Bildungsort Garderobe

An- und Ausziehen ist mehr als nur ein Übergang

An- und Ausziehen in der Garderobe ist eine Situation, die sich viele Male am Tag wiederholt und die eine Vielzahl an Herausforderungen, sowohl für die Krippenkinder als auch für die pädagogischen Fachkräfte, aber auch ein hohes Bildungspotenzial beinhaltet. Nicht selten aber ist sie eine der stressigsten Situationen des ganzen Tages. Nicht immer ist auf den ersten Blick ersichtlich, worauf dies zurückzuführen ist. Daher lohnt es sich, diese Situation genauer zu betrachten.

Das besondere an der Aktivität „An- und Ausziehen“ sind die zwei unterschiedlichen Dimensionen, die sich innerhalb dieser Aktivität vereinen. Diese beiden Dimensionen bringen unterschiedliche Notwendigkeiten für eine gelingende Gestaltung mit sich, deren Vereinbarung zu einer hohen Komplexität für alle Beteiligte führt, denn viele Vorgänge laufen in der Garderobe parallel ab.

Mikrotransition und Lebensaktivität

Zunächst lässt sich die Aktivität „Sich-Kleiden“ zu den sogenannten Aktivitäten des täglichen Lebens (Gutknecht, Kramer & Daldrop 2017) zuordnen. Bei diesen Lebensaktivitäten, zu denen sich auch Essen, Schlafen oder Ausscheiden zählen lassen, bauen Kinder für ihr ganzes Leben bedeutsame Kompetenzen auf, die sogenannten Selbstpflegekompetenzen (Orem 1997). Damit werden Fähigkeiten bezeichnet, sich selbständig und angemessen um den eigenen Körper kümmern zu können.

Darüber hinaus ist die Garderobensituation immer auch eine Mikrotransition, ein kleiner Übergang. Damit sind Wechsel von einer zu einer darauffolgenden Aktivität gemeint, z. B. von drinnen nach draußen. Sie beinhalten i. d. R. einen oder mehrere Raumwechsel, einen Wechsel von Spielpartnern oder Bezugspersonen. Diese Mikrotransitionen beanspruchen mehr als die Hälfte des Tagesablaufes (Gutknecht 2013) und sind vor allem auf Grund ihres hohen Stresspotenzials für alle Beteiligten in den Blick zu nehmen. Eine Planung und anschließende Reflexion der Mikrotransitionen kann den Unterschied zwischen stressigen und harmonischen Tagen ausmachen. Um das An- und Ausziehen als Pflegeaktivität mit exklusiver Beziehungszeit sowie als Bildungsaktivität zu gestalten und zu begleiten, ist eine harmonische Übergangsgestaltung zentral.
Bildungspotenziale erfassen und begleiten

Sich-Kleiden ist Teil eines zentralen Interessensfeldes der Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Jeder Zuwachs an Fähigkeiten im Bereich der Selbstpflege bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Insbesondere für den Aufbau dieser Selbstpflegekompetenzen, aber auch bei der Bewältigung des Übergangs sind Kinder auf pädagogische Fachkräfte angewiesen, die sie angemessen begleiten und ihnen hilfreich assistieren. Die dafür nötigen Interaktionskompetenzen der pädagogischen Fachkraft lassen sich unter dem Begriff „Professionelle Responsivität“ zusammenfassen und zeigen sich insbesondere in einem auf die Signale des Kindes abgestimmten Antwortverhalten (Gutknecht 2015).

Intensive Zeit für Fachkräfte

In der Garderobensituation sind die pädagogischen Fachkräfte besonders gefordert: Sie müssen sowohl jedes Kind individuell begleiten als auch die Bedürfnisse der Kindergruppe nicht aus dem Blick verlieren. Dazu kommen die Rahmenbedingungen wie der Raum und die Zeit, die die Situation ebenfalls stark beeinflussen.

Wichtig ist grundsätzlich, sich des spezifischen Bildungspotenzials der Garderobensituation bewusst zu werden, um die Aktivität in ihrem Stellenwert im Tagesverlauf neu zu bewerten. Kinder in den ersten drei Lebensjahren müssen erst noch lernen, die Aktivitäten des täglichen Lebens selbstständig auszuführen. Bezüglich des An- und Ausziehens ergibt sich demnach ein wichtiges Lernfeld, welches auf verschiedenen Ebenen durch die pädagogischen Fachkräfte begleitet werden muss. Zum einen ist es eine Situation, in der in einem Eins-zu-eins-Kontakt jeden Tag aufs Neue ein sprachintensiver Austausch mit dem Kind gestaltet werden kann. Momente gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit entstehen, die Benennung von Utensilien oder Vorgängen erweitern den Wortschatz der Kinder. Auch das Sich-Erinnern (welches Wetter war gestern usw.) und einen Ausblick geben (gleich gehen wir zum Wochenmarkt) passen gut in die Garderobensituation.

Bedeutsam ist das An- oder Ausziehen aber auch für die Entwicklung der motorischen Abläufe des Kindes. Eine Assistenz ist in der Arbeit mit Kindern vor allem im Krippenalter in jedem Fall nötig und auch dabei kommt es auf die Abstimmung der pädagogischen Fachkräfte an: das Interaktionsverhalten auf der Ebene von Berührung und Bewegung ist entscheidend, wie das Kind diese Interaktion erlebt und wieviel Eigentätigkeit ihm zugestanden wird.

Da Kinder wegen ihres kleineren Körpers und ihrer motorischen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, den Bewegungen der Erwachsenen zu folgen, ist die Anpassung an die Fähigkeiten der Kinder in der Assistenz zentral. Dafür sind sogenannte responsive Handlungskompetenzen wichtig (Gutknecht, Kramer & Daldrop 2017).

Die pädagogische Fachkraft kennt den Bewegungsablauf des Kindes und ist deshalb in der Lage, darauf eine entsprechende Bewegungs- oder Berührungsantwort zu geben. Sie weiß z. B., mit welchem Arm das Kind beim Jacke-Anziehen normalerweise beginnt, und kann dem Kind einen entsprechenden Impuls am linken Arm geben, falls es den Ärmel nicht findet. Orientiert sich die pädagogische Fachkraft hingegen beim Assistieren an den eigenen Routinen, ist das wenig hilfreich für das Kind – bzw. sogar irritierend. Die Bewegungen sind dann meist zu schnell, in einem zu großen Radius auf Grund der unterschiedlichen Körpergrößen, und werden mit zu viel Kraft ausgeführt. Dabei kommt es schnell zu Gleichgewichtsirritationen bei den Kindern, die immer einen kurzen Moment der Unsicherheit und für das Kind einen Stressmoment bedeuten.

Bei der Unterstützung der Kinder ist es für pädagogische Fachkräfte wichtig, sich die Frage zu stellen, wie sie hilfreich für das Kind sein kann. Das bedeutet auch, dass keine Bewegungen ausgeführt werden, die das Kind nicht irgendwann auch alleine ausführen kann (z. B. Hochheben, um die Position des Kindes zu verändern).

Die Perspektive des Kindes einnehmen

Wie würde das Kind die Bewegung ausführen, wenn es sie bereits alleine bewältigen könnte? Durch diese Frage wird die Perspektive des Kindes eingenommen und die individuellen Kompetenzen und Voraussetzungen des jeweiligen Kindes treten in den Vordergrund. Außerdem ist es wichtig, dass die Schritte während des An- oder Ausziehens für das Kind nachvollziehbar sind, z. B. wird erst die Matschhose angezogen und danach die Jacke. Ein immer wiederkehrender Ablauf hilft den Kindern, vorherzusehen, was als Nächstes passiert, und sich aktiv zu beteiligen.

Den pädagogischen Fachkräften kann ein ähnlicher Ablauf Sicherheit geben, wenn sie Kinder in der Garderobensituation begleiten, die sonst von einer anderen pädagogischen Fachkraft begleitet werden.

Wichtige Einflussfaktoren

Um die nötige Zeit und Ruhe während der turbulenten Garderobensituation zu schaffen, um die Kinder tatsächlich angemessen begleiten zu können, ist es wichtig, die bedeutsamsten Einflussfaktoren in den Blick zu nehmen und ggf. zu verändern:
  • Der Raum, die Zeit und die Gestaltung des Übergangs (vgl. Daldrop 2016).
  • Das Vorhandensein von viel oder wenig Platz zum An- und Ausziehen hat Einfluss auf die Interaktionen und die Abläufe in der Garderobe.
  • In einigen Einrichtungen werden Flur- und Garderobenbereich auch als Spielort genutzt. Oft wird dann der Flur zur Rennstrecke für Fahrzeuge oder bietet Raum zum Spiel mit anderen Materialen. Für die Kinder hat der Bereich dann eine Doppelfunktion: Er ist nicht nur der Ort des An- und Ausziehens, sondern gleichzeitig ein Spielort.
  • Besonders bei großen Räumen überbrücken Kinder Wartezeiten dann oft mit Hin- und Herrennen, lautem Schreien oder Rufen.
  • Die Konzentration auf das An- und Ausziehen kann unter diesen Umständen für pädagogische Fachkräfte und Kinder schwierig sein. Eine sichtbare Abtrennung während des An- und Ausziehens könnte den Kindern helfen, mit ihrem Aufmerksamkeitsfokus bei der Aktivität zu bleiben. Möglicherweise lassen sich eine Trennwand oder ein Vorhang anbringen und zu anderen Zeiten des Tages einfach zur Seite schieben.
  • Spielzeug mit hohem Aufforderungscharakter, z. B. Rutschautos, sollten wenn möglich nicht sichtbar sein oder mit einem Symbol markiert werden, welches die Kinder kennen (z. B. ein großes Stoppschild).
  • Bei wenig Platz in der Garderobe steigt hingegen das Risiko, dass es zu Auseinandersetzungen unter den Kindern kommt. Bei vielen Kindern in einem engen Raum kommt es zum sogenannten Crowdingeffekt (crowding = zusammenpferchen). Dies führt dazu, dass sich die Kinder beim An- oder Ausziehen viel zu nahe kommen und ihr Ablauf gestört wird. Schnell entstehen Streitigkeiten. Die Kinder signalisieren der pädagogischen Fachkraft dann vermehrten Unterstützungsbedarf und diese müssen dann neben der zu leistenden Assistenz oft eine ganze Gruppe beruhigen.

Möglichkeiten der Optimierung

Damit der Faktor Platzverfügbarkeit nicht zu einem Problem wird, empfiehlt es sich, die Kindergruppe in Kleingruppen aufzuteilen und somit die eigentliche An- und Ausziehsituation in der Garderobe zu entspannen. Diese Übergangs- und Gruppenorganisationsstrategien können auch Abhilfe schaffen, damit die Zeit vor oder nach dem An- oder Ausziehen für die Kinder nicht zur Qual wird. Die Zeit kann für sie nämlich sehr lang und unüberschaubar sein. Um die Wartezeiten für die Kinder angemessen zu gestalten und ggf. das Platzproblem zu lösen, gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Korridor
Durch die Gestaltung eines sogenannten Korridors von der vorherigen Aktivität hin zum Anziehen in der Garderobe sowie fließend zur nachfolgenden Aktivität kann die Wartezeit und damit die Atmosphäre spürbar entspannt werden. Ein Teil der Kinder spielt dann zunächst weiter, während ein anderer Teil der Gruppe sich in der Garderobe anzieht. Sobald die Kinder in der Garderobe fertig sind, gehen sie nach draußen und von den spielenden Kindern können die nächsten in die Garderobe.
Für diese Art der Gestaltung benötigt es eine Absprache der Zuständigkeiten:
  • Wer begleitet die Kinder in der vorherigen Aktivität und koordiniert den Übergang in die Garderobe?
  • Wer ist bei der Anziehsituation und Assistenz in der Garderobe dabei?
  • Welchen Weg müssen die Kinder bis zur nächsten Aktivität zurücklegen?

Nischen
Um längere Wartezeiten vor oder nach dem An- oder Ausziehen zu überbrücken bzw. um Sammelpunkte für Kinder einzurichten, können kurze interessante Spielangebote eine Möglichkeit sein. Als Materialien bieten sich z.B. an: eine Bücherkiste mit ausgewählten Bilderbüchern, ein Spiegel, ein bespielbares Wandpanel mit Magneten oder Elementen wie Farbkreiseln, Wandcollagen mit unterschiedlichen Oberflächen usw. Die Gruppenzusammensetzung und der Ort der Nische spielen eine wichtige Rolle, wenn diese Möglichkeit der Übergangsgestaltung zur Entspannung und nicht zur Verschärfung der Garderobensituation beitragen soll.

Zusammenfassung

An- und Ausziehen in der Garderobe ist eine herausfordernde und komplexe Situation, die aber in jedem Fall mehr als nur der Übergang von einer Aktivität zur nächsten ist: Es ist eine wichtige Bildungs- und Pflegeaktivität, der häufig zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Planen Sie die konkrete Ausgestaltung dieser Situation bewusst und räumen Sie ihr einen neuen Stellenwert ein. So können Sie und die Kinder diese Situation als Bildungszeit in einem berührungs- und bewegungs-, aber auch sprachintensiven Kontakt erleben.

Literatur

  • Daldrop, Kira: Die Garderobensituation im Krippenalltag – Mikrotransition und Aktivität des täglichen Lebens. Qualitative Interaktionsgestaltung und Assistenz. 2016 Abrufbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/uploads/media/KiTaFT_Daldrop_Garderobensituation_2016.pdf (Stand: Juli 2017)
  • Gutknecht, Dorothee/Kramer, Maren/Daldrop, Kira: Kinder bis drei in Krippe und Kita. Praxis Kompakt. Herder 2017
  • Gutknecht, Dorothee: Bildung in der Kinderkrippe. Wege zur Professionellen Responsivität. Kohlhammer 2012
  • Gutknecht, Dorothee: Kleiner Wechsel, große Wirkung. Übergänge im Krippenalltag sensibel gestalten. Entdeckungskiste 1/2013, S. 34-35
  • Orem, Dorothea E.: Strukturkonzepte der Pflegepraxis. Ullstein Mosby, 1997
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus klein&groß 11-2017, S. 20-24


Leseempfehlung:

Mikrotransitionen: Kleiner Wechsel, große Wirkung




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