Doing Gender

- Geschlechtergerechtigkeit in der Kita

Geschlechtergerechtigkeit in der Kita ist wohl allen wichtig. Doch wie sie gelebt wird, ist für viele Fachkräfte nicht klar. Auch die Bildungspläne helfen nicht weiter. Melanie Kubandt hat über das Thema »doing gender« in Kitas promoviert und manchen blinden Fleck geortet.

In Kindertageseinrichtungen geht das Thema Geschlecht in der Regel mit der Forderung nach Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit einher. Dies verwundert nicht, denn die Kinder- und Jugendhilfe ist zur Förderung von Chancengleichheit der Geschlechter verpflichtet. Hintergrund dafür ist die Annahme, dass Geschlecht im pädagogischen Alltag eine wesentliche und deshalb fachlich zu berücksichtigende Bedeutungsdimension ist.

Die Forderung findet sich auch im »Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen«, der den jeweiligen Bildungs-, Erziehungs- und Orientierungsplänen der einzelnen Bundesländer übergeordnet ist:

»Für eine ganzheitliche Förderung (sind) Aspekte zu beachten, die für alle Inhalte gleichermaßen von Bedeutung sind und den Charakter von Querschnittsaufgaben haben.« (1)

Eine der insgesamt sechs Querschnittsaufgaben ist die geschlechterbewusste pädagogische Arbeit. Dieses Anforderungsprofil an Fachkräfte findet sich ebenfalls in zahlreichen frühpädagogischen Bildungsplänen. Etliche in den Bildungsplänen gewählte Formulierungen, wie z.B., dass Geschlecht als Querschnittsdimension »in der gesamten pädagogischen Arbeit mitgedacht« (2) wird, vermitteln den Eindruck, dass das, was Geschlechtergerechtigkeit inhaltlich bestimmt, eindeutig definiert und lediglich noch umzusetzen wäre. Dass dies keineswegs leicht und eindeutig ist, zeigt sich bereits an der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten, wie z.B. »geschlechtersensibel« (vgl. Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Sachsen), »genderbewusst« (vgl. Niedersachsen, Schleswig-Holstein), »geschlechterbewusst« (vgl. Sachsen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen) oder »genderorientiert« (vgl. Schleswig-Holstein), ohne dass deutlich wird, ob diese Begriffe synonym verwendet oder mit unterschiedlichen Vorstellungen von Geschlecht verknüpft werden.


Ambivalenz in den Bildungsplänen

In den Bildungsplänen findet sich im Zusammenhang mit Geschlechtergerechtigkeit die Tendenz, Geschlecht als potenzielle Problemkategorie zu thematisieren, die soziale Ungleichheit mit bedingen kann. In den Hamburger Bildungsempfehlungen (3) z.B. wird Geschlecht zusammen mit weiteren Differenzdimensionen – z.B. ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit, sozial-ökonomische Situation – als Risikofaktor für Ausgrenzung und Bildungsbenachteiligung genannt. Weit häufiger wird Geschlecht in den Bildungsplänen allerdings positiv verhandelt, beispielsweise als zu berücksichtigende und für die kindliche Entwicklung wesentliche Identitätsdimension. (4)

Als wesentliche Grundvoraussetzung für die Verwirklichung der fachlichen Förderung von Chancengleichheit benennen zahlreiche Bildungspläne mehrfach die Selbstreflexion der Fachkräfte hinsichtlich ihrer eigenen geschlechtlichen Vorstellungen und die Auseinandersetzung mit ihrem Umgang mit Geschlecht. Die Anforderungen an die Fachkräfte sind in zahlreichen Bildungsplänen an vielen Stellen durch die zugrunde gelegte Annahme gekennzeichnet, dass geschlechtliche Unterschiede als Normalfall angesehen werden und den Ausgangspunkt fachlicher Einflussnahme bilden. (5) Geschlecht wird in der Regel als Unterscheidung zwischen Jungen und Mädchen thematisiert, die es anzuerkennen gilt. Gleichzeitig wird jedoch auch der Anspruch geäußert, Unterschiede im Sinne von Benachteiligungen nicht zu verstärken bzw. entsprechenden Tendenzen fachlich entgegenzuwirken. Daraus ergeben sich allerdings oftmals Unsicherheiten auf Seiten der Fachkräfte. Die ungeklärte Frage ist: Wann sind geschlechtliche Unterschiede/Unterscheidungen problematisch, wann nicht und wann und wie pädagogisch anzuerkennen?



Die Geschlechterforscherin Barbara Rendtorff kritisiert am Beispiel des Begriffs »gendersensibel« daher folgendes:

»Mit dem Begriff allein kommen wir nicht weiter. Indem er so tut, als wüsste er (oder: als sei klar), was er bedeutet, verhindert er sogar die Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt, um den es eigentlich geht (...). Es würde auch nicht helfen, wenn wir den Ausdruck ›gendersensibel‹ durch benachbarte Begriffe ersetzen würden, etwa ›geschlechtergerecht‹ oder ›genderbewusst‹, denn das Problem unterschiedlicher und konkreter Auslegungsmöglichkeiten bleibt auch bei diesen unverändert bestehen.« (6)

Unterschiedliche Positionen

Hinsichtlich der Frage, was Geschlechtergerechtigkeit letztlich kennzeichnet, gibt es unterschiedlichste Positionierungen. Im frühpädagogischen Feld z.B. finden sich Positionen und Ansätze, die unter Geschlechtergerechtigkeit eine Abkehr von Differenzen verstehen. Ein prägnantes Beispiel für eine solche geschlechtsneutrale pädagogische Praxis ist z.B. die der schwedische Kindertageseinrichtung Egalia. Deren Leiterin Lotta Rajalin möchte, dass Mädchen und Jungen gleich behandelt werden und ersetzt dafür u.a. das männliche und weibliche Pronomen (han = er; hon = sie) im pädagogischen Alltag durch ein geschlechtsneutrales Kunstwort, dem geschlechterübergreifenden

Pronomen (hen). Diesem Ansatz stehen Positionen mit anderem Fokus gegenüber. Beispielsweise distanziert sich Annedore Prengel mit ihrer »Pädagogik der Vielfalt« (7) deutlich von der geschlechtsneutralen Pädagogik und spricht sich stattdessen für eine geschlechterbewusste Erziehung in Kindertageseinrichtungen aus.

Als Folge der meist ungeklärten Frage, was Geschlechtergerechtigkeit ausmacht, zeigt sich in deutschen Kindertageseinrichtungen oftmals die Tendenz zur Haltung: »Ich behandele ja immer alle gleich!« (8) Eine solche vermeintlich geschlechterneutrale Haltung basiert oft eher auf Unsicherheiten als auf fachlicher Überzeugung, wie folgendes Beispiel aus einem Tür- und Angel-Gespräch zeigt. Darin unterhalte ich mich mit einer der Fachkräfte und der Leiterin einer Kindertageseinrichtung:

»Die Erzieherin Steffie erzählt, sie würde im Alltag der Kita sehr viel reflektieren, gerade auch im Hinblick auf geschlechtliche Zuschreibungen. Sie sagt: ›Aber man sagt oder tut manchmal eben Dinge, die evtl. nicht korrekt sind, aber ich möchte darauf achten. Ich versuche immer alle gleich zu behandeln und geschlechterneutral zu agieren!‹ Ich hebe hervor, dass es mir schon ein paar Mal aufgefallen ist, dass es den Fachkräften in der Einrichtung offenbar wichtig ist, Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu vermeiden und einen neutralen Umgang zu betonen. Die Leiterin Sabine fragt daraufhin etwas verunsichert: ›Ist das jetzt ein Kompliment, also, ist das aus Deiner Sicht gut oder schlecht, wenn wir die Kinder neutral behandeln?‹« (9)

Das Beispiel zeigt Anzeichen einer eher geschlechterneutralen Haltung. Allerdings bleibt unklar, ob die Fachkräfte davon selbst überzeugt sind oder ob sie diese Haltung einnehmen, weil sie ihnen z.B. auf den ersten Blick als am wenigsten problematisch erscheint. Es macht auch ihre Unsicherheit, ob sie sich tatsächlich richtig verhalten, deutlich.

Beispiele aus dem pädagogischen Alltag

Eine Studie der Forschungsstelle Elementarpädagogik des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung e.V. (nifbe) (10) kam zu dem Ergebnis, dass es pädagogischen Fachkräften beim Planen von Angeboten leichterfällt, sich von geschlechterstereotypen Vorstellungen frei zu machen als in Interaktionen. Auch dafür ein Beispiel aus einer Krippengruppe:

»Beim jährlichen Adventskalenderritual haben die Fachkräfte dieses Jahr bewusst nicht die Namen einzelner Kinder auf die Geschenke geschrieben, um nicht zu lenken, wer was bekommt. Stattdessen wurde sich darauf geeinigt, dass der Zufall entscheiden soll, welches Kind welches Geschenk bekommt.

Als Geschenke werden jeweils gelbe, blaue und rosafarbige Armbänder eingepackt. Kurz vor Weihnachten zieht die fast zweijährige Rieke ihr Päckchen, dort ist ein rosafarbiges Armband drin. Rieke scheint das Armband nicht zu gefallen, sie legt es hinter sich und lässt es später dort liegen. Die Fachkräfte lachen und scherzen derweil miteinander:

›Jetzt haben wir in diesem Jahr die Geschenke extra nicht nach Farben für Jungen und Mädchen eingepackt, aber es passt schon wieder! Die Mädchen haben bis jetzt immer die rosafarbigen Armbänder bekommen!‹« (11)

Dass die Fachkräfte die Farben bewusst nicht zugeordnet haben, zeigt ihre Sensibilisierung für geschlechterstereotype Zuschreibungen. In der Interaktion jedoch greifen sie diese wieder auf: Sie benennen die Vorstellung »Mädchen und rosa passen zusammen« als für alle Mädchen gültig. Trotz Riekes Reaktion halten die Fachkräfte jetzt an einer Vorstellung fest, die sie ursprünglich vermeiden wollten.

Das Beispiel zeigt u.a., dass Fachkräfte sehr wohl bereit sind Geschlechtergerechtigkeit zu realisieren, blinde Flecken und/oder die Frage bzw. Unsicherheit, wann geschlechtliche Zuschreibungen problematisch sind, dennoch rasch zu Stereotypenbildung führen können. Zur Unterstützung der Fachkräfte sollte in bildungspolitischen Debatten und in den Bildungsplänen eindeutiger definiert werden, was konkret unter Vermeidung von Stereotypen zu verstehen und wie dem im pädagogischen Alltag zu begegnen ist. Insbesondere wenn von der Anerkennung von Unterschieden ausgegangen wird, sollte deutlicher thematisiert werden, (ab) wann Geschlechterdifferenzen bzw. Differenzierungen problematisch sind bzw. als Stereotypen angesehen werden.

Blinde Flecke nicht nur in der Praxis

Überdenkenswert ist zudem die Tendenz bildungspolitischer Debatten zur Gegenüberstellung von Mädchen und Jungen als vermeintlich homogene Gruppen, die Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern betont und innergeschlechtliche Varianzen tendenziell ausblendet. Wenn Differenzen zwischen den Geschlechtern in den Blick genommen und Geschlecht vorwiegend mit Unterschieden verknüpft wird, verfestigt dies indirekt genau jene Kluft zwischen Mädchen und Jungen, die Fachkräfte im Kontext der Forderung nach Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit überwinden sollen.

Alles in allem werden bestehende Geschlechterverhältnisse nicht ausschließlich in Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen gestaltet. Auch Debatten und Veröffentlichungen transportieren spezifische Vorstellungen von Geschlecht, die zu einer Stereotypenbildung beitragen können. In den Bildungsplänen z.B. spiegelt sich die gesellschaftlich nach wie vor wirksame Folie der Zweigeschlechtlichkeit wider, die in der Regel zwischen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen unterscheidet. Allerdings gibt es in Deutschland mittlerweile auch Tendenzen zur Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit, wie zum Beispiel bei der Änderung des Personenstandsgesetzes. Dieses bietet seit 2013 bei der Kennzeichnung der Geschlechtszugehörigkeit neugeborener Kinder neben männlich und weiblich im Fall von Intersexualität – d.h., wenn eine Geschlechterzuordnung nicht eindeutig möglich ist – die Option, keine Kennzeichnung vorzunehmen.

Auch wenn sich pädagogischen Fachkräfte von der fehlenden inhaltlichen Ausdifferenzierung entsprechender Handlungsoptionen möglicherweise überfordert fühlen, bietet diese ihnen die Chance, sich durch Selbstreflexion und der Arbeit an Praxisfallbeispielen produktiv mit den Anforderungen auseinanderzusetzen und eigene Positionierungen einzunehmen. Allein schon die Erkenntnis, dass Geschlechtergerechtigkeit eben doch nicht so einfach zu realisieren ist, wie vielfach suggeriert wird, kann durchaus entlastend wirken und Mut machen, sich den Herausforderungen aktiv zu stellen.


Lesetipps:

Focks P. (2016): Starke Mädchen, starke Jungen. Genderbewusste Pädagogik in der Kita. Freiburg
Krabel J., Cremers M. (2011): GenderLoops: Praxisbuch für eine geschlechterbewusste und -gerechte Kindertageseinrichtung. www.genderloops.eu. Berlin
Wahlström K. (2013): Jungen, Mädchen und Erzieher/innen. Geschlechterbewusste Pädagogik für die Kita. Weinheim

Anmerkungen:

(1) Jugend- und KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen".  (2004): Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Gütersloh, S. 4
(2) Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend Rheinland-Pfalz (Hrsg.) (2014): Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertageseinrichtungen in Rheinland-Pfalz. Weinheim, S. 19
(3) Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (2012): Hamburger Bildungsempfehlungen für die Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen. Hamburg
(4) Meyer S. (2015): Differenzierungen im Spannungsfeld zwischen Reproduktion, institutioneller Selbstrepräsentation, Einpassung und Modifikation. In: Hoffmann H. Borg-Tiburcy K., Kubandt M., Meyer S., Nolte D. (Hg.): Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandierenden Feld. Weinheim, S. 120-154
(5) Ebd.
(6) Rendtorff B. (2017): Was ist eigentlich gendersensible Bildung und warum brauchen wir sie? In: Glockentöger I., Adelt E. (Hrsg.): Gendersensible Bildung und Erziehung in der Schule. Münster, S. 18
(7) Prengel A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden
(8) Kubandt M. (2016): Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung – eine qualitativ-rekonstruktive Studie. Opladen
(9) Ebd.
(10) Hoffmann H., Borg-Tiburcy K., Kubandt M., Meyer S., Nolte D. (Hrsg.) (2015): Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandierenden Feld. Weinheim
(11) Kubandt M. (2016): Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung – eine qualitativ-rekonstruktive Studie. Opladen

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Betrifft Kinder 1-2018, S. 6-9





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