Annedore Prengel: "Es gilt Gemeinsamkeit herzustellen!"

lnklusion zwischen Gruppe, Individuum und Universalität


Was bedeutet Inklusion angesichts der Tatsache, dass Menschen auf Grund eines Merkmals einer Gruppe angehören und gleichzeitig sehr verschieden sind? Kann man wissen, wer man ist und wer man sein kann? Diese und viele andere Fragen beantwortet Professorin Annedore Prengel im Interview mit Barbara Leitner.

 
  • Wie definieren Sie Inklusion?

Zunächst bedeutet Inklusion, eine Institution für alle Kinder zu schaffen. Alle Kinder besuchen die Kita in ihrer Lebenswelt und in dieser Kita wird inklusiv gearbeitet. Das heißt auch, kein Kind wird getrennt und in einer Sondereinrichtung untergebracht.

  • Was unterscheidet Integration von Inklusion? Oder gibt es keinen Unterschied, weil nur Begriffe ausgetauscht wurden?

Es gibt verschiedene Deutungen des Begriffs »Integration«. Eine davon ist verbunden mit Chancengleichheit, Assimilation und Aufstiegschancen, wie sie während der Bildungsreform Mitte der 1970er Jahre in der BRD sowie zum Teil in der DDR-Pädagogik aktuell waren. Möglichst viele Kinder sollten gefördert werden, um ihnen einen Bildungserfolg zu bieten. Damals entstanden die Gesamtschulen, auf denen auch Arbeiterkinder und Mädchen zum Abitur kommen sollten. Dieser Integrationsbegriff hat immer noch seine Berechtigung. Nach wie vor gilt es, Kinder aus verschiedenen Schichten und Kulturen im Bildungswesen zu integrieren nach dem Motto »No child left behind«.

Eine andere Deutung des Integrationsbegriffs fokussiert auf ein gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, indem der Heterogenität der Kinder Raum gegeben wird. 1975 entstanden die ersten Kitas, die das erprobten. Ihrem Beispiel folgten bald weitere. Später setzten sich Eltern in entsprechenden Initiativen dafür ein, dass ihre Kinder zusammen von der Kita zur Schule wechselten und dort weiter zusammen lernen konnten. Da begannen auch Schulen, Kinder mit Behinderung in den Unterricht zu integrieren.

Dieses Verständnis von Integration ist weitgehend identisch mit dem, was wir heute unter Inklusion verstehen. Das wird manchmal vergessen und so schneidet sich die inklusive Pädagogik von ihrer eigenen Geschichte ab. Der Begriff »Inklusion« wurde durch die UN-Behindertenrechtskonvention bedeutsam. Er kritisiert auch Fehlentwicklungen der Integration. Es darf nicht übersehen werden, dass unter dem Vorwand, Kinder zu integrieren, immer wieder Einrichtungen geschaffen wurden und werden, in denen Kinder mit Behinderung intern ausgeschlossen sind. Das ist nicht das Ziel von Inklusion. Wenn die Zugehörigkeit aller bewusst gelebt wird, sind auch zeitweilige Trennungen zur Gruppenarbeit an bestimmten Schwerpunkten oder auf verschiedenen Niveaus kein Problem für inklusive Prozesse.

  • Ist in der Geschichte der inklusiven Pädagogik auch begründet, dass zuerst an Kinder mit Behinderung gedacht wird, wenn es um Inklusion geht?

Inklusion verlangt, der Heterogenität der Kinder in allen Heterogenitätsdimensionen gerecht zu werden. Da geht es um Behinderung oder keine, um Alter, Geschlecht, Kultur, sexuelle Orientierung usw. Dass oft zuerst an Kinder mit Behinderung gedacht wird, liegt an den Zielen des Bildungssystems der modernen Gesellschaft. Sie haben eine Qualifikationsfunktion und sollen Lernen und Leistung ausbilden. Kinder mit einem Förderschwerpunkt Lernen oder geistige Entwicklung können sich zum Teil nicht an Leistungsnormen orientieren, wenn diese starr vorgegeben sind. In diesem Sinn liegen heterogene kognitive Potentiale »quer« zum System. Deshalb ist es notwendig, über die systemische Bedeutung der Differenzlinie »Ability« (Fähigkeit) besonders nachzudenken und zu überlegen, welche anderen als kognitive Fähigkeiten diese Kinder einbringen. Das können sozialemotionale Fähigkeiten, musische, handwerkliche oder andere Fähigkeiten sein.

  • Auch jenseits von Behinderungen wird schnell mit einem Defizitblick auf Kinder geschaut, wird von Verzögerungen und Entwicklungsauffälligkeiten gesprochen. Ist das gerechtfertigt?

Das Herausfiltern von sogenannten »auffälligen« Kindern finde ich problematisch. Es gibt in der Frühpädagogik viele Tests, mit denen man Besonderheiten diagnostizieren will. Dieser Blick auf Defizite basiert auf der Annahme, die Mehrzahl der Kinder sei »normal« und denen könne man eine »normale« Pädagogik bieten. Jene Kinder jedoch, die von solcher Normalität abweichen, müssten frühzeitig entdeckt werden, um sie frühzeitig fördern zu können. Im Sinne von Inklusion ist eine solche Zweigruppentheorie nicht zutreffend, weil es solch eine einfache Einteilung nicht gibt. PädagogInnen sind gehalten, individuelle Bedürfnisse der Kinder, die sich auch ändern können und die in sich vielschichtig sind, zu beobachten und zu beantworten und jedes Kind in seiner individuell bestmöglichen Leistungsentwicklung zu unterstützen.

Inklusion kann sich beispielsweise auch auf die Reggio-PädagogikReggio-Pädagogik|||||Die Reggio-Pädagogik ist ein reformpädagogisches  Gesamtkonzept von Ideen und Praxisstrukturen, die seit den 1960 er Jahren in der Norditalienischen Stadt Reggionell`Emilia in Krippen und Kindergärten entwickelt wurde. Dem Konzept liegt ein humanistisches Menschenbild und eine demokratische Gesellschaftsvorstellung inne., die Montessori-PädagogikMontessori-Pädagogik|||||Montessoripädagogik wurde von Maria Montessori ab 1907 als pädagogisches Bildungskonzept vom Kleinkind bis zum jungen Heranwachsenden entwickelt. Leitspruch der Pädagogik ist "Hilf mir es selbst zu tun" und arbeitet mit offenem Unterricht und freien Verfügungsphasen, in dem der Lehrende dazu angehalten ist die Lernprozesse angemessen anzuregen.  oder den Situationsansatz stützen. Diese Konzepte zeigen, dass eine Kategorisierung der Kinder in auffällige und nicht auffällige in die Irre geht. Damit wird man den vielschichtigen, veränderlichen und darum unbestimmbaren individuellen Realitäten der Kinder nicht gerecht.

  • Sprechen Sie sich damit gegen Tests überhaupt aus?

Es kommt auf den Zweck der Tests an. Ein Test hilft vermutlich kaum weiter, wenn es ein Kind gerade schwer hat, nicht gut zurecht kommt und unter irgendetwas leidet und entsprechend anders agiert. Mit seinem Verhalten signalisiert es bereits, was es braucht. Es ist wichtig, diese Zeichen zu deuten, um dem Kind hilfreiche individuelle Unterstützung zu gewähren. Gleichzeitig ist es gewiss zur Klärung bestimmter Problem- und Lernausgangslagen nützlich, auch Tests einzusetzen. Aber diagnostische Verfahren dienen in der Inklusion nicht der Begründung einer institutionellen Separation. Inklusion bedeutet vor allem, sonderpädagogisches Fachwissen in inklusiven Einrichtungen zu den Kindern zu bringen und nicht, die Kinder zu sonderpädagogischen Angeboten in gesonderten Einrichtungen zu bringen.

  • Gibt es Grenzen der Inklusion, Kinder beispielsweise, bei denen Sie zustimmen würden, dass sie nicht inklusiv gebildet, erzogen und betreut werden können?

Für alle Kinder ohne Ausnahme können in einer gemeinsamen Kita bzw. Schule angemessene Vorkehrungen getroffen werden. Um in den Genuss bestimmter Therapien, sonderpädagogischer Maßnahmen, Rückzugsmöglichkeiten, temporärer Kleingruppenbetreuung oder in Krisensituationen auch 1:1-Betreuung zu kommen, müssen Kinder nicht eine besonders spezialisierte Schule oder Einrichtung besuchen. Alles, was pädagogisch angemessen ist, kann den Kindern problemlos in der gemeinsamen, inklusiven Kita und in der gemeinsamen, inklusiven Schule zur Verfügung gestellt werden. Um das zu realisieren, sollten die umfänglichen Ressourcen, die in Sondersystemen zur Verfügung stehen, in den inklusiven Einrichtungen und Schulen eingesetzt werden.

  • Sie würdigen die Kitas in unserem Land als Vorreiter für die Inklusion. Häufiger als in der Schule spielen und lernen Kinder mit und ohne Behinderung zusammen. Dennoch sagen Schätzungen, dass zwei Drittel der Kita-Kinder keinen Kontakt zu Behinderten haben. Was bedeutet das?

Separation bringt Nachteile für alle Kinder. Segregierende Systeme fassen Kinder mit angeblich gleichen oder ähnlichen Behinderungen zusammen und erlauben ihnen nur Kontakte untereinander. Gleichzeitig bleiben die »normalen« Kinder unter sich. Das ist in einer Demokratie widersinnig! In einem Alter, in dem die Kinder schnell und intensiv lernen, in dem sie offen füreinander und Vorurteile noch wenig ausgeprägt sind, wird ihnen die Gelegenheit geraubt, einander kennenzulernen. Das gemeinsame Aufwachsen enthält die Chance, dass sie gar nicht erst Ängste oder Abwehr gegen jemand anderes entwickeln, der anders ist als sie selbst. Der Gemeinsamkeit Verschiedener von Anfang an den Rahmen zu bieten, ist der große Vorzug der Inklusion.

  • Sind Kinder von sich heraus inklusiv?

In Beobachtungen wurde festgestellt, dass Kinder sehr offen und unvoreingenommen sein können, aber auch sehr harsch, ablehnend oder diskriminierend. Es ist die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte, in der Gruppe inklusive, vorurteilsbewusste Handlungsmaximen zu etablieren. Kinder lassen sich oft stark beeinflussen. In der Regel wird die Atmosphäre, die von Erwachsenen ausgeht, von den Kindern übernommen.

  • Meinen Sie: Wenn Erwachsene ausschließend sind, sind es Kinder auch?

Ja. Das ist so, wir konnten das immer wieder beobachten. Vielfach übernehmen Kinder das Verhalten, das von Erwachsenen ausgeht. Wobei ich auch in der Grundschule Beispiele kenne, bei dem Kinder das Fehlverhalten von Erwachsenen korrigierten. In einem Fall hatte ein Kind Nasenbluten. Die Lehrerin ignorierte das explizit. Die Klassenkameraden aber sorgten für den Mitschüler, steckten ihm heimlich Taschentücher zu und informierten anschließend die Schulleitung über das Verhalten der Lehrerin. Es gibt also auch Situationen, in denen Kinder vernünftiger sind als Erwachsene.

  • Was bedeutet Inklusion für eine Kita mit einem scheinbar sehr homogenen sozialen Umfeld?

Wenn zum Beispiel vier bis fünf Prozent der Kinder einer Wohngegend behindert sind, stellt sich die Frage, wo sind diese Kinder geblieben? Häufig wird übersehen, wie verschieden Kinder sind, obwohl sie oberflächlich betrachtet einer Herkunftsgruppe angehören. Die Idee von einer Homogenität täuscht über die bestehenden Unterschiede hinweg.

In der Genderpädagogik geht es zum Beispiel darum, die Kinder mit ihren Ideen und Wünschen im Hinblick auf ihre Geschlechtlichkeit zu akzeptieren, sie darin zu unterstützen und ihnen zu vermitteln, dass ihre Wünsche in Ordnung sind, solange sie auch die Wünsche anderer respektieren. Dabei gibt es sehr verschiedene geschlechterbezogene Ausdrucksweisen, gibt es so viele unterschiedliche Arten, seine Identität als Mädchen oder als Junge zu leben. Manche Kinder wollen gerade das Geschlechtstypische erleben. Andere wiederum ordnen sich dem zu, was üblicherweise dem anderen Geschlecht zugeschrieben wird. Ich schätze die Freiheit, mit der in der Kita mit Geschlechtersymboliken und Ausdrucksweisen experimentiert werden kann. ErzieherInnen begleiten die Kinder, wenn sie geschlechtstypische Klischees ausleben, wie z.B. dass sie typische Mädchen und Jungenfarben mögen oder mit typischem Spielzeug spielen, aber auch dann, wenn sie genau das Gegenteil realisieren. Das alles kann Teil der kindlichen Auseinandersetzung mit den Symbolsystemen unserer kulturellen Welten sein. Wichtig ist aus meiner Sicht vor allem, immer wieder die Gemeinsamkeit aller Kinder hervorzuheben und für alle gültige Regeln aufzustellen, z.B. Mädchen und Jungen gleichermaßen dazu aufzufordern aufzuräumen.

  • Eine Dimension von Inklusion ist auch die sexuelle Identität. Zwischen fünf und zehn Prozent der Menschen einer Gesellschaft haben eine homosexuelle Neigung. Was bedeutet das für die Kita?

Im Sinne der sexuellen Aufklärung sollen Kinder erfahren, dass es verschiedene Formen der sexuellen Orientierung gibt. In der Kita erleben die Kinder auch, dass manche der Gleichaltrigen z.B. aus den sogenannten Regenbogenfamilien mit zwei Müttern oder zwei Vätern stammen. Gleichzeitig gibt es aus der Frauenbewegung und –forschung den Ansatz der De-Thematisierung. Dabei geht es darum, die Aufmerksamkeit nicht auf Geschlechterdifferenzen zu richten, sondern Gemeinsamkeiten zu betonen. Das ist wichtig auch für dieses Thema. Die sozialen Bewegungen, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Formen von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität richten, werden das gegenwärtig nicht schätzen. Ich meine jedoch, wir sollten auch anerkennen, dass Kinder existenzielle Bedürfnisse haben, die einander sehr ähnlich sind, so dass eine Perspektive entsteht, in der die Betonung von Unterschieden verblasst.

  • Inklusion verlangt den Einzelnen anzuerkennen und dessen Beziehung zur Gruppe zu sehen. Stimmt das?

Die Anerkennung der Einzelperson und die Anerkennung universeller Gemeinsamkeiten sind zwei Perspektiven, die weitgehend unumstritten sind. Umstritten sind kollektive Zugehörigkeiten, weil sie sehr leicht mit Klischees, Etikettierungen und Festlegungen verbunden sein können. Ein Konzept, das kollektive Differenzen aufgreift und in pädagogischen Konzepten sinnvoll verwendet wird, ist nicht einfach und dennoch unverzichtbar. Der Soziologe Sighard Neckel sagt, wir brauchen solche kollektiven Kategorisierungen, um uns orientieren zu können. Das Problem ist, wie wir darüber sprechen, dass Kinder verschiedenen Gruppierungen, und zwar auch verschiedenen Gruppierungen gleichzeitig, angehören. Mit diesem Thema beschäftigt sich Intersektionalitätstheorie. Ein Kind kann Mädchen oder Junge sein, als Mädchen gern mit Mädchen oder Jungen spielen oder diese oder jene Kleidung oder Frisur tragen, sich so oder so im Spiel verhalten. Gleichzeitig haben Kinder unterschiedliche Herkunft. Sie können verschiedenen Religionen angehören ... ... oder keiner. Sie können zu den Kleinen oder Großen gehören. Auch das Alter spielt eine große Rolle.

  • Wie kann inklusive Pädagogik unter dem Vorzeichen dieser vielen Verschiedenheiten gestaltet werden?

Zunächst ist wichtig, allen Kindern gleiche Rechte zu gewähren. Die kollektiven Zugehörigkeiten dürfen nicht starr verstanden werden. Jeder Gruppe gehören so unterschiedliche Kinder an, die man bei genauem Hinsehen auch entdeckt. Es bedarf einer sehr guten Beobachtung, um zu erkennen, wie verschieden Kinder sind, wenn jedes einzigartig sein darf. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle dazu gehören und nicht Zuschreibungen verwenden.

  • Was meinen Sie damit?

Anzuerkennen, dass es keine eindeutigen Zugehörigkeiten gibt. Das entdecke ich in meiner Lebensphase. Ich bin über 70. Ich muss erkennen und anerkennen, dass ich alt bin. Gleichzeitig frage ich mich immer wieder, was es bedeutet. Ich bin alt und zugleich auch ein Mensch, wie alle anderen. Einerseits geht es darum, die Gruppenzugehörigkeit – bei mir zu einer Altersgruppe – und die damit verbundenen Lebenserfahrungen nicht zu verleugnen. Es ist manchmal schmerzlich zu wissen, dass ich nicht »alles« sein kann, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von den Erfahrungen anderer Gruppen ausgeschlossen bin. Das ist vermutlich eine sehr existenzielle Erfahrung, die jeder Mensch macht. Andererseits kann ich erkennen, dass eine Zuschreibung wie eine Zurichtung funktioniert. Sie blendet Möglichkeiten aus. Wenn ich mich selbst darauf festlege, dass ich alt bin, ich dies und das nicht kann, übersehe ich vielleicht, wo diese Einschränkung gar nicht stimmt. Vielleicht existiert sie aber doch. Ich bewege mich also immer zwischen meinen Gruppenzuschreibungen und den Möglichkeiten, sie zu überschreiten. Man könnte nicht einfach die Kategorie »alt« abschaffen. Menschen werden alt. Gleichzeitig ist diese soziale Realität nie vollständig zu begreifen, sondern sie ist in sich unendlich heterogen, veränderlich und immer interpretationsabhängig.

In einer Kita, in der Kinder aus so verschiedenen Gruppen zusammenkommen, muss die Anerkennung aller gewährleistet sein: Alle Menschen haben die gleiche Menschenwürde und sie sind in ihrer Individualität anzuerkennen. Es gilt Gemeinsamkeit herzustellen. Offen bleibt, was Gruppenzugehörigkeiten jeweils bedeuten. Damit kann man experimentieren und Erfahrungen machen. Das macht den Kitaalltag spannend.

  • Das schließt ein anzuerkennen, dass man nicht alles sein oder haben kann ...

Es gibt Kinder in der Kita, die mit vier Jahren lesen können und sehr schnell lernen. Ein anderes Kind mag neidisch darauf sein, weil es das auch gern können würde. Oder: Ein Kind rennt schnell. Ein anderes ist langsam. Es sind existenzielle Herausforderungen, sich mit dem Neid und dem Kummer darüber auseinanderzusetzen. Die pädagogischen Fachkräfte haben die Aufgabe, Kinder bei diesen emotionalen Erfahrungen zu begleiten, sie zu trösten und jedes Kind mit der individuellen und existenziellen Frage zu konfrontieren: »Was kannst du und was ist dein nächster Schritt?« Durch die pädagogische Beziehung kann in dem Kind etwas freigesetzt werden, damit es sich weiterentwickeln kann. Kummer ist dabei nicht zu vermeiden. Selbst das kompetenteste oder schnellste Kind wird solchen Kummer durchleiden. Der italienische Arzt, Psychoanalytiker und Integrationspädagoge Adriano Milani Comparetti hat vor Jahrzehnten die Frage der Trauerarbeit für Eltern von Kindern mit Behinderung diskutiert. Trauerarbeit ist, so meine ich, eine Aufgabe für jeden Menschen. Unter dem Gesichtspunkt der Inklusion heißt der Auftrag, für jedes Kind zu erkunden, was sein Beitrag für die Gemeinschaft ist und diesen zu ermöglichen und anzuerkennen.

Der Beitrag eines schwerstbehinderten Kindes kann sein, den anderen zu erlauben, besonders zärtlich zu sein oder Mimik lesen zu lernen, weil es sich auf diese Weise mitteilt. Das finde ich einen sehr interessanten hierarchiekritischen Blickwinkel für jede Pädagogik, gleich welchem Alter sie sich zuwendet. Vor allem die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva und der französische Sonderpädagoge Charles Gardou regen dazu an, jedem zu gewähren, seinen ureigensten Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten.

  • Ist dieser Ansatz für die Kita nicht zu philosophisch?

Ich habe sehr spielerische Möglichkeiten gesehen, diese Idee in der Kita zu leben. Eine meiner Freundinnen, Dörthe van der Voort, war Kitaleiterin. Sie traf diese Ebene durch Kreisspiele. Montagsmorgen spielte sie mit den Gruppen z.B. Häschen in der Grube. Jedes Kind, das einmal Häschen sein wollte, konnte Häschen sein und bekam besondere Anerkennung mit dem Satz: »Armes Häschen bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst.« – nämlich »Du hast Kummer« oder »Du bist unendlich müde«. Die Gruppe erlebt das mit, gleichzeitig bleibt das Geschehen implizit, d.h. im Medium des Spiels. Es muss nichts explizit gemacht oder aufgedeckt werden. Und dann kommt die Ermutigung: »Häschen hüpf«. Durch solche Kreisspiele können die Kinder sehr existenzielle Themen auf eine ihnen gemäße Weise artikulieren. Von Friedrich Fröbel sind etliche Singspiele überliefert, z.B. »Das Taubenhaus«, in dem es um das Hinausgehen und Zurückkommen geht. Es lohnt sich, solche Schätze zu nutzen, um Zugehörigkeit und Freiheit im Sinne der Inklusion zu leben.

Medientipps

Mehr über die Haltung von Adriano Milani Comparetti im Dialog erfahren Sie in einem Beitrag von Betrifft KINDER aus dem Jahre 2012: http://www.verlagdasnetz.de/zeitschrift/betrifft-kinder/betrifft-kinder-2012/bk-08-09-2012/664-mit-kindern-im-dialog.html

Von der Psychoanalytikerin und Autorin Julia Kristeva erschien bei Suhrkamp/Insel das Buch »Fremde sind wir uns selbst«, in dem sie eigene innere Anteil als Grund für die Abwehr beschreibt.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus Betrifft Kinder 06-07/2017, S. 18-21




Verwandte Themen und Schlagworte