Beobachten heißt beACHTEN

Kreative und partizipative Bildungsdokumentation

In allen Bildungsplänen bundesweit sind Beobachtung und Bildungsdokumentation ein wichtiger Bestandteil in der Arbeit mit den Kindern. In manchen Bundesländern ist sie sogar gesetzlich verankert. Die Frage, wie Bildungsdokumentation aussehen, was sie enthalten soll, wird immer wieder laut, sowohl in den Teams, die schon lange – auch schriftlich – Bildungsdokumentation durchführen, als auch bei denen, die damit anfangen. Kreative und partizipative Bildungsdokumentation – was ist damit eigentlich gemeint?

Mit „Kreativität" im Zusammenhang von Beobachtung und Dokumentation assoziieren wir:

Lust am Gestalten, einen Prozess, an dem alle beteiligt sind, ein Ergebnis, das für alle gut und wertvoll ist, und, nicht zu vergessen, Spaß und Freude an dem gemeinsamen Alltagserlebnis. Und hier zeigt sich schon ein wichtiger Aspekt in der Bildungsdokumentation: es ist unsere Assoziation – was nicht heißt, dass es die Assoziation jeder mit Bildungsdokumentation beauftragten Fachkraft ist. Vielleicht assoziiert die eine oder der andere hiermit:

Ja, Bildungsdokumentation ist wichtig, aber ...

  • sie raubt uns wertvolle Zeit für die „eigentliche“ Arbeit mit den Kindern.
  • ist oft auch sinnlose Schreiberei und Datensammelei.
  • Wie sollen wir das neben den ständig neuen Anforderungen auch noch schaffen?
oder:
  • Kreativität steht in diesem Zusammenhang wahrscheinlich für die Kreativität der Erzieherin, das auch noch in den Alltag zu integrieren.
  • etwas völlig Anderes, was uns in diesem Zusammenhang noch nicht eingefallen ist.

Betrachten wir zunächst die verschiedenen Aspekte, die kreative und partizipative Bildungsdokumentation ausmachen:

Kinder beobachten heißt sie beachten ...

und die Dinge dieser Welt mit ihren Augen zu sehen. Dazu gehört auch, die Kinder aktiv in die Bildungsdokumentation mit einzubeziehen. Kinder sind Ko-Konstrukteure ihrer Entwicklung und kompetente Lerner ihrer selbst und es gilt, sie darin wertzuschätzen.

Wir können nie einen Menschen in seinen gesamten Facetten erfassen. Wir sehen immer nur einen Ausschnitt, wir haben immer nur unsere Perspektive. Um der „Wahrheit“, wie ein Mensch „wirklich“ ist, möglichst nahe zu kommen, bedarf es immer unterschiedlicher Perspektiven: die der Erzieherinnen, die des Kindes und die der Eltern!

Es gibt nicht die eine Wahrheit, die eine Ursache, die eine Perspektive
Die Herausforderung ist, den Perspektivwechsel bei mir selber zuzulassen und zu vollziehen. Gemeint ist damit, die eigene Wahrnehmung und Bewertung einer Situation / eines Verhaltens neben die Perspektive des Beobachteten (des Kindes) und anderer beteiligten Personen (z.B. Eltern, Kollegen, Therapeuten ...) zu stellen. D.h. Platz im eigenen Denken zu lassen für die Sicht / Erlebnisweise der anderen – besonders der des beteiligten Kindes – und dabei die eigene Herzintelligenz mitsprechen zu lassen.

Gemeinsame Sache machen mit dem Kind,
bedeutet es zu fragen, mit ihm zu sprechen, um zu erfahren, ob unsere „Wirklichkeit“ und unsere Beobachtung und Einschätzung, eine ähnliche ist wie die des Kindes. Unsere Frage an das Kind sollte (natürlich altersentsprechend) lauten: „Ist das, was ich gesehen habe und wie ich das Gesehene bewerte, auch das, wie du dich / die Situation / dein Verhalten erlebst?" Das heißt, das einzelne Kind wird zum aktiven Partner im Beobachtungs- und Dokumentationsprozess – hier zeigt sich die partizipative Haltung in der Bildungsdokumentation.

Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind: niemand möchte von anderen beobachtet und bewertet werden (und das auch noch schriftlich), ohne selber Mitspracherecht zu haben.

Es gibt ein Sowohl-als-auch und nicht ein Entweder-oder
Gemeint ist damit, dass z. B. ein Kind mit feinmotorischer Entwicklungsverzögerung und mit einem altersentsprechenden Intellekt sowohl Verweigerungsverhalten im Malen eines gegenständlichen Bildes zeigen kann als auch beim Schreiben seines Namens viel Spaß und Ausdauer besitzen kann.
Die Haltung „Entweder kann es gut malen, dann kann es auch gut schreiben – oder, wenn es nicht malen kann, kann es auch nicht schreiben", führt zu einer völlig falschen Einschätzung des Kindes und somit zu einer fehlgeleiteten Förderung.

Beobachtung ist die Basis für kindorientiertes und zielgerichtetes Handeln

Kinder brauchen für ihre Entwicklung Erwachsene, die sie begleiten und in ihrem Tun unterstützen, bestärken und die Hintergründe ihres Handelns verstehen. Die Beobachtung liefert uns Informationen, die nicht so offensichtlich sind und gibt uns wertvolle Einblicke in die Erlebenswelt der Kinder. Voraussetzungen dafür sind:

Die kontinuierliche Reflektion der eigenen Haltung:
  • „Wie wertschätzend erlebe ich / erleben andere meinen Blick auf und meine Ansprache an das mir anvertraute Kind?". Bin ich in der Lage, zu erkennen und zu unterscheiden: „Was von dem, was ich sehe, erkenne und bewerte, hat mit mir und was hat mit dem Kind zu tun?"
  • Eigenes, kompetentes Fachwissen, d. h. die stetige Weiterbildung in Entwicklungs- und Themenbereichen und die Lust daran, sich selbst weiterzuentwickeln.
  • Dass die Teamarbeit geprägt ist von einer Haltung des einander Ergänzens, Respektierens und die Kompetenzen und Perspektiven der einzelnen zum Wohle des Kindes nebeneinanderstellen zu können.
  • Dass das Team sich für ein Bildungsdokumentationsmaterial entscheidet, welches folgende Aspekte beinhaltet:
  1. Unterstützung für die Fachkraft und keine Last;
  2. die eigene Kompetenz und Perspektive mit aufnimmt, sie hilft zu reflektieren und ggf. zu erweitern;
  3. dass Verlass auf das Ergebnis ist, das damit erzielt worden ist.
Die Frage, die sich anschließt, ist:
„Wie sieht kreative und partizipative Bildungsdokumentation aus?"

Beobachtung und Dokumentation in der Praxis

Gehen wir dieser Fragestellung mit Hilfe eines realen Fallbeispiels nach:


Finn, 4,7 Jahre, gerade selbst ein großer Bruder geworden, ist bei den Großen in der Kita ein beliebter Spielpartner. Besonders beim Fußball ist er klasse! Seit einiger Zeit gibt es aber immer wieder Krach und Tränen. Finn darf plötzlich nicht mehr mitspielen: „Der nervt und macht immer unser Spiel kaputt!“
Die Erzieherin ist erstaunt: „Ich dachte ihr seid Freunde und ein tolles Team.“ „Ja, aber der macht immer alles falsch und lacht dann noch so blöd! Der gehört nicht mehr zu unserer Bande!“
Ein weinender und wütender Finn steht neben der etwas hilflosen Erzieherin. Was ist plötzlich los?


Der Beobachtungsprozess im Alltag mit den Kindern ist ein stetiger Kreislauf aus:

Beachten beim Beobachten – Wahrnehmen – Aufnehmen – Bewerten – Hinterfragen – neu Erkennen – Reagieren – Interagieren – wieder Beachten beim Beobachten ...

Die Erzieherin fragt sich, was sich verändert hat. Aus ihrer Perspektive scheint es „plötzlich“ zu sein, aber vielleicht stellt sich für die beteiligten Kinder die Situation ganz anders dar? Die Erzieherin beschließt genauer hinzuschauen, was da bei den Jungs gerade passiert.

Sie hat die Hypothese, dass Finns auffälliges Verhalten im sozialen Bereich mit der Geburt des Geschwisterkindes zusammenhängt.

Fünf Schritte durch den Beobachtungsprozess:

1. Schritt: Beobachten
Die Erzieherin beobachtet gezielt und bewusst das Kind in unterschiedlichen Situationen und versetzt sich in die Situation des Kindes, d. h. sie sieht das Kind in und mit seinem Thema.
In unserem Fallbeispiel heißt das, Finn in der konkreten Interaktion mit den andern Kindern zu beobachten, wahrzunehmen und aufzunehmen, was genau geschieht. Wann kommt es genau zu Konflikten? Wie versucht das Kind, die Situation zu bewältigen? Und, ganz wichtig: die eigene Vermutung („das hat was mit dem Geschwisterkind zu tun" = „da ist wahrscheinlich die Lösung des Problems") in der Beobachtung hintenanzustellen und bewusst offen zu sein für das, was Finn zeigt.

2. Schritt: Hinterfragen, einschätzen
Wie bewerte ich, was ich dort sehe? Welche Ursachen vermute ich hinter dem Verhalten von Finn? Kann ich sein Verhalten (und das der anderen beteiligten Kinder) vielleicht anders verstehen? Wie erlebt meine Kollegin das Kind? Kommt sie zu ähnlichen oder zu ganz anderen Einschätzungen?
Dies bedeutet wertschätzend auf die Verhaltensweisen des Kindes und sein Bemühen, die Situation zu bewältigen, zu schauen.
Bei der anschließenden genauen Beobachtung von Finn stellt die Erzieherin fest, dass es immer dann zu Konflikten kommt, wenn Finn während des Spieles z. B. schnell die Sprossenwand erklimmen muss oder sich schnell auf die Schaukel, das Trapez ziehen muss. In der Bauecke wird es schwierig, wenn die letzten Feinabstimmungen am Bauwerk vorgenommen werden. Oft ist Finn dann der Auslöser für Totaleinstürze mit anschließenden Ärger- und Wutausbrüchen bei allen Beteiligten. Der FSJ-Praktikant Victor hat die Jungengruppe ebenfalls beobachtet. „Ich wäre auch sauer an Finns Stelle, und die anderen Jungs kann ich auch verstehen. Der Finn ist einfach zu langsam, dadurch verliert sein Team immer. Und Finn gibt sich solche Mühe! Aber er schafft es einfach nicht so schnell.“

3. Schritt: Perspektive des Kindes mit einbeziehen
Die Herausforderung ist hier, eine partizipative Haltung einzunehmen und das Kind mit seiner Wahrnehmung mit einzubeziehen. Bedeutet: das Kind zu fragen, wie es selber die Situation erlebt. So könnte die Erzieherin mit Finn darüber sprechen, was er gern können möchte. Was ist besonders blöd für ihn? Wie geht es ihm und wir erklärt er sich die Situation?
Hier findet sich die grundsätzliche partizipative Haltung der Erzieherin / der Kita im Umgang mit den Kindern wieder. Kinder, die im Alltag Mitbestimmung erleben, entwickeln die Fähigkeit der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit und sind damit in der Regel in der Lage, ihre Sicht der Dinge und ihre Gefühle einzuschätzen und zu äußern – d. h. Sie können sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und sie beantworten.
Das Team überlegt, wer zurzeit enge Beziehungen zu Finn hat. Es stellt fest, dass Finn sich oft an Victor orientiert. Die beiden führen einige Gespräche. Finn kann seine Enttäuschung gut in Worte fassen: „Ich will auch so schnell die Sprossenwand hochkönnen wie die anderen!“ Gut Fußball spielen zu können, ist für Finn kein wirklicher Trost und ihm auch keine Hilfe aus seiner Situation! Die Frage schließt sich an: „Was können wir gemeinsam tun, um diese Situation zu meistern?" Finn schlägt vor, zu üben, um so schnell zu werden wie die Großen.

4. Schritt: Die verschiedenen Schlussfolgerungen, Meinungen und Perspektiven zusammenzuführen – Einsatz des Bildungsdokumentationsmaterials
Die Erzieherin setzt sich mit ihren Kolleginnen zusammen. Gemeinsam besprechen sie die Erkenntnisse aus den Schritten 1 bis 3 und reflektieren und ergänzen mit dem Material zur Bildungsdokumentation die gewonnenen Erkenntnisse. Daraus entwickeln sie gemeinsam die Zielvereinbarungen für:
  • die individuelle Förderung des Kindes in der Einrichtung
  • die Grundlage für die weiteren Gespräche mit dem Kind
  • die Grundlage für weiteres Vorgehen im Team, in der Gruppe, in der Kita ...
  • die Grundlage für ein Elterngespräch
  • falls gewünscht – Grundlage für Gespräche mit weiteren Fachleuten
  • schriftliche Dokumentation dieser Erkenntnisse und Ergebnisse in dem Beobachtungsmaterial
Wesentlich ist in diesem Fall, dass die Erzieherin Abstand nehmen kann von ihrer Hypothese „Das hat etwas mit der Geschwistersituation zu tun" und die Perspektive des Praktikanten und auch Finns einnehmen kann. Ohne zu bewerten, wer vermeintlich „richtig“ oder „besser“ beobachtetet hat, sondern beide Perspektiven ohne Konkurrenzdenken nebeneinanderzustellen.

Diese Ziele werden im Gruppenteam getroffen:
  • Victor und Finn üben spielerisch Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Ausdauer.
  • Die Erzieherinnen behalten die Feinmotorik und die Wahrnehmung im Blick und sie begleiten / unterstützen Finn in Konfliktsituationen.
  • Das Thema „Freundschaft" beschäftigt zurzeit auch andere Kinder in der Gruppe. Das Team überlegt, dazu einen Stuhlkreis oder eine Kinderkonferenz abzuhalten, um mit den Kindern über ein mögliches Projekt zu diesem Thema zu sprechen.
  • Mit Finns Eltern wird ein Elterngespräch vereinbart. Ziel ist es, darüber zu sprechen, wie ihr Sohn die Situation erlebt, worunter er leidet und welche Ideen und Lösungsvorschläge er hat.

5. Schritt: Weiterer Umgang im Alltag
  • Neue Begegnung, Interaktion und Reaktion mit und auf das Kind
  • Miteinbeziehen des Kindes in seine Entwicklung durch die Angebote zur individuellen Förderung, miteinander spielen, sprechen, gemeinsam gezielte Lösungsmöglichkeiten entwickeln ...
  • Miteinbeziehen der Eltern

Noch einmal zurück zu Finn: In Absprache mit dem Team und Finn gibt es (während der Mittagsruhe der jüngeren Kinder) ein „Spezialtraining für mutige Kletterer“, in dem Finn und Victor gemeinsam üben. Für Finn eine wichtige Erfahrung auf mehreren Ebenen: Ich werde gesehen und gehört in meiner Not, ernstgenommen mit meinen Wünschen und auch Schwierigkeiten sowie die grundlegende Erfahrung, selbst dazu beitragen zu können, meine Situation aktiv zum Besseren zu wenden.

Die Basis für eine resiliente Persönlichkeit!
Gleichzeitig erlebt Finn bewusst, dass er noch kein Schulkind ist und mit Kindern seiner Altersgruppe (die sich im Laufe der Zeit anschließen) sehr wohl „mithalten“ kann. Es entstehen plötzlich neue Kontakte und der brennende Wunsch, ausschließlich mit den Großen zu spielen, schwächt sich ab.
Die Situation mit den Augen ihres Sohnes zu sehen, ermöglicht den Eltern während des Gespräches einen Perspektivenwechsel im Interesse ihres Kindes. Sie ziehen in Betracht, Finn einem Ergotherapeuten vorzustellen.

Jetzt beginnt ein neuer Beobachtungsprozess

Der Beobachtungsprozess und die Bildungsdokumentation so verstanden, wie bisher beschrieben, bilden eine wichtige und wesentliche Grundlage für:
  • einen wertschätzenden Umgang mit den uns anvertrauten Kindern
  • eine kompetente individuelle Unterstützung der Entwicklung jedes einzelnen Kindes
  • eine sichere Bindung, eine tragfähige Beziehung zwischen dem Kind und der Erzieherin und ein liebevolles Miteinander
  • eine kompetente pädagogische Arbeit
  • eine Zufriedenheit in der Arbeit
  • einen respektvollen Umgang im Team
  • Erziehungspartnerschaft mit den Eltern und Sorgeberechtigten

Für uns ist das der Inbegriff von kreativer und partizipativer Bildungsdokumentation.

Im Mittelpunkt steht das Kind, so wie es sich selbst und die Welt um sich herum erlebt, erfährt und zu einer selbstwirksamen, individuellen Persönlichkeit heranwächst.

Wir freuen uns, wenn Sie uns in diesem Ansatz zustimmen und Lust (bekommen) haben, Bildungsdokumentation unter diesen Aspekten und mit Hilfe dieser Schritte auszuprobieren. Wir wünschen Ihnen mit dieser Haltung und Art der Arbeit viele schöne, erkenntnisreiche, intensive, hilfreiche und beziehungsfördernde Momente mit den Ihnen anvertrauten Kindern.

Literatur

  • Backes, Sabine / Künkler, Nikola: Kompetent beobachten: Sehen – Verstehen – Handeln. Dokumentationsmappe mit Beobachtungsbögen und umfassendem Leitfaden zur Bildungsdokumentation. Für Kinder vom ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt. Herder, 2015
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus klein & groß 10-2107, S. 10-13




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