Wodurch fühlen sich Menschen zugehörig und engagieren sich für andere?

Erkenntnisse aus der Hirnforschung

Wie Menschen über andere denken und ob sie bereit sind, sich für sie zu engagieren, hat viel damit zu tun, wie Informationen in unserem Gehirn verarbeitet werden. Bei Unbekanntem ist das Gefühl von Fremdheit zunächst als Schutzmechanismus im Menschen angelegt. Im Folgenden wird beschrieben, wie dieser Mechanismus entsteht und überwunden werden kann

Vereinfacht über Fremde denken

Eine Mutter holt ihren Sohn immer kurz vor Ende der Schließzeiten ab. Obwohl ihr Kind in der Lage ist, sich selbst die Schuhe zuzubinden, macht die Mutter es auf seinen Wunsch hin für ihn. Die Erzieherin fragt sich, warum der Junge es nicht alleine macht, obwohl er es schon kann. Und warum die Mutter ihn „bedient“, „klein hält“ und ihn in seiner Selbständigkeit nicht unterstützt. (1) Vielen pädagogischen Fachkräften werden ähnliche Situationen bekannt sein. Was passiert hier aus Sicht der Hirnforschung?

In welchem Maß Menschen bereit sind, andere empathisch zu verstehen, hat zunächst viel mit Ähnlichkeiten zu tun. Je mehr Eigenschaften sie untereinander teilen, wie Sprache, Lebensort, Bildung, Humor und Weltsicht, desto eher sind sie bereit, sich zu verstehen und sich für die anderen einzusetzen. Beschäftigen sich Menschen mit Personen, die ihnen ähnlich sind oder denen sie sich zugehörig fühlen, dann benutzen sie vor allem die Gefühls- und Belohnungsregion ihres Gehirns. Hier werden positive soziale Emotionen, lächelnde Gesichter und kooperatives Verhalten verarbeitet. Die Suche nach Ähnlichkeiten scheint mit der Erwartung von mehr Kooperation und Einschätzbarkeit verbunden zu sein. Menschen glauben dabei nicht automatisch, dass jene, die sie besser zu kennen meinen, vertrauenswürdiger sind. Sie vermuten (unbewusst) vor allem, dass sie besser kooperieren. Gedanken über Fremdes landen nur selten in der oben beschriebenen Hirnregion. Entsprechend ist das Denken über Andere oft weniger positiv emotional und eher distanziert. Bei Menschen, denen man sich näher fühlt, ist man empathischer und hilfsbereiter. Bei Begegnungen mit Fremdem werden meist weniger persönliche Erfahrungen einbezogen, sondern mehr abstraktes Wissen wie z. B. aus Medienberichten.

Diese Vorgänge werden aus Sicht der Hirnforschung mit dem Zugriff auf das semantische Wissen (der Bedeutung von Dingen) und dem Vorwissen über andere in Beziehung gesetzt. „Auf Grundlage dieses Wissens erstellt das Gehirn Vorlagen, mit denen es das Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen zusammenfassen kann (mehr oder weniger akkurat).“ (2) Voreingenommenheiten fußen auf Erfahrungen und Erzählungen anderer. Diese Erfahrungen drücken sich allerdings häufig in Halbwissen oder Binsenweisheiten aus, wie beispielweise „Das weiß doch jeder…“ oder „Ich kannte mal einen, der …“. Dabei wird die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, eher nicht genutzt und es passieren unreflektierte Zuschreibungen wie in der obigen Kita-Situation. Hier werden Absichten oder Überzeugungen unterstellt, die auch ganz anders motiviert sein könnten. Entsprechend kann es zu vorgefertigten Urteilen kommen. Informationen, die diese entkräftigen könnten, werden ausgeblendet.

Individualität geht verloren

Solche Denkmuster führen dazu, dass Fremde nicht so sehr als Personen mit individuellen Hoffnungen und Einstellungen wahrgenommen werden. Fragen wie: Welche Bedeutung kann das Verhalten der Mutter haben? Geht es um „Bedienen“ oder um Werte wie Fürsorge oder Verbundenheit? – werden gar nicht gestellt. Wenn Fremden mit viel Wachsamkeit begegnet wird, ist das oft mit der Neigung zur emotionalen Überreaktion verbunden. Gesichtern wird mit einer stärkeren Reaktion begegnet. Je fremder die Gruppe, desto wachsamer ist man ihr gegenüber. Die Sensibilität gegenüber Signalen von Bedrohung ist erhöht und das Empfinden in diesem „scannenden Modus“ ist eher mit negativen Gefühlen verbunden. Wenn in diesem Zusammenhang ein negatives Bild über Fremde aufgebaut ist, lässt sich dieses nicht mehr so einfach revidieren. Besonders weil die Bereitschaft zur Reflexion in diesem Zustand gering ist. Im Gehirn ist dann die Amygdala (Teil einer der ältesten Hirnregionen) aktiviert, die für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig ist und auch eng mit der Entstehung von Angst und dazugehörigen Körperreaktionen verbunden ist. Wenn sie daueraktiv ist, verhindert sie Vertrauensbildung und differenziertes Nachdenken. (3) In Gegenwart von vertrauten Menschen fühlt man sich ruhiger und sicherer.


Durch den häufigen positiven Kontakt mit unterschiedlichsten Menschen und Gruppen kann mehr Offenheit entstehen. Besonders hilfreich sind hier Aktivitäten, in denen gemischte Gruppen gebildet werden, da hier die Vorbelastungen und Vorurteile gewissermaßen mit neuen Erfahrungen überschrieben werden können. Geeignet sind Aktivitäten wie Bewegung, Spiele, Kochen, Musik machen, Naturerlebnisse, Ausflüge und Feste. Herabsetzungen oder Abwertungen lassen sich verhindern, indem auf immer wieder andere Weise neue Gruppen gebildet werden und vielfältige Merkmale und Vorlieben von Kindern und Erwachsenen sichtbar werden. Kinder können sich zum Beispiel zu Themen wie bevorzugtem Essen, Liedern, Farben, Spielzeugen immer wieder neu zuordnen. So finden sich dann möglicherweise Kinder zusammen, die jeweils Orangen, Äpfel, Bananen etc. mögen.


Vorurteile überwinden und Vertrauen schaffen

Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die Voreingenommenheit gegenüber Fremden zu verringern. Dazu gehört zum Beispiel aktiv eine andere Perspektive einzunehmen, denn das verstärkt Hilfsbereitschaft. Es ist möglich, bewusst die Gefühle anderer nachzuvollziehen, was die Distanz zum Anderen reduziert. Das ist eng mit der eigenen Selbstreflexion und Bewusstheit über die eigene Person mit ihren persönlichen und berufsbezogenen Werten verknüpft.
Gegen intensive negative emotionale Reaktionen hilft aus Sicht der Hirnforschung Ablenkung. Bekommt die Amygdala im Gehirn eine andere Aufgabe als nach Gefahr zu suchen (z. B. Spaß am Spiel oder Genuss beim Essen zu empfinden), werden neuronale Prozesse aktiviert, die ermöglichen, bewusst auf stark Beruhigendes und Gemeinsames zu fokussieren. Auch der Kontakt in positiv erlebten Zusammenhängen erhöht die Bereitschaft, sich mit Personen und Gruppen unvoreingenommen auseinanderzusetzen.

Literatur

  • Kölsch-Bunzen, N. Morys, R. & Knoblauch, C. (2015). Kulturelle Vielfalt annehmen und gestalten: Eine Handreichung für die Umsetzung des Orientierungsplans für Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg. Herder: Freiburg.
  • Parianen, F. (2017). Die Gräben in unseren Köpfen. Gehirn & Geist, (5), 58-61. Zitat S. 59.
  • Parianen, F. (2017). Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage? Reinbek: Rowohlt.

Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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