugten Mädchen insgesamt mehr sprachbezogene Aktivitäten, während Jungen die Bewegung und das körperliche Spiel bevorzugten.

Eine besondere Bedeutung kommt bei der Sprachentwicklung aber auch den jeweiligen Bezugspersonen zu. Dies zeigte der Referent anhand der NUBBEK-Studie auf, die ergeben hat, dass einerseits Erzieher*innen häufiger höhere Beziehungsqualitäten zu Mädchen hätten, dass aber andererseits Jungen bei der Sprachentwicklung besonders von hohen Beziehungsqualitäten profitieren.

Doch obwohl die bisherigen Forschungsergebnisse aufzeigten, dass Mädchen einen Vorsprung in der Sprach- und Leseentwicklung haben und sich ihre Sprachkulturen unterscheiden, wird dies, so Rohrmann, bisher nicht bei den Sprachförderansätzen und -programmen berücksichtigt. Und erstaunlicherweise gebe es keine aktuellen Forschungsergebnisse zu der Frage, inwiefern sich Mädchen und Jungen grundsätzlich bei der Beteiligung an Beteiligungsprozessen unterscheiden – hier blieb nur die aus eigenen kleinen Befragungen und Erfahrungen gespeiste Vermutung, dass auch hier Mädchen (sprachlich) aktiver dabei sind.

Als einen Ansatz, um die Sprachentwicklung gendergerecht zu gestalten, brachte Tim Rohrmann die Vorteile von gemischten Teams ein, die konkrete Vorbilder für verändertes Rollenverhalten und das Miteinander der Geschlechter sein könnten. Sie könnten dabei auch das erwiesenermaßen unterschiedliche (Rollen-) Sprechverhalten von Müttern und Vätern ihren Söhnen und Töchtern gegenüber kontrastieren – dies setze allerdings eine ausgeprägte Genderkompetenz voraus.

Beobachten und Reflektieren

Angesichts einer insgesamt sehr dürftigen Forschungslage in Bezug auf das Verhältnis von Partizipation, Sprache und Geschlecht mussten in diesem Vortrag viele Fragen offenbleiben. In der Schlussfolgerung regte Tim Rohrmann die Teilnehmer*innen aber dazu an, die jeweilige Beteiligung von Jungen und Mädchen gezielt zu beobachten und zu dokumentieren und ihre eigene Rolle im Team sowie in der Ansprache von Jungen und Mädchen sorgfältig zu reflektieren. Ziel müsse es sein, die verschiedenen Sprachkulturen und Interessengebiete von Jungen und Mädchen zu bedienen und dabei, so Tim Rohrmann, „ruhig auch einmal um die Ecke zu denken und auch mal zu irritieren“.


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Karsten Herrmann