Rahel Dreyer plädiert für pädagogische Standards und gegen Gesichtsmasken in der Eingewöhnung


RahelDie Eingewöhnung ist auch in „normalen“ Zeiten eine hochsensible Herausforderung für alle Beteiligten – doch wie kann sie unter Corona-Bedingungen mit ihren Hygienevorschriften und Abstandsregelungen gelingen? Diese Frage beleuchtete Prof. Dr. Rahel Dreyer von der Alice-Salomon-Hochschule in der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „KiTa in Corona-Zeiten“ und stellte gleich vorab klar: „Wir dürfen auch in Zeiten der Pandemie nicht die Bedarfe der Kinder aus dem Blick verlieren und von pädagogischen Qualitätsstandards abweichen.“

Wie die Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Jahre unterstrich, „ist eine professionelle Eingewöhnung ein wichtiges Qualitätsmerkmal“ und bilde die Grundlage für eine gute „KiTa-Laufbahn“ der Jüngsten. Studienergebnisse hätten gezeigt, dass Kinder ohne eine gelungene Eingewöhnung später deutliche Entwicklungsrückstände, Bindungsirritationen oder Verlustängste aufzeigten. Sowohl positive wie auch negative Bindungserfahrungen in dieser Zeit wirkten sich nachhaltig auf den Strukturaufbau des Gehirns und die Regulationsfähigkeiten des Kindes aus.

Als Gelingensbedingungen für eine gute Eingewöhnung hob Rahel Dreyer zusammenfassend die Qualität der Einrichtung, das Temperament der Kinder und Mütter, das kindliche Bindungsverhalten sowie das Verhalten der pädagogischen Fachkraft heraus. Ein besonderer Fokus sollte auch immer auf die „still“ leidende Kinder gerichtet werden, damit ihr angepasstes Verhalten nicht als „erfolgreich eingewöhnt“ fehlinterpretiert werde.
 

Fokus auf "still" leidende Kinder legen

Als erfolgreich erprobte Eingewöhnungsmodelle skizzierte Rahel Dreyer das „Berliner“ und das „Münchener Eingewöhnungsmodell“, ging aber auch kurz auf das „partizipatorische Eingewöhnungsmodell" von Marjan Alemzadeh oder die Eingewöhnung in der Peergroup ein – letztere biete sich nach Phasen des Lockdowns insbesondere auch für die Wieder-Eingewöhnung von Kindern an. Grundsätzlich müsse es auch in Corona-Zeiten gewährleistet sein, dass eine Eingewöhnung „orientiert an den individuellen Bedürfnissen des Kindes ausreichend lang in Begleitung einer Bezugsperson stattfinden kann“ und dass Eingewöhnungszeiten nicht verkürzt werden. Ggf. könnten in Zeiten der Pandemie Eingewöhnungsphasen verstärkt draußen stattfinden, es sei für die Kinder aber auch wichtig, die Innenräume und die Abläufe innerhalb der Einrichtung im Beisein einer vertrauten Bezugsperson kennenzulernen. Ein Elternteil sollte bei der Eingewöhnung so lange mit dabei sein, bis sich die Kinder beim Abschied auch von der Fachkraft trösten lassen. (zum Weiterlesen: Eingewöhnung: Modelle und Rahmenbedingungen)

Auf Seiten der Fachkraft, so Rahel Dreyer, „kommt es bei der Eingewöhnung insbesondere auf die Handlungskompetenz, die stetige Selbstreflexion und die Kommunikationsfähigkeit - insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Eltern -an.“ Die Eingewöhnungsphase biete eine „sehr gute Möglichkeit, die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Eltern auf eine solide Basis zu stellen – auch unter Corona-Bedingungen!“ Aufgrund der eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten könnten Gespräche auch im Freien oder als Videokonferenz bzw. telefonisch stattfinden.

Kultursensibel eingewöhnen

Ein besonderes Augenmerk widmete Rahel Dreyer in ihrem Vortrag auch den Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund. Hier gelte es bei de Eingewöhnung die Kultur und die Sozialisationsbedingungen in der Familie sensibel wahrzunehmen und zum Beispiel zu beachten, dass Kinder aus verbundenheitsorientierten Kulturen schon oftmals an verschiedenste Bezugspersonen gewöhnt sind und ihnen die Trennung von den Eltern daher nicht so schwerfällt. In diesem Sinne dürften Eingewöhnungsmodelle auch nicht „mechanisch nach Rezept“ durchgeführt werden, sondern müsste flexibel an die jeweiligen Bedarfe angepasst werden.

Eine klare Position vertrat Rahel Dreyer im Hinblick auf die aktuelle Corona-Situation: „Die Hygiene- und Abstandsregeln müssen immer in Relation zu den pädagogisch und entwicklungspsychologisch begründeten Bedürfnissen des Kindes umgesetzt werden.“ Sie stellte klar, dass bei der Eingewöhnung die soziale Rückversicherung der Kinder bei der Bezugsperson oder auch das Erkennen der Gesichtsmimik bei der Fachkraft unabdingbar ist und dass daher eine Eingewöhnung mit Gesichtsmaske oder auch Visier nicht sinnvoll sei – gerade auch im Hinblick auf die langfristigen Folgen einer nicht gelungenen Eingewöhnung.

Doppeltes Dilemma

Diese Aussage stand auch im Zentrum der von den nifbe-Mitarbeiterinnen Anna Dintsioudi und Svenja Rastedt moderierten gemeinsamen Diskussion. Viele Teilnehmer*innen gaben zu bedenken, dass bei ihnen auch in der Eingewöhnung die Maskenpflicht und die Abstandsregeln gelten würden. Hier eröffnete sich ein unauflösbares Dilemma zwischen pädagogischen Ansprüchen und aktuellen Infektionsvorschriften. Viele KiTas müssen hier in einem rechtlichen Graubereich agieren und fühlen sich von der Politik oder auch vom Träger allein gelassen. An genau dieser hochsensiblen Stelle, so zeigte die Diskussion, benötigen die KiTas dringend Rückendeckung sowie eine Klarstellung oder Flexibilisierung der Abstands- und Hygienevorschriften im Hinblick auf unabdingbare pädagogische Erfordernisse und Qualitätsstandards. Als gute Kompromisslösung erschien neben der Option verstärkt Außenbereiche zu nutzen das Beispiel einer KiTa, in der Eltern bei der Eingewöhnung im Innenraum zunächst eine Maske tragen, diese aber ablegen können, wenn sie ihren Platz eingenommen haben.

Einen großen Raum nahm in der Diskussion neben den konkreten Hygiene- und Abstandsregeln auch die übergeordnete Frage des Fachkräftemangels und der fehlenden strukturellen Ausstattung der Kitas ein. Schon während ihres Vortrags hatte Rahel Dreyer darauf hingewiesen, dass das System KiTa bereits vor Corona vor dem Kollaps stand und dass die Fachkräfte jetzt noch einmal mehr gefordert seien - und dies jetzt schon häufig auf Kosten ihrer Gesundheit gehe. Und so unterstrichen auch viele Teilnehmer*innen der Diskussion, dass sie die geforderte Qualität der Eingewöhnung zwar ohne weiteres unterschrieben würden, sie aber aufgrund der aktuellen Personalsituation nicht umsetzen könnten. Hier eröffnete sich ein weiteres schwerwiegendes Dilemma: Allzu oft kann, wie ja auch zuletzt der Ländermonitor Frühkindliche Bildung und eine begleitende qualitative Studie unter Beweis stellten, in den KiTas nur noch eine Betreuung, aber keine verlässliche Bindung und die darauf basierende Bildung geboten werden. Hier besteht, wie auch die Wortmeldungen der Teilnehmer*innen eindringlich belegten, akuter politischer Handlungsbedarf.

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Karsten Herrmann