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Transfer in der frühkindlichen Bildung


Der Transfer von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in die KiTas ist ein zentraler Schlüssel für die Qualitätsentwicklung in der frühkindlichen Bildung. Doch immer wieder zeigt sich, wie schwer es in der Regel ist neues wissenschaftliches Wissen in die KiTa-Praxis zu übertragen und in das Anwendungswissen von Fachkräften zu integrieren. Zu unterschiedlich scheinen zunächst die Logiken von Wissenschaft und dem KiTa-Alltag: KiTas brauchen handhabbares Wissen zu aktuellen Problemlagen, Wissenschaft braucht viele Jahre, um zu empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. abgesicherten Ergebnissen zu kommen und ist dabei in der Regel sehr kleinteilig und oftmals domänenspezifisch ausgerichtet. Zudem sind wissenschaftliche Erkenntnisse zumeist mit vielen Vorbehalten, Einschränkungen und (Selbst-) Relativierungen verbunden, die die Praxis hilflos vor der Frage stehen lässt: Und was soll ich damit jetzt anfangen?

Erst jüngst haben Blatter & Schelle in einer Erhebung (1) aufgezeigt, wie groß nach wie vor die Barrieren zwischen der frühkindlichen Praxis und der Forschung aus Sicht der KiTa-Fachkräfte sind. Demnach kennt die Forschung die Bedingungen der Praxis nicht und ihre Ergebnisse sind realitätsfern. Zudem seien der Praxis die Aufgaben und das Vorgehen der Forschung unklar und diese Intransparenz wird durch die verschiedenen Disziplinen von der Entwicklungspsychologie über Erziehungs- und Sprachwissenschaften bis zur Kindheitspädagogik verschärft. Nicht zuletzt wird das Verhältnis noch immer als ein hierarchisches wahrgenommen: Die Forschung sagt der Praxis, was richtig ist.

Der Transfer von Forschungsergebnissen ist schon im Bereich von Naturwissenschaft und Technik das Bohren dicker Bretter, aber hier hat sich vielerorts peu á peu zwischen Hochschule und Wirtschaft ein Transfer-System etabliert, mit dem neue Erkenntnisse u.a. über Inkubationszentren und Starts-Ups zu neuen Produkten oder Verfahren führen, die sich dann am Markt durchsetzen – oder auch scheitern. In der Pädagogik sind die Transfer-Herausforderungen noch einmal potenziert, denn hier geht es nicht um neue Produkte, sondern um die Bildung und Erziehung von Menschen – Menschen in all ihrer inneren Vielfalt und in all ihrer individuellen und sozialen Komplexität. Erziehungs- und Bildungssituationen in der KiTa sind nicht standardisierbar und binär zu codieren, sondern zumeist unvorhersehbar, komplex und einzigartig.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass wir von einem systematischen und flächendeckender Transfer zwischen der Forschung und der Praxis im frühkindlichen Bereich noch weit entfernt sind. Zumeist diffundieren neue Erkenntnisse eher in einer Art „trickle down“-Effekt langsam und mehr oder weniger zufällig in die Praxiseinrichtungen – zum Beispiel über die Ausbildung und durch Absolvent*innen der Kindheitspädagogik und anderer Studiengänge, über Fort- und Weiterbildungen sowie auch über Fachberater*innen, die im System eine Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis bilden.

Im Folgenden möchte ich thesenhaft zugespitzt sowohl einige grundsätzliche wie auch konkrete Gelingensbedingungen für den Transfer zwischen Forschung und Praxis aufzeigen, die sich insbesondere auch aus der langjährigen Arbeit und Erfahrung des nifbe in diesem Bereich ergeben.


Paradigmenwechsel im Transferverständnis

Lange Zeit herrschte zwischen Forschung und Praxis ein „unidirektionales“ und damit auch hierarchisches Transferverständnis. Forschung erzeugte neues Wissen, dass dann über Publikationen und Modellversuche Eingang in die Praxis finden sollte. Oftmals waren die Ansprüche und Bedarfe zwischen Forschung und Praxis allerdings so unterschiedlich, dass ein flächendeckender systematischer Transfer in weiter Ferne blieb und das neue Wissen vor allen Dingen in einem selbstreferentiellen wissenschaftlichen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  zirkulierte. Aus dieser Zeit stammen auch noch viele der sich noch heute haltenden (Vor-)Urteile der KiTa-Fachkräfte über die Forschung als praxisfern und top-down-orientiert.

In den letzten Jahren deutet sich zumindest im Verständnis der Transferforschung ein deutlicher Wandel und Paradigmenwechsel an – weg vom „linear-unidirektionalen“ und hin zu einem „systemischen“ sowie „dialogisch-transformatorischen“ Verständnis, „bei dem die Kooperation, Vernetzung und Aktivität aller relevanten Beteiligten in den Fokus rückt.“ (2)

Heute wird zunehmend betont, dass jede Ebene im System der frühkindlichen Bildung ihre eigenen berechtigten Perspektiven und Handlungslogiken hat und dass für den Transfer eine jeweilige Kontextualisierung der konkreten Ausgangslagen unabdingbar ist. Das wissenschaftliche Wissen wird zudem nicht mehr per se als „besser“ als das Handlungswissen der Praxis eingestuft, sondern als „anders“. Grundsätzlich wird nun unterstrichen, dass Transfer nur auf Augenhöhe und unter Anerkennung der in der Praxis vorhandenen Bedarfe, Problemstellungen und Good Practice- Ansätze gelingen kann (vgl ebd.).

Philipp Sandermann hat jüngst auch auf die Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens zwischen Praxis und Forschung für gelingende Transferprozesse hingewiesen. Aufgebaut werden könne dies beispielsweise durch frühzeitigen Einbezug der Praxis in Forschungsprojekte, die gegenseitige Anerkennung als gleichberechtigte Partner*innen, das Zugestehen der jeweils eigenen Rolle sowie eine Haltung des einander verstehen Wollens und Zuhörens. Bestenfalls führe das dann dazu, „dass Wissenschaft und Praxis zum Ende des Forschungs- und Entwicklungsprozesses dialogisch verschiedenes, sich aber überschneidendes Wissen entwickelt haben, das den je eigenen Maßstäben genügt“ (3).

In der aktuellen Transferforschung spricht man heute von einem „dritten Raum“ oder von einem „Transformationsraum“, der zwischen Praxis und Forschung bzw. zwischen den verschiedenen Ebenen des Systems der frühkindlichen Bildung entsteht. Hier können dann wechselseitige, aktive Prozesse des Wissensaustauschs zwischen allen relevanten Akteur*innen stattfinden und das Wissen entsprechend der jeweiligen Kontexte und Bedarfe transformiert werden. „Doing transfer“, so schreiben Blatter & Schelle in diesem Sinne, erfordert „eine aktive Beteiligung aller Involvierten, die einen gemeinsamen Transformationsraum gestalten und fortwährend miteinander in Austausch treten.“ (ebd. S. 61) Durch dieses Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure könne sich das gesamte System der frühen Bildung im Sinne des Urbanschen „kompetenten Systems“ weiterentwickeln.


Neue Transferstrukturen und -ansätze

Auf Bundes- und Landesebene wurden in den letzten Jahren mit der WiFFWiFF|||||WiFF ist ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V. Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutschland mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. sowie frühkindlichen Landesinstituten wie in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen- Anhalt oder Thüringen neue Strukturen für den Transfer zwischen Forschung und Praxis aufgebaut.

Seit seiner Gründung 2007 verfolgt das nifbe dabei das Ziel eines wechselseitigen Transfers zwischen Forschung und Praxis – Forschung sollte so einerseits praxis-näher werden und Praxis andererseits forschungs- und evidenzbasierter. Hierfür hat das nifbe Begriffe wie das „Gegenstromprinzip“ oder auch „Transfer im Dialog“ geprägt.

Transfer Poster final 30.5.24Transfer im nifbe als Grafik

Schon vor den aktuellen Entwicklungen im Transfer-Diskurs wurde Transfer im nifbe als ein sozialer Aushandlungsprozess definiert, in dem Forschungsergebnisse je nach der Ausgangslage und den Bedarfen der Fachkräfte angepasst und transformiert und in dem andererseits Problemlagen und Bedarfe sowie Good Practice-Ansätze in die Forschung zurückgespiegelt werden. So können in einem solchen Prozess sowohl Forschung wie Praxis jeweils als Transfer-Geber*innen oder als Transfer-Nehmer*innen fungieren und gegenseitig voneinander profitieren.

Als unabdingbare Grundlage eines gelingenden Transfers wird im nifbe die nachhaltige und interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.e Vernetzung der Akteure im KiTa-System gesehen – von den KiTas über die Fachberater*innen und Träger bis hin zur Aus- und Weiterbildung sowie den Hochschulen. Die grundsätzlich vorhandenen Transfer-Strukturen in der Fläche werden so aneinander angeschlossen und zu „kommunizierenden Röhren“. Seit vielen Jahren wird diese Vernetzung über die in den fünf regionalen Transferstellen tätigen Transfermanager*innen im Flächenland Niedersachsen konsequent vorangetrieben und gepflegt. So besteht heute ein enger Kontakt und eine Vertrauensbasis zwischen den relevanten Akteur*innen der frühkindlichen Bildung in den jeweiligen Gebietskörperschaften und es findet über vielfältige Formate ein reger interdisziplinärer Austausch statt. Ergänzt wird diese regionale Vernetzung durch landesweite Austauschforen, insbesondere auch für Fachberater*innen als den Schnittstellen und Katalysatoren für Qualitätsentwicklung im Feld.

Auf der Grundlage der vorhandenen regionalen Netzwerke werden in Niedersachsen seit 2013 landesweite Qualifizierungsinitiativen wie zum „Übergang KiTa-Grundschule“, „Vielfalt leben und erleben“, „Partizipation und Demokratiebildung“ oder zu „Gesundheit und Wohlbefinden“ umgesetzt. Dafür kooperiert das nifbe eng mit den Erwachsenenbildungseinrichtungen vor Ort und hat einen Pool von „Prozessbegleiter*innen“ aufgebaut, die für das jeweilige Thema qualifiziert und auch im Fortgang eng begleitet und unterstützt werden. Als Wissensgrundlage für die Umsetzung der Qualifizierungsinitiativen erstellen die Transferwissenschaftler*innen des nifbe insbesondere für die Prozessbegleiter*innen, aber auch für Fachberater*innen und KiTa-Leitungen, thematische Grundlagenpapiere, in dem der aktuelle Stand der Wissenschaft zusammengefasst und zu- gleich auch schon der Bezug zur Praxis hergestellt wird (4). So fließt über die Qualifizierungsinitiativen, die insbesondere als Inhouse- bzw. Werkstatt-Format umgesetzt werden, neues Wissen in die KiTas.

Zum Markenzeichen der nifbe-Qualifizierungsinitiative ist dabei in den letzten Jahren die „Prozessbegleitung“ (s.a. hier: Prozessbegleitung - ein nifbe-Definitionsentwurf) geworden, die dem oben angeführten dialogisch-transformatorischen Transferverständnis entspricht. Die Prozessbegleiter*innen stellen sich jeweils neu auf den konkreten

 
Kontext und die konkrete Bedarfslage der teilnehmenden KiTas ein und hiervon ausgehend wird das Thema dann im gemeinsamen und interaktiven Prozess ausgerollt. Neben der Vermittlung von Wissen, Können und Haltungsaspekten geht es hier insbesondere auch immer wieder um die gemeinsame Reflexion der Fachkräfte sowie über gezielte Interventionen und Irritationen auch um das „am eigenen Leib erfahren“. Nur wenn ein Thema oder ein Konzept gemeinsam mit der Leitung im Team durchdacht, durchdrungen und verinnerlicht ist, hat es die Chance, auch dauerhaft im Alltag verankert zu werden.

Ausblick

Für einen systematischen Transfer in der frühkindlichen Bildung müssen die Strukturen für Vernetzung und Transformation auf Bundes- und Landesebene konsequent weiter ausgebaut wer- den. Dafür braucht es den politischen Willen, die politische Steuerung und natürlich entsprechende Ressourcen.

Neues Wissen aus der Forschung sollte zunächst im Sinne von „Open Science“ und „Open Access“ für alle Interessierten verfügbar und leicht zugänglich gemacht werden. Es müssen aber auch gezielt Transformationsräume geschaffen werden, in denen die Forschungsergebnisse reinterpretiert, geclustert, kompiliert und für die Praxis aufbereitet und übersetzt werden. Im gleichen Maße sollten aber auch traditionelle und in der Praxis schon verbreitete Pädagogische Konzepte (5) und Good-Practice-Beispiele im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse betrachtet und ggf. ergänzt und / oder modifiziert werden. Für diese Aufgaben kommen zum Teil die schon bestehen- den Landesinstitute für frühkindliche Bildung in Betracht, aber auch die Neugründung von an Hochschulen angedockten „Transferagenturen“ oder „Clearing Houses“ (6), die neues Wissen auf- bereiten und zur Verfügung stellen sowie vor Ort gezielt „dritte Räume“ für die Transformation schaffen.

Als Katalysatoren für neues Wissen sollte aber auch die Fachberater*innen verstärkt in den Fokus genommen werden. Sie, die in der Regel akademisch ausgebildet sind und vertieftes Fachwissen besitzen, sind neben den Aus- und Weiterbildungseinrichtungen ideale Vermittlungsinstanzen in der Fläche. Einen Mehrwert für den Transfer könnte zudem die verstärkte Möglichkeit zu Fachkarrieren in den KiTas darstellen. Pädagogische Fachkräfte, die in der Regel eher generalistisch aus- gebildet sind und einen ganzheitlichen Blick auf das Kind haben, können sich in dieser Funktion fach- und ggf auch domänenspezifisch spezialisieren und so neues Wissen in die KiTa-Teams transferieren.

Nicht zuletzt muss auch die Reflexion und die Forschung über den Transfer in der frühkindlichen Bildung verstärkt werden – denn noch stellt diese aus empirischer Sicht eine weitgehende Blackbox dar.



Literatur / Anmerkungen


(1) Vgl. Regine Schelle / Kristine Blatter: Wissenstransformation durch Dialog. Perspektiven von pädagogischen Fachkräften in der Frühen Bildung. In: Frühe Bildung (2023), 12 (4), 189–196 https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000630
(2) Als entsprechende Referenz-Veröffentlichung ist hier die WiFF-Expertise von Kristine Blatter und Regine Schelle aus dem Jahr 2022 anzuführen: Wissenstransfer in der frühen Bildung. Modelle, Erkenntnisse und
Bedingungen. München:DJI

(3) Philipp Sandermann: „Ich bin bereit mir Zeit zu nehmen, weil ich mir neue Ansatzmöglichkeiten verspreche. Vertrauen als Schmiermittel des Praxistransfers“. Vortrag im Rahmen der Fachtagung: „Transfer in der
frühkindlichen Bildung. 10 Jahre landesweite Qualifizierungsinitiativen des nifbe“

(4) Für „Vielfalt leben und erleben“ sowie „Partizipation und Demokratiebildung“ frei zum Download hier


(5) Die großen pädagogischen Konzepte von Montessori über Reggio und den Situationsansatz bis hin zur Alltagsintegrierten Sprachförderung sind eher aus der Praxis entstanden und stellen eine Kombination aus Erfahrungen, Beobachtungen und Theorieelementen dar, von denen viele eher normativ als empirisch erforscht sind

(6) Wie zum Beispiel das New Zealand Family Violence Clearinghouse (NZFVC)

Übernahme de Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa Aktuell ND, 5-2024, S. 25-27


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