Kinder haben ein Recht auf Gehör und Beteiligung und wissen eigentlich am Besten, was sie in der KiTa gebrauchen, um sich wohl zu fühlen. Doch nur selten wird ihre Perspektive bei der Qualitätsentwicklung von KiTas einbezogen. Wie das systematisch geschehen kann, zeigte Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann im Rahmen der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „KiTa in Corona-Zeiten“ auf. Moderiert wurde die Veranstaltung von den nifbe-Mitarbeiterinnen Meike Sauerhering und Gerlinde Schmidt-Hood.

„Die Kinderperspektive,“ so Iris Nentwig-Gesemann, „wird in der KiTa-Qualitätsentwicklung völlig vernachlässigt". Mit ihrem systematischen Forschungsansatz in dem von der Bertelsmann-Stiftung geförderten Projekt „Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern KiTa-Qualität entwickeln“ möchte sie sich daher eben dafür stark machen. Wie die Kindheitsforscherin ausführte, ist die Grundlage dafür eine „kinderrechtlich basierte pädagogische Haltung der partizipativen Arbeit mit Kindern“. Kinder sollten dabei nicht nur beforscht werden, sondern selbst zum Akteur werden und ihre Vorstellung von einer guten KiTa in die Organisationsentwicklung einbringen.

Mit Kindern in den echten Dialog gehen

Mit ihrem Team forscht Iris Nentwig-Gesemann nach der „Dokumentarischen Methode“ und hier gehe es darum, mit den Kindern in einen echten Dialog zu gehen und ihnen einen „Vertrauensvorschuss in ihre Kompetenzen zu geben“. Für den in rund 20 KiTas erprobten Dialog mit den Kindern hat ihr Forscherteam ein breites Methoden-Repertoire entwickelt bzw. eingesetzt – von der Gruppendiskussion über die „Beschwerdemauer“ und das Malen oder Fotografieren der KiTa bis hin zur KiTa-Führung. „Kinder“, so die Referentin, „haben sich in unserem Projekt als sehr kompetente und mitteilungsfreudige Akteure gezeigt“. Weiter auszubauen gelte es allerdings noch die Methodik für den Dialog mit Kindern unter drei Jahren oder auch für solche mit schweren (geistigen) Behinderungen.

Im Ergebnis haben sich im Projekt aus Sicht der Kinder sieben Qualitätsbereiche mit insgesamt 23 Qualitätsdimensionen herauskristallisiert, die dann jeweils detaillierter definiert sind:
  • Peerkultur und Freundschaft
  • Beziehungsgestaltung (mit Fachkräften) und Gemeinschaft erleben
  • Mitgestaltung und Mitbestimmung
  • Selbsterkundung und Identitätsentwicklung
  • Welt- und Lebenserkundung
  • Erfahrungsräume außerhalb der KiTa
  • Non-Konformität und Spielen mit Normalität
Zum letzten Punkt führte Iris Nentwig-Gesemann beispielhaft aus, dass es für Kinder auch wichtig sei, „Ausnahmen von der Regel“ zu erleben und auch einmal Regeln zu brechen bzw. sich damit zu beschäftigen, was passiert, wenn Regeln gebrochen werden. Kinder würden sich sehr für Regeln interessieren und wollten dabei aber auch den Sinn von Ge- und Verboten verstehen. „Normen, Regeln und Grenzen kritisch zu befragen, über sie zu verhandeln, sie real oder imaginär zu übertreten, übt auf Kinder einen ebenso großen Reiz aus, wie sich selbstbestimmt an Normen, Regeln und Grenzen zu halten, ihren Sinn und Zweck ‚vernünftig‘ zu finden und Andere an deren Einhaltung zu erinnern“.

Nähere Einblicke in ihre Forschungsmethodik gab Iris Nentwig-Gesemann den Teilnehmer*innen mit kurzen Video-Sequenz-Analysen zu Themen wie „Wald aufräumen“, „Königs-Thron“ oder dem „Kinderwunschgericht“ und ihrer jeweiligen reflektierenden Interpretation. Beim Thema „Mein Fach“ zeigte sie mit einem kleinen Beispiel auf, dass Kinder genauso wie Erwachsene Plätze für ihre Dinge und Geheimnisse bräuchten und dabei auch einen „Anspruch auf Diskretion und Selbstbestimmung“ hätten.

Zusammenfassend interpretierte die Kindheitsforscherin Qualitätsentwicklung als „interperspektivisches Puzzle von Perspektiven, das immer wieder neu zusammengesetzt wird“. Perspektiven seien dabei beispielsweise die von Bildungspolitik, Trägern, Eltern, Fachkräften und natürlich auch die von Kindern. Die Dokumentation der Kinderperspektive sollte dabei auch partizipativ zwischen Forscher*innen bzw. Fachkräften und Kindern erfolgen und für alle Beteiligten transparent sein. Grundsätzlich müsste Qualitätsentwicklungs-Prozesse „experimentell, partizipativ-demokratisch und diskursiv“ angelegt sein, um auch zum „Empowerment der jeweiligen Akteure“ beizutragen.

In wunderbarer Weise vorweggenommen und auf den Punkt gebracht sah Iris Nentwig-Gesemann all ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zu den Wünschen und Bedarfen von Kindern mit dem von Janusz Korczak formulierten „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ und den folgenden Ausführungen dazu: „Wir sollten Achtung haben vor den Geheimnissen und Schwankungen der schweren Arbeit des Wachsens ! Wir sollten Achtung haben vor der gegenwärtigen Stunde, vor dem heutigen Tag. Wie soll das Kind imstande sein, morgen zu leben, wenn wir ihm heute nicht gestatten, ein verantwortungsvolles, bewusstes Leben zu führen? Tretet es nicht mit Füßen missachtet es nicht, entlasst es nicht in die Sklaverei des Morgen, hetzt es nicht, treibt es nicht an! Wir sollten jeden einzelnen Augenblick achten, denn er vergeht und wiederholt sich nicht und immer sollten wir ihn ernst nehmen!“

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Zu den Materialien und Handreichungen aus dem Bertelsmann-Projekt


Karsten Herrmann