Partizipation und Regeln in der Kita

Ein unvereinbarer Widerspruch?

Immer mehr Kitas entwickeln sich weiter zu Kitas mit strukturierten demokratischen Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren, nicht zuletzt wird dies seit der Erweiterung des SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz vom Gesetzgeber verlangt und an die Erteilung der Betriebserlaubnis gekoppelt. Wie ist es denn nun aber zukünftig mit den Regeln in einer Kita? Kann es denn überhaupt noch Regeln (von Erwachsenen) geben, wenn Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen (§ 8 SGB VIII) beteiligt werden sollen? Wie lassen sich Aspekte der Aufsichtspflicht mit denen der Partizipation von Kindern vereinbaren?

Regeln strukturieren das Zusammenleben

Regeln strukturieren und ordnen unser gesellschaftliches Zusammenleben. Ohne Regeln würde beispielsweise unser Straßenverkehrssystem wahrscheinlich ziemlich schnell zusammenbrechen. Festgelegte Regeln sorgen für ein Allen bekanntes System, dass nicht bei jeder Gelegenheit neu verhandelt werden muss und Orientierung schafft. Sie tragen zum Funktionieren sozialer Gemeinschaften bei. Dabei ist jede demokratische Grundordnung vom Prinzip der Gewaltenteilung gekennzeichnet, bei der in Parlamenten die Gesetze gemacht werden (Legislative). Diese Gesetze können auch gesellschaftliche Regeln genannt werden. In demokratischen Gesellschaftsordnungen fällt dabei auf, dass in Erwachsenenparlamenten nicht immer die »besten« Regelungen erstellt werden, sondern eher häufig die, die im Aushandeln verschiedener Interessensparteien, kompromissfähig sind (Büttner, 2005).

Demokratische Entscheidungen folgen einem Mehrheitsprinzip. Die Exekutive (Polizei, Verwaltung) überwacht die Einhaltung der Gesetze oder Regeln, während die richterliche Gewalt (Judikative) auf Basis der geltenden Regelungen Recht in Konfliktfällen oder bei Gesetzesüberschreitungen spricht.

Für das Funktionieren einer demokratischen Grundordnung ist diese Gewaltenteilung dringend notwendig. Würde alles in einer Hand sein, wäre es eine der Willkür Tor und Tür öffnende Diktatur. Die gleiche Instanz dürfte sagen, wie das Gesetz lautet, es überwachen, darüber Recht sprechen und Überschreitungen sanktionieren. Aber was heißt das nun für den Kindergarten?

Auch der Kindergarten braucht Regeln

Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey bezeichnete den Kindergarten als »embryonic society« als »Gesellschaft im Kleinen« (vgl. Dewey, 1992). Es sollten also auch hier Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufgestellt werden. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob Kinder, ausgestattet seit der Geburt mit vollen Menschenrechten, hier Demokratie erfahren?

Ein Kindergarten ist ebenso wie die große Gesellschaft durch Regeln strukturiert. Die Regeln, die hier gelten, sind die Gesetze und Verordnungen der Kita-Gesellschaft. Doch wer stellt diese auf? Wessen Regeln sind es, die hier gelten? Wer überwacht die Einhaltung der bestehenden Regeln und entscheidet darüber, was bei Regelbrüchen passiert? Gilt in einer demokratischen Kita nicht auch das Prinzip der Gewaltenteilung? Darin steckt auch die Frage, wer denn letztlich in der Kita »der Bestimmer« ist. Wer bestimmt, was erlaubt ist und was nicht, und was bei Überschreitungen der geltenden Regelungen passiert, kurz: wer hat die Macht im Kindergarten?

Wie viele Regeln und wer stellt sie auf?

Bittet man Mitarbeiter/innen in Kitas einmal zusammenzutragen, welche und wie viele Regeln eigentlich in der jeweiligen Kita gelten, zeigt sich häufig ein ähnliches Phänomen: Eine Vielzahl von Regeln wird benannt, mitunter gekoppelt an viele kleine Ausnahmeregelungen und Wenn-Dann-Bestimmungen, so viele, dass selbst die pädagogischen Fachkräfte den Überblick verlieren und von einigen (Sonder-)Regelungen nichts wissen (Hansen/Knauer/Sturzenhecker, 2011). Häufig reagieren Mitarbeitende der gleichen Einrichtung dann sehr erstaunt, wenn sie voneinander offensichtlich geltende Regeln erfahren: »Was, diese Regel haben wir?« »Ja, die haben wir doch schon lange!« »Da habe ich noch nie etwas von gehört.« »Doch, wenn ich da bin, mache ich das so!« Hier wird deutlich, welcher Willkür viele Regeln unterliegen. Es ist abhängig davon, wer gerade anwesend ist, beziehungsweise wer von der Regelung weiß und wer nicht. Es gibt keine Rechtssicherheit.

Wenn Erwachsene diese häufig großen und unübersichtlichen Regelungskataloge nicht überblicken, wie sollen die Kinder dieses tun? Gleichzeitig wird deutlich: die Regeln sind meist von den Erwachsenen aufgestellt, es sind ihre Regeln. Sie sind auch diejenigen: die sie überwachen und für deren Einhaltung sorgen, im Zweifel Recht sprechen oder Sanktionen verhängen. Dabei sind sie sich nicht selten untereinander uneinig, welche Regeln gelten sollen.

Verordnete Regeln vs. verhandelte Regeln

Von den Erwachsenen aufgestellte Regeln sind Verordnungen. Sie sind einseitig angeordnet, meist nicht verhandelbar und gelten als Richtlinien. Meist sind dies in Kitas Anordnungen im Zusammenhang mit Sicherheitsfragen und/oder Fragen der Aufsichtspflicht. Dies kann in manchen Fällen gerechtfertigt und sinnvoll sein, auch wenn die Aufsichtsplicht nicht zur Schere im Kopf werden darf und als Alibi für ganze Verbotskataloge herhalten sollte.

Anzuordnen, dass Kinder, das neben einer vierspurigen Hauptstraße gelegene Kitagelände nicht eigenmächtig verlassen dürfen, ist sicher ein eine äußerst sinnvolle Anordnung. Die Anordnung ist hier ein den Vorgaben der Aufsichtspflicht gehorchendes und Kinderschutz umsetzendes Instrument. Diese sollte ehrlicherweise auch als solches benannt werden. Erwachsene können Teile ihrer Macht an Kinder abgeben, aber niemals Verantwortung! Regeln, die nur verkündet werden, sollten allerdings so transparent gemacht werden, dass die Kinder auch davon erfahren, in einer ihnen zugänglichen Form. Hier helfen Visualisierungen, mit denen Mitteilungen gemacht werden können, die Kinder verstehen und nachvollziehen können und für die Erwachsene nicht ständig anwesend sein müssen. Bei allen verordneten Regeln sollten sich Erwachsene aber stets ihrer Macht bewusst sein und beim Aufstellen der angeordneten Regel sich selbst ehrlich überprüfen, wobei sie das natürliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen mit einbeziehen sollten:
  • Dient die Regel den eigenen Bequemlichkeiten?
  • Soll mit der Regel die Überlegenheit der Erwachsenen demonstriert werden?
  • Soll mit der Regel ein Machtkampf gewonnen werden?
  • Dient die Regel dem gerechtfertigten Schutz des Kindes? (Ritz, 2008)


Dennoch sind es nicht die Regeln der Kinder, wenn sie nicht von ihnen mitentwickelt wurden. Um eine wirkliche Identifikation der Kinder mit den aufgestellten Regeln herzustellen, müssen sie an der Entwicklung der Regeln beteiligt werden, damit es auch »ihre« Regeln werden. Gerade kleine Kinder halten die Regeln der Erwachsenen eher ein, um deren Wohlwollen, auf das sie angewiesen sind, nicht aufs Spiel zu setzen, ohne dass sie die inhaltliche Logik der Regeln immer durchschauen. Sie haben noch keine »theory of mind«. Sie kooperieren (Juul, 1997). Gemeinsam aufgestellte und verhandelte Regeln haben in sich wiederum den Vorteil, dass die Kontrolle (Exekutive) ihrer Einhaltung nicht mehr durch die Mächtigen (die Erwachsenen) erfolgen muss, sondern automatisch durch die Motivierten (die Regelaufsteller) übernommen wird (Ritz, 2008).

Kinder, die an der Aufstellung von Regeln beteiligt werden, haben ein hohes intrinsisches Interesse an ihrer Einhaltung. Dies sorgt gleichzeitig für eine Entlastung der pädagogischen Fachkräfte, die sich nicht mehr ständig in der »Polizistinnenrolle / Polizistenrolle« befinden. Sollten auch gemeinsam mit Kindern Sanktionen beschlossen werden, scheint mir aus der Erfahrung heraus folgender Hinweis angebracht: Kinder neigen mitunter dazu, sich selbst äußerst hart zu sanktionieren. Ob aus Unerfahrenheit oder dem kooperativen Glauben, dies wäre das, was die Erwachsenen von ihnen erwarten, habe ich noch nicht abschließend durchdrungen. Es scheint aber angebracht, Kinder in solchen Momenten noch einmal zu beraten, oder ihnen zeitnahe Möglichkeiten zur Revision einzuräumen.

Regeln für die Regeln: Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit

Die Grundregeln für das Aufstellen der (gemeinsamen und verhandelten) Regeln in einer Kita folgen denen der ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. forschung: Damit Kinder sie einhalten können, müssen sie für Kinder eine Sinnhaftigkeit (Meaningfulness) haben. Es muss ihnen klar sein, warum es sinnvoll ist, diese Regel zu befolgen und vor allem: wie sie lautet, sie muss verstehbar sein (Comprehensebilility). Die Regel muss handhabbar (Manageability) und erreichbar sein, das heißt, sie muss den Kindern bewältigbar und auch umsetzbar erscheinen. Ansonsten verlieren sie schnell den Mut und das Zutrauen in die Regel. Gemeinsam ausgehandelte Regeln sind im Vergleich zu den angeordneten Regeln Vereinbarungen. Vereinbarungen beinhalten Kompromisse, Machtabgabe und Dialog. Ebenso gilt die Maxime »weniger ist mehr«: Um den Überblick zu behalten und eine pädagogische Einrichtung nicht zu »verregeln« sollte eine übersichtliche Anzahl an Regelungen bewahrt werden.

»Lebensregeln«
Rebecca und Mauricio Wild, die in Ecuador ein Kindergarten-, Schul- und Fortbildungszentrum leiten, haben ein Konzept entwickelt, dass auf einen umfangreichen Regelungskatalog verzichtet (Klein, 2005). Ihr Konzept der Lebensregeln geht davon aus, dass Menschen zunächst grundsätzlich in positiver Absicht handeln, Regelbrüche oder -überschreitungen immer wieder passieren können, das Scheitern denken sie also gleichzeitig mit. Auch Erwachsene halten nicht immer alle Regeln ein, wollen oder können dies. Denken Sie einmal daran, wie oft in Sitzungen oder Besprechungen die Regelung »Wir lassen uns gegenseitig ausreden« gebrochen wird oder überlegen Sie, wie oft Sie schon nachts an einer kaum befahrenen Straße über eine rote Ampel gelaufen sind.

Auch die Erfahrung des Scheiterns kann einen wichtigen Hinweis auf die Sinnhaftigkeit oder Handhabbarkeit einer Regel geben. Störungen oder Nichteinhalten von Regeln seitens der Kinder können einen deutlichen Hinweis geben auf fehlende Passgenauigkeit zwischen den Bedürfnissen und Bedarfen des Kindes und der Sinnhaftigkeit der Regel. Das Nichteinhalten der Regel sollte hier nicht gleich als Unangepasstheit oder Ungehorsam gewertet werden, sondern viel mehr einen Hinweis auf die Überprüfung einer Regel hinsichtlich nicht berücksichtigter Interesse des Kindes beinhalten. Die Lebensregeln nach Wild & Wild kommen damit aus, eine Absichtserklärung abzugeben, berücksichtigend dass Regeln unter bestimmten Voraussetzungen eh gebrochen werden. Sie müssen nicht perfekt sein und appellieren so an die Selbstverantwortung der handelnden Akteure. Es gibt auch nur fünf an der Zahl, die so formuliert sind, dass sie von jedem und jeder eingehalten werden können:

  • Wir bemühen uns, niemanden zu verletzen.
  • Wir bemühen uns, nichts zu zerstören.
  • Wir bemühen uns, andere nicht zu stören.
  • Wir beteiligen uns an der Arbeit.
  • Wir bemühen uns, Ordnung zu halten.

Fazit

Wirkliche und ernstgemeinte Partizipation heißt Einmischung mit Folgen. Dies gilt auch und vor allem für Regeln in Kitas, quasi die Kita-Gesetzgebung. Ernstgemeinte Partizipation hinterfragt Machtstrukturen, stellt diese in Frage, gewährt Kindern auch beim Aufstellen von Kitaregeln echte Beteiligungsmöglichkeiten und ermöglicht Regeln, die die Interessen der Kinder und die Verantwortung der Erwachsenen miteinander vereinbaren.

Literatur

  • Büttner, Christian (2005): Regeln-demokratisch gewendet. In: KiTa spezial Nr. 4/2005. Köln: Wolters Kluwer.
  • Dewey, John (1993): Demokratie und Erziehung. Weinheim: Juventa.
  • Frömbgen, Daniel (2010). Alltägliche Partizipation von Kindern in Kinder- und Familienzentren bei KiTa Bremen. Hochschule Magdeburg/ Stendal.
  • Hansen, Rüdiger & Knauer, Raingard & Sturzenhecker, Benedikt (2011). Partizipation in
  • Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Berlin, Weimar: Verlag Das Netz.
  • Hungerland, Beatrice (Hrsg.) (2009): Was ist Kindheit. Fragen und Antworten der Soziologie. In: Luber, Eva & Hungerland, Beatrice (Hrsg.): Angewandte Kindheitswissenschaften. Eine Einführung für Studium und Praxis. Weinheim: Juventa.
  • Juul, Jesper (1997). Dein kompetentes Kind. Reinbek: Rowohlt.
  • Klein, Lothar (2005): Mit Kindern Regeln finden. In: KiTa Spezial Nr. 4/2005. Köln: Wolters Kluwer.
  • Leubner, Ulrike (2010): Mit Kindern Regeln regeln. Limbach-Oberfrohna: edition claus.
  • Ritz, ManuEla (2008): Kindsein ist kein Kinderspiel. Adultismus – (un)bekanntes Phänomen. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg. i. Breisgau: Herder.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus KiTa aktuell ND, 12-2018, S. 247 - 249


Verwandte Themen und Schlagworte