Die Gestaltung von Interaktionen im Kita-Alltag

Interaktionsgestaltung als Forschungsgegenstand

Seit einigen Jahren werden in Deutschland empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Studien zu Fachkraft-Kind-Interaktionen in Kindertageseinrichtungen durchgeführt. Zum einen wird der allgemeine Bindungsaufbau in Krippen und Kitas in den Blick genommen (vgl. z.B. Ahnert 2004, 2006), zum anderen werden auch verschiedene Aspekte von Kommunikation und Sprachbildung auf ihre entwicklungsförderliche Wirkung für Kinder bzw. Kindergruppen untersucht (vgl. König 2009; Anders et al. 2012; Fried 2013). Ein solches kriteriengeleitetes und videogestütztes Beobachtungs- und Reflexionsinstrument ist auch GInA (Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag.)

Zur Erfassung von Interaktionsqualität werden häufig Instrumente aus dem anglo-amerikanischen Raum wie die Instrumente der KES-Familie (z.B. Tietze et al. 2005), die ECERS-R (Sylva et al. 2010) oder die CLASS (CLASS-Pre School, vgl. Hamre et al. 2013; CLASSToddler; La Paro et al. 2012) verwendet.

In Deutschland werden zunehmend auch neue, videogestützte Verfahren entwickelt, die eine systematische, kriteriengeleitete Analyse von Interaktionssequenzen ermöglichen (z.B. König 2009; Kucharz et al. 2014; Wadepohl 2016). In diesem Kontext ist auch das videogestützte Instrument GInA (Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag) zu sehen, das im vorliegenden Beitrag vorgestellt wird. Es wurde in einem 3-jährigen Praxisforschungsprojekt (2011–2014) als kriteriengeleitetes, videogestütztes Beobachtungs- und Reflexionsinstrument entwickelt und erprobt (Weltzien, 2013, 2014, 2016) und im Rahmen mehrerer umfangreicher Studien für Forschungs- und Evaluationszwecke (GInA E) weiterentwickelt (Weltzien et al. 2017).

Anforderungen an die interaktionsbezogenen Handlungskompetenzen pädagogischer Fachkräfte

Wird Interaktionsqualität allgemein als die Kompetenz verstanden, kindliches Verhalten feinfühlig zu interpretieren und das eigene Verhalten als sensitives Antwortverhalten darauf auszurichten, sind die Verstehensleistungen der pädagogischen Fachkräfte in Bezug auf die kindlichen Verhaltensäußerungen wichtige Kompetenzen.

Bei Missverständnissen oder Störungen (»Nicht-Passungen«) wäre eine fachlich begründete Reflexion angemessen, die eine interaktive Abstimmung und eine beziehungsvolle, kongruente Anerkennung von Eigenständigkeit und Verschiedenheit zulässt (»interactive repair«). (Vgl. Schore 2003 oder Beebe et al. 2011, vgl. hierzu auch Nentwig-Gesemann/Nicolai 2016).

Der pädagogische Alltag ist als Serie hochkomplexer, herausfordernder und oftmals schwer verstehbarer Interaktionsgeschehnisse zu begreifen. Eine zentrale pädagogische Aufgabe besteht darin, einen (emotionalen) Zugang zu allen Kindern zu finden und mit ihnen in Dialog zu treten (Viernickel/Stenger 2010). Daher lässt sich Interaktionsqualität nicht ausreichend als allgemeine Prozessqualität fassen, sondern sie muss immer auf die konkrete Gestaltung von konkreten Situationen mit involvierten Kindern bzw. Kindergruppen bezogen werden. Die entscheidende Frage ist daher nicht, »Wer zeigt/hat eine hohe Interaktionsqualität?«, sondern vielmehr »Wer kann in einer bestimmten Situation unter den gegebenen Bedingungen welche interaktionsbezogenen Handlungskompetenzen hervorbringen?« In dem Zusammenhang sind auch allgemeine Kontextbedingungen wie das emotionale Gruppenklima (Ahnert 2007), die dialogische Kommunikationskultur (De Wol!/van IJzendoorn 1997) und das Wohlbefinden in Kindergruppen (z.B. Vermeer/van Ijzendoorn 2006; De Schipper et al. 2008) relevant.

Mit der (Weiter-)Entwicklung von Instrumenten zur Einschätzung interaktionsbezogener Handlungskompetenzen wird die Möglichkeit gesehen, systematische Zusammenhänge zwischen Einflussfaktoren und der tatsächlichen Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Praxisalltag zu finden. Mit Hilfe der Videografie können solche Alltagssituationen kriteriengeleitet analysiert werden. Bei dieser Auseinandersetzung mit Interaktionen geht es aber nicht um ein Kommunikationstraining oder gar um eine Normierung von Verhaltensweisen, sondern darum, die Wahrnehmung auf das eigene Verhalten im Wechselspiel mit den beteiligten Kindern und »Zaungästen« (also alle anwesenden, indirekt Beteiligten) zu schärfen und einer reflexiven Auseinandersetzung zugänglich zu machen.

Auf dieser Grundlage – so die Vorstellung – ist dann auch eine individuelle Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung von Kompetenzen möglich. Jeder Interaktionsverlauf ist ein einzigartiges, dynamisches, reziprokes und zum guten Teil auch unvorhersehbares situatives Geschehen, das kontextuell eingebettet ist und von dem Interaktionsverhalten der Beteiligten geprägt wird, sich letztlich aber aus sich selbst heraus entwickelt.

Eine forschende, reflexive und sensitive Haltung ist eine gute Grundlage dafür, dass Interaktionen im Alltag gelingen. Diese Haltung kann durch geeignete Methoden unterstützt werden.

GInA – Ein Beobachtungs- und Reflexionsinstrument für die Praxis

Das Beobachtungs- und Reflexionsinstrument GInA in seiner ersten Version wurde im Rahmen eines mehrjährigen Praxisforschungsprojekts entwickelt (Weltzien 2013, 2014). Ziel war es, systematisch und videogestützt Fachkraft-Kind-Interaktionen daraufhin zu analysieren, wie sich die Gesprächs- bzw. Interaktionsbereitschaft der Fachkraft, ihr methodisches Repertoire in der Interaktionsgestaltung und die sich in der Interaktion vermittelnden pädagogischen Wissensbestände ausdrücken.

Das Qualitätsentwicklungsprojekt beinhaltete zum einen die Entwicklung und Implementierung von Beobachtungs- und Reflexionsmethoden in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Einrichtungen und zum anderen die Evaluation des Prozesses in einem Prä-/Postdesign. Neben der videogestützten Beobachtung kamen leitfadengestützte Einzel- und Gruppeninterviews mit den teilnehmenden Fachkräften sowie die schriftliche Befragung zu Fachkraft-Kind-Interaktionen, zur allgemeinen Gruppenatmosphäre und zu Kontextfaktoren zum Einsatz. Mit den am Projekt beteiligten Fachkräften wurde zunächst ein fachlicher Austausch über die videografierten Interaktionsverläufe und deren Merkmale geführt.

In einem mehrstufigen Prozess wurden dann typische Merkmale der Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind(ern) formuliert, theoriegeleitet kategorisiert und dimensionalisiert. Die formulierten Merkmale wurden hinsichtlich ihrer beziehungsförderlichen, entwicklungs- und lernpsychologischen Relevanz überprüft und in einer weiteren Erprobungsphase weiter ausdifferenziert. Die präzisierten Skalen wurden abschließend testtheoretisch überprüft.

Der Entwicklungsprozess ist damit eine Triangulation aus ethnografischen bzw. rekonstruktiven Zugängen einerseits und statistischen Analysen andererseits. Dieses entwickelte Instrument kam bislang in drei Praxisforschungsprojekten mit unterschiedlichem Themenschwerpunkt zum Einsatz:

  • »1, 2, 3 – Die Jüngsten im Blick« (vgl. Weltzien/Bücklein 2015)
  •  »Innopäd U3« (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Ho!er 2013)
  •  »HeVeKi« (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al. 2014, 2017)

Daneben wird es seit mehreren Jahren bundesweit in Aus- und Weiterbildungskontexten, Multiplikator/innenschulungen sowie in der Prozessbegleitung von Teams eingesetzt (Informationen unter: www. zfkj. de/ gina).

Das »ursprüngliche« Instrument GInA hat sich im Aus- und Weiterbildungszusammenhang bei der Reflexion der Fachkraft-Kind-Interaktionen und zur Kompetenzentwicklung der Fachkräfte gut bewährt. In den Forschungs- und Evaluationsprojekten zeigte sich allerdings, dass die vierstufige Ratingskala teilweise zu wenig differenziert war und daher zu wenig Variabilität abgebildet werden konnte. Ebenso wurde deutlich, dass für Forschungs- bzw. Evaluationszusammenhänge einige Items überprüft und »geschärft« werden mussten. So wurde im Zeitraum 2015–2016 das ursprüngliche GInA-Beobachtungs- und Reflexionsinstrument (28 Merkmale, 4-stufige Skala) durch eine Forschergruppe am Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) an der Evangelischen Hochschule Freiburg weiterentwickelt. Hierzu wurde die ursprüngliche Skala zu einer 7-stufigen Skala weiterentwickelt und mittels umfangreicher Analysen von Videosequenzen (N=145) aus verschiedenen laufenden Projekten getestet. Die Ergebnisse dieser Weiterentwicklung sind in das Evaluationsinstrument »GInA-E« eingeflossen, das in einem Manual ausführlich beschrieben wird (Weltzien et al. 2017).

Praxiserfahrungen mit GInA

Es gibt es keine einfachen Antworten hinsichtlich der Gestaltung dialogförderlicher Gruppenstrukturen und Abläufe. Allerdings zeigt sich, dass eine grundlegend dialogorientierte pädagogische Praxis eher geeignet ist, individuelle Gesprächsgelegenheiten im Alltag zu eröffnen. Die durch die Anwendung in der Praxis evaluierten Erfahrungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. auch Weltzien 2016):
  • Interaktionen werden im Team stärker als komplexes Wirkungsgeschehen wertgeschätzt und gehen seltener »im Alltag unter«;
  • die Fachkräfte haben mehr Zeit und Ruhe für Interaktionen und es kommt häufiger zur gegenseitigen Unterstützung im Team, um Gespräche mit Kindern zu stärken (»Rücken frei halten«);
  • das nonverbale Ausdrucksverhalten rückt stärker in den Fokus, die Gespräche sind weniger sprachlastig, das aufmerksame Zuhören gelingt häufiger, die Kongruenz zwischen nonverbalem und verbalem Ausdruck steigt;
  • Interaktionen werden aus der Perspektive aller anwesenden Kinder in den Blick genommen; auch die Perspektive der »Zaungäste«, also indirekt am Gespräch beteiligte Kinder, wird wahrgenommen;
  • als Ergebnis einer intensiven  Teamauseinandersetzung können neue Zugänge zu Kindern gesucht und gefunden werden;
  • die alltäglichen Routinen werden gezielt in den Blick genommen und bewusster für Dialoge genutzt;
  • Chancengleichheit,  Partizipation  und Inklusion werden auf Teamebene anhand konkreter Alltagssituationen reflektiert und weiterentwickelt;
  • Gelingens-  und  Hemmfaktoren für Gespräche werden als Teamaufgabe erkannt und gestaltet.


Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das videogestützte Beobachtungs- und Reflexionsverfahren GInA geeignet ist, die Ressourcen, die sich in alltäglichen Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern verbergen, sichtbar und für andere zugänglich zu machen. Für den Einsatz von Videografie gelten allerdings wichtige Voraussetzungen: Neben den Erfordernissen zum Datenschutz, zu denen unter anderem das informierte Einverständnis der Eltern gehört, ist das Prinzip der Freiwilligkeit und Offenheit absolut zu respektieren: Keine Fachkraft darf dazu gedrängt werden, sich videografieren zu lassen; Die Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit Fachkraft-Kind-Interaktionen braucht eine solide Vertrauensbasis im Team. Die Erfahrungen in der Praxis zeigen aber, dass GInA ein guter Motor der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Kompetenzen – allein und auf Teamebene – sein kann: Wer einmal den großen Nutzen erkannt hat, der mit der videogestützten Selbst-Beobachtung und Selbst-Reflexion verbunden ist, wird dieses Instrument gewinnbringend für sich und seine professionelle Weiterentwicklung dauerhaft anwenden. In Teams, die seit Jahren mit GInA arbeiten, zieht sich das Verfahren »wie ein roter Faden« durch die Team- und Qualitätsentwicklung. In Anleitungs- und Reflexionsgesprächen mit Auszubildenden und Quereinsteigerinnen, in der Weiterentwicklung der dialogischen und partizipativen pädagogischen Arbeit auf Teamebene und in Teamprozessen z.B. zu Inklusion und Partizipation bietet das videogestützte Verfahren eine sehr gute Möglichkeit, wertschätzend und auf hohem fachlichem Niveau den eigenen Alltag in den Blick zu nehmen. Werden diese Aspekte als gemeinsame Haltung in einer Einrichtung angenommen, ist zu erwarten, dass sich das Dilemma »Gespräche mit einzelnen Kindern vs. Organisation der Gruppe« weitgehend auflöst. In Einrichtungen, in denen eine dialogorientierte Pädagogik realisiert wird, ist die Atmosphäre ruhiger, entspannter, aufmerksamer, konzentrierter, freundlicher und offener. Unabhängig davon, ob die Kinder tatsächlich viele Gelegenheiten zum Gespräch nutzen oder nicht, können sie in einer solchen Atmosphäre besser ihren Interessen und Bedürfnissen nachgehen, es entstehen intensivere Spiele mit Gleichaltrigen und es zeigen sich weniger herausfordernde Verhaltensweisen. Positive Wirkungen auf die Gruppe sind auch zu erwarten, weil die Dialogorientierung für die Kinder wie ein positives Modell wirkt, an dem sie sich orientieren können. Hiervon profitieren Kinder ganz besonders stark, die bislang eher selten positive Gesprächserfahrungen machen konnten.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell 1-2018, S. 4-7

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