Qualität kontinuierlich verbessern

Ein Beispiel aus Norwegen

Die skandinavischen Länder werden oft als Vergleichsobjekte für gute Kita-Praxis herangezogen. Sie gelten als fortschrittlich, vorbildlich und nachahmungswürdig. Im letzten Jahr ist in Norwegen ein neuer Bildungsplan in Kraft getreten, der nun von der Praxis implementiert und mit Leben gefüllt wird. Ein Blick über den Tellerrand auf ein Land, in dem mit Hilfe der Fortschreibung des für Kitas verbindlichen Rahmenplans ein kontinuierlicher Qualitätsentwicklungsprozess stattfindet.

In Norwegen wurde 1990 mit der Entwicklung des ersten nationalen Rahmenplanes begonnen, der – nachdem 1995 ein neues Kindergartengesetz verabschiedet wurde – im Jahr 1996 fertiggestellt wurde und in Kraft trat. Durch das Gesetz erhielt das zuständige Ministerium die Möglichkeit, einen für Kitas und deren Mitarbeiter verpflichtend geltenden Rahmenplan einzuführen. In ihm wurden die Aufgaben der Kita gegenüber Kindern, ihren Familien und der sich in schneller Veränderung befindenden Gesellschaft verdeutlicht und geregelt. Einer der zentralen Gedanken dieses Dokuments war es, dass Kindern im Kindergarten (1) ermöglicht werden soll, durch alltägliche Aktivitäten ihre Selbständigkeit weiterzuentwickeln.

»Tag für Tag müssen Kinder ohne Stress und Drängen die Möglichkeit bekommen, verschiedene alltägliche Dinge wie zum Beispiel das An- und Ausziehen [...] selbständig zu meistern«. (2)

Verankerung der skandinavischen Kindergartentradition

Das in Skandinavien so genannte »nordische Modell«, in dem viel Wert auf Beteiligung der Kinder, Selbständigkeit, freies Spiel, Aktivitäten in der Natur und das soziale Miteinander gelegt wird, ist deutlich zu erkennen. Es spiegelt sich vor allem im Umgang der »Erwachsenen«, wie die Erzieherinnen und Erzieher in Norwegen in der Kita genannt werden, mit den Kindern. Die Kinder werden ernst genommen und geben den Rhythmus vor. Der Kindergartentag ist deutlich an ihren Bedürfnissen ausgerichtet. Er ist ruhiger und es wird weniger mit vorgegebenen Projekten gearbeitet. Die Aktivitäten gehen stark von den Interessen der einzelnen Kinder aus. Auch auf den Alltag der Familien wird Rücksicht genommen. Zum Beispiel wurde der Morgenkreis in vielen Kitas abgeschafft, um den Familien zu ermöglichen, ohne Eile und Zeitdruck in der Kita anzukommen.

Der Alltag von arbeitenden Eltern ist oftmals hektisch genug. Die »Sammlungsstunde« wurde auf den späteren Vormittag gelegt, wenn alle Kinder in der Kita angekommen sind. Mit dem ersten Rahmenplan, der in Aufbau und Inhalt an vielen Stellen den deutschen Bildungsplänen gleicht, wurde der Begriff »Basiskompetenzen« eingeführt, mit dem die »Entwicklung von sozialer Handlungsfähigkeit und Entwicklung von Sprache und Kommunikationsfähigkeit in weiterem Verstand« gemeint ist. Weiter hieß es, dass mit dem Begriff Basiskompetenz ausgedrückt wird, »was Kinder an grundlegenden Kompetenzen für ihr zukünftiges Leben« erwerben sollen. Kinder sollen dazu in der Lage sein:

  • Kontakt mit anderen aufzunehmen und zu halten,
  • ein positives Selbstbild und eine positive Haltung gegenüber der eigenen Lernfähigkeit zu entwickeln,
  • ihre Selbstständigkeit, Kreativität und Flexibilität zu entwickeln,
  • die Rolle anderer einzunehmen und Dinge von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten,
  • zusammen zu arbeiten, Rücksicht zu nehmen und Fürsorge für andere zu zeigen,
  • zu lernen, auch selbst dazu beizutragen,
  • positive Normen für gemeinsames Handeln zu gestalten,
  • eine gute mündliche Sprache zu entwickeln,
  • auf verschiedenen Ebenen e!ektiv zu kommunizieren. (3)

Wachsender Bedarf – Neufassung des Rahmenplans 2006

Der Bedarf an Kita-Plätzen stieg in der Folgezeit rasant. 1998 gingen nur 61% aller 6-jährigen Kinder in den Kindergarten. Durch die Einführung des Rechts auf einen Kindergartenplatz vom vollendeten ersten Lebensjahr im Jahr 2008 besuchen heute 97% der Kinder von 3 bis 6 Jahren und 82,5% der Kinder von 1 bis 3 Jahren eine Kita (Gesamt 91,3%).

Zehn Jahre nach Erscheinen des ersten Rahmenplans wurde 2006 eine überarbeitete Version herausgegeben. Vorangegangen war die Eingliederung der Kindergärten in den Zuständigkeitsbereich des »Kunnskapsdepartementet« (4) wodurch der Rahmenplan unter Betonung des Gedankens des lebenslangen Lernens den Brückenschlag zu anderen Bildungseinrichtungen und den Zusammenhang zu den Lehrplänen der Schule herstellte.

Die pädagogischen Inhalte wurden in diesem Dokument klarer herausgearbeitet und der Plan im Vergleich zur vorausgehenden Version deutlich gekürzt. Präzisiert wurde das Recht der Kinder auf Partizipation und die Pflicht der Kitas, auf unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Als neuer Bildungsbereich wurde das Themenfeld »Anzahl, Raum und Form« eingeführt. Der Plan wurde 2011 revidiert.

Herausfordernder Überarbeitungsprozess

Im Jahr 2013, nach der Abwahl der über viele Jahre regierenden Sozialdemokraten, setzte die neue Mitte-Rechts Regierung unter Erna Solberg eine sogenannte Rahmenplangruppe zur Überarbeitung und Aktualisierung der Inhalte zusammen. Zentral war die Frage nach dem Bildungsbegriff und der Qualität der Arbeit in den Einrichtungen des Landes.

2015 bescheinigte ein Bericht der OECDOECD||||| OECD beinhaltet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und besteht aus 34 Mitgliedsstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die Organisation wurde 1961 gegründet und hatte den Wiederaufbau Europas als Ziel.  den Kitas in Norwegen viele Stärken, kam aber auch zu dem Urteil, dass zu wenige Fachkräfte in den Kitas eine relevante Ausbildung vorweisen können. Ganze 32% der Angestellten haben keinerlei pädagogischen Abschluss. Außerdem stellten die Sachverständigen der OECD fest, dass Qualität und Inhalte der Einrichtungen zu stark variieren.

Interessant ist der folgende Prozess: Die daraufhin geplanten Änderungen des Rahmenplanes stießen auf so starken Widerstand der Fachöffentlichkeit, dass 2016 von einem »Kindergartenaufruhr« gesprochen wurde. Nach Kampagnen gegen den neuen Plan veranstalteten die verantwortlichen Behörden im gesamten Land 15 Konferenzen mit 4.000 Teilnehmenden, um systematisch die Meinungen der Vertreterinnen und Vertreter der Fachverbände und anderer Fachpersonen zu hören. Die so generierten Rückmeldungen wurden in den Entwurf eingearbeitet und führten zu einem neuen Rahmenplan, der am 01.08.2017 in Kraft trat.

Neuerungen des seit 2017 geltenden Rahmenplans

Um die Qualität wirkungsvoll zu verbessern, sind im neuen Rahmenplan viele der bisherigen Kannbestimmungen zu Mussbestimmungen geworden. Das bedeutet, dass alle norwegischen Kitas verpflichtet sind, sie umzusetzen. Verantwortung der Kitas und Rollenverteilung wurden konkretisiert und verdeutlicht, was den Plan als Steuerungsinstrument wirkungsvoller macht.
Der Plan beginnt mit der Wertegrundlage der norwegischen Kindergärten, die in der pädagogischen Arbeit der Einrichtungen vermittelt und erlebbar gemacht werden muss. Im ersten Absatz wird hervorgehoben, dass die Kindheit einen Eigenwert hat und der Kindergarten sich ganzheitlich der Entwicklung der Kinder annehmen muss. Der Auftrag der Gesellschaft an die Kindergärten besteht darin, das Bedürfnis der Kinder an Fürsorge, Spiel- und Lernmöglichkeiten zu befriedigen, wobei Spiel, Fürsorge, Lernen und Bildung im Zusammenhang zu betrachten sind.

Im zweiten Absatz wird auf die Menschenrechte und die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 als Wertgrundlage verwiesen sowie auf die ILO Konvention 169. Diese internationale Vereinbarung ist dem Schutz der Rechte der indigenen Bevölkerungen gewidmet und betrifft in Norwegen vor allem die samische Urbevölkerung.

Im dritten Absatz wird erklärt, dass der Kindergarten ein Ort ist, an dem Kinder mitwirken können und demokratische Werte wie gegenseitigen Respekt, Wertschätzung von Vielfalt und Gleichberechtigung gelebt werden. Ebenso sollen hier die Grundlagen für den bewussten Umgang mit Nachhaltigkeit, einen gesunden Lebensstil und Selbstwirksamkeit gelegt werden. Im Anschluss folgen Ausführungen zu den genannten Punkten.

Gestärkt werden die Themen Vielfalt, Gesundheit, Sprachbildung und Übergänge (in die Kita, innerhalb der Kita und von der Kita in die Schule). Die digitale Praxis der Kitas ist erstmals explizit als eigenständig beschriebene Arbeitsweise benannt. Weiterhin wird die Verantwortung der Einrichtungen in Bezug auf Vorbeugung und Verhinderung und von Mobbing präzisiert und festgeschrieben, dass Kinder im Kita-Alltag die Möglichkeit haben müssen, sich auszuruhen, zu entspannen und Ruhe zu finden. Ein wichtiger neuer Punkt ist, dass in »Basiskindergärten« mit offenen Konzepten im Krippenbereich nun festgeschrieben ist, dass den Kindern nicht zu viele und nur altersgemäße Entscheidungen zugemutet werden dürfen.

Die Wichtigkeit der gemeinsamen Mahlzeiten wird betont und die gemeinsame Zubereitung der Speisen empfohlen. Die Arbeitsweise der Kindergärten wird konkret beschrieben. Das Personal soll von den Erfahrungen, Interessen, Initiativen und Meinungen der Kinder ausgehen und offen für Improvisation und ihre Mitwirkung sein. Kreativität und Spiel stehen im Mittelpunkt der Aktivitäten. Alle Kinder sollen gesehen und gehört werden und Einfluss nehmen können. Das Spiel hat einen zentralen Platz in der norwegischen Kindergartentradition und wird als die wichtigste Arena der Sozialisation betrachtet.

Neben dem Spiel werden Humor und Freude als wichtige Faktoren für ein gelingendes Miteinander von Erwachsenen und Kindern gesehen. Innerhalb des Kindergartens gibt es außer der Einrichtungsleitung sogenannte pädagogische Leitungen, die für die Planung, Durchführung, Dokumentation, Beurteilung und Entwicklung der pädagogischen Arbeit zuständig sind.

Nach der norwegischen »Pädagogen-Norm« muss es für 14 Kinder über 3 Jahren eine pädagogische Leitung geben. Im Krippenbereich ist eine pädagogische Leitung für sieben Kinder zuständig. Am Ende des Rahmenplanes werden sieben Bildungsbereiche beschrieben. Sie sind aktualisiert und um die Punkte Ernährung und Technologie ergänzt worden. Zu den Bildungsbereichen gibt es Themenhefte mit Anregungen und Umsetzungsbeispielen, die momentan überarbeitet werden.

Fazit

Die Anpassung der Rahmenpläne ist in Norwegen ein fortlaufender aktiver Arbeitsprozess, an dem das gesamte System der FBBE beteiligt ist. Dieser Prozess startet in der Regel mit der Erneuerung des Kindergartengesetzes und ist eine Antwort auf Herausforderungen und gesellschaftspolitisch relevanten Themen der Zeit. Die systematische und transparente Einbeziehung des Feldes in die Änderungsprozesse wirkt sich positiv auf die Akzeptanz und Implementierung der neunen Rahmenpläne aus. Wenn ein neuer Rahmenplan auf dem »Marsch durch die Strukturebenen« in der Praxis angekommen ist, startet die Politik bereits eine weitere Anpassungsrunde. Wie in einer Spiralbewegung ist auf allen Ebenen permanent Implementierungsarbeit nötig, wodurch das Feld die neuen Inhalte reflektiert und somit eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Qualität der Einrichtungen ermöglicht wird. Die Arbeitsweise dieses lernenden Systems können wir mit Gewinn auf die hiesige Praxis übertragen.


Fußnoten
(1) Der Begriff Kindergarten ist eine direkte Übersetzung des norwegischen Wortes »barnehage« und wird in diesem Artikel an mehreren Stellen synonym mit dem Begriff Kita verwendet.
(2) Rammeplanen for barnehagen 1996, S. 47; Übersetzung Julia Krankenhagen.
(3) Stortingsmelding 19, S. 19; Übersetzung Julia Krankenhagen.
(4) Ministerium mit Zuständigkeit für Kita, Grundschule, Kulturschulen (hervorgegangen aus den früheren Musikschulen), Weiterführende Schulen, Fach- und Berufsschulen, Hochschulen und Universitäten, Forschung, lebenslanges Lernen und Integration.
(5) Rammeplanen for barnehagen. Innhold ogoppgaver 2017, S. 44–45; Übersetzung Julia Krankenhagen.
(6) Die Aufgabenbereiche des »Utdanningsdirektoratet « entsprechen in etwa den Zuständigkeiten der Landesschulbehörden, allerdings ist es neben den Schulen auch für Kindergärten zuständig; 2018 fusionierte das Direktorat mit dem »Senter for IKT i utdanningen«, dem Zentrum für Digitalisierung in der Ausbildung.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 6-2018, S. 127 - 129




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