Einstellungen von Pädagogischen Fachkräften zur Inklusion (Review)

Seit der im Jahr 2009 ratifiziertratifiziert|||||Die Ratifikation, auch Ratifizierung ist eine verbindliche Erklärung des Abschlusses eines Vertrages durch  Vertragsparteien.en UN-Behindertenrechtskonvention steht auch Deutschland in der Pflicht, ein inklusives Bildungssystem zu verwirklichen. Inklusion versteht sich dabei als ein Konzept zur Überwindung von Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund individueller (z.B. körperlicher), sozialer, kultureller oder religiöser Merkmale und setzt auf die Ressourcen jedes einzelnen Kindes. In einem Schwerpunktthema zur Integration beleuchtet „Frühe Bildung“ (Heft 4-2016) die Frage, welche Alltagstheorien es über Inklusion in den Kitas gibt und wie die Einstellung frühpädagogischer Fachkräfte zur inklusiven Bildung erhoben werden kann.

Noch nicht vollzogener Paradigmenwechsel

Im Editorial konstatieren Silvia Wiedebusch und Timm Albers schon, dass die Ablösung einer integrativen durch eine inklusive Betreuung „in den Kitas jedoch erst in einem zögerlichen und allmählichen Prozess“ (ebd. S. 185) erfolgt – und zwar „nicht zuletzt, weil verbindliche Regelungen zur Umsetzung der Inklusion in Kitas in den Landesbetreuungsgesetzen noch fehlen.“ (ebd.) Sie verweisen auch darauf, dass die Umsetzung inklusiver Settings auch für die Forschung zahlreiche neue Fragen aufwirft – von Peer-Kontakten in inklusiven Settings über die tatsächliche Realisierung der Teilhabe aller bis zur Personal- und Organisationsentwicklung und der Kooperation in interprofessionellen Teams. Bisher lägen zu diesem Forschungsfeld erst im geringen Umfang Studien vor. Es werde deutlich, „dass zukünftig deutlich mehr Forschungsaufwand initiiert und betrieben werden sollte, um den Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion in Kindertageseinrichtungen empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. zu begleiten und somit zum Gelingen einer Pädagogik der Vielfalt beizutragen.“ (ebd. S. 186)


Im ersten Schwerpunktbeitrag beleuchten Helen Knauf und Stephanie Graffe die „Alltagstheorien über Inklusion“, genauer: die Sicht pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen auf die Inklusion. Mit Blick auf die Bildungs- und Orientierungspläne der Länder stellen sie zunächst fest, dass in diesen der Begriff der Inklusion nur selten verwendet wird – insbesondere, weil der Begriff erst nach dem Entstehen der meisten Bildungspläne zum Leitbegriff wurde. Verankert seien in den Bildungs- und Orientierungsplänen aber der Ansatz der „Individuellen Förderung“ und der Umgang mit Vielfalt und Heterogenität (vgl. ebd. S. 187).

Inklusion nur ein Synonym für Integration?

Den AutorInnen zufolge erweist sich die Umsetzung von Inklusion in KiTas und Schulen aus verschiedenen Gründen als schwierig: So würden sich viele PädagogInnen nicht ausreichend darauf vorbereitet fühlen und vielfach würden auch die institutionellen Rahmenbedingungen als problematisch angesehen. Grundsätzlich zeige die Analyse von Barrieren aber auch, „dass die Umsetzung von Inklusion neben den genannten äußeren Faktoren ganz wesentlich von den Einstellungen der pädagogischen Fachkräfte gegenüber Inklusion abhängt“ (ebd. S. 188)

Diesen Einstellungen ist die vorgestellt Studie nun näher auf den Grund gegangen und hat „das alltägliche Handeln der pädagogischen Fachkräfte und die diesen zugrunde liegenden Auffassungen“ (ebd.) untersucht. In den Blick genommen wurden damit „Alltagstheorien“ als „‘Gebrauchsanweisungen‘ für die Bewältigung des Lebensalltags“ (ebd.) Während in wissenschaftlichen Theorien eine strikte Trennung von Wissen und Meinen angestrebt werden, vermischten sich in Alltagstheorien Wissensbestände, Erfahrungen, mediale Einflüsse, Sozialisation und Überzeugungen zu festen Konstruktionen.

Für die Studie wurden 145 Fachkräfte in Wiesbadener KiTas befragt, davon gehörten 80 zum Stammpersonal und 65 zu den sogenannten „Mobilen Diensten“, die bei der Eingliederung für Kinder mit oder von Behinderungen bedrohte Kinder unterstützen. Im Kern der Befragung stand die Beschreibung „einer von den Befragten als inklusiv erlebten Situation aus dem pädagogischen Alltag“ (ebd. S. 190).

In der nach den Prinzipien der Grounded Theory erfolgten Auswertung kristallisierten sich für die ForscherInnen vier verschiedene Alltagstheorien heraus:

1. Inklusion ist, wenn alle Kinder Teil der Gemeinschaft sind
In dieser Alltagstheorie bedeutet Inklusion für die befragten Fachkräfte, „dass Kinder untereinander in Kontakt kommen, sich füreinander interessieren und miteinander spielen“ (ebd. S. 191). Diese Alltagstheorie ist bei den Stammkräften mit 41% und bei den Integrationskräften mit 55% vertreten. Im Mittelpunkt stehen hier Kinder mit Beeinträchtigungen und „in den Narrationen wiederholt sich häufig das Grundmuster eines durch sein Anderssein außerhalb oder am Rande der Gruppe stehenden Kindes, das in einer besonderen Situation Teil der Gruppe wird (ebd. S. 191). Inklusion findet hier primär auf der Ebene der Kinder statt: „Inklusion gelingt dann, wenn Kinder mit abweichendem Verhalten oder Beeinträchtigungen von anderen Kindern wahrgenommen, respektiert und in alltägliche Situationen einbezogen werden (ebd. S. 192).

2. Inklusion ist das Überwinden von Hürden
In der zweiten Alltagstheorie steht das einzelne Kind mit seinen Entwicklungsfortschritten im Mittelpunkt und als gelungene Inklusion wird der „Erwerb einer bestimmten Fähigkeit, das Meistern einer Herausforderung oder sichtbare Lernfortschritte“ (ebd.) angesehen. Das trifft auf 44% des Stammpersonals und auf 31% der Integrationskräfte zu. Inklusion bedeutet in dieser Alltagstheorie auch, „dass Kinder mit bestimmten Beeinträchtigungen Regeln lernen und sich dadurch (besser) in die Gemeinschaft einfügen“ (ebd.).

3. Inklusion ist der Abbau von Hürden
In dieser Sichtweise ist Inklusion „das Wahrnehmen von Hürden und deren Beseitigung. Wesentlich ist dabei das Infragestellen von Gewohnheiten und tradierten Vorgehensweisen“ (ebd. S. 193). Diese genuin inklusive Vorgehensweise wird aber nur von neun Befragten geschildert.

4. Inklusion ist, wenn alle Erwachsenen zum Wohl der Kinder zusammenarbeiten
In dieser Alltagstheorie „liegt der Fokus auf der Zusammenarbeit der beteiligten Erwachsenen, die aus ihren unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Expertisen miteinander ins Gespräch kommen und so bestmögliche Rahmenbedingungen für Kinder schaffen (ebd.). Als Gelingensbedingung für Inklusion zeigt sich hier das reflektierte gemeinsame Vorgehen, das „an einem Strang ziehen“. Diese Einstellung wird in sechs Beschreibungen von Pädagogischen Fachkräften deutlich.

Im Resümee stellen die AutorInnen aufgrund ihrer Studienergebnisse fünf zugespitzte Thesen zu den Alltagstheorien von Inklusion auf:

1. Inklusion bezieht sich auf Behinderung
Die Alltagstheorien zu Inklusion beziehen sich zu 80% nur auf die Heterogenitätsdimension Behinderung und das gilt sowohl für die Stammkräfte wie die Integrationskräfte in den befragten Kitas.

2. Der Fokus der Inklusion liegt auf einzelnen Kindern
Den in der Studie zutage tretenden Alltagstheorien liegt „nahezu ausnahmslos der Fokus auf ein einzelnes Kind zugrunde, das in irgendeiner Form anders ist. Stets geht es darum, wie es gelingt, dass dieses andersartige Kind Teil der Gruppe wird“ (ebd. S. 194). Da diese Ansicht elementar für den Ansatz der Integration ist, stellt sich Inklusion aus dieser Perspektive als ein Synonym für eben diese dar.

3. Die Kindergruppe wird als wesentliche Ressource für Inklusion angesehen
In dieser Alltagstheorie sorgt die Kindergruppe für die Aufnahme eines „andersartigen“ Kindes und trägt so zu dessen „Entpathologisierung“ bei. Die Kindergruppe ist dabei „nicht das Ziel der pädagogischen Bemühungen, sondern ein Instrument, ein Mittel, das der Unterstützung des einzelnen (= des ‚I-Kindes‘) Kindes dienen soll. (ebd.)

4. Inklusion wird als Überwinden von Barrieren und nicht als Abbau von Barrieren gesehen
Eine inklusive Arbeit besteht für die befragten Fachkräfte mehrheitlich darin, „einzelnen Kindern beim Überwinden von Barrieren zu helfen“ (ebd.) – von Barrieren in der Leistungsfähigkeit oder auch für die Interaktion mit anderen Kindern. Letztlich, so die AutorInnen, sei damit eine defizitorientierte Sicht auf Kinder verknüpft.

5. Fachkräfte sehen sich als Begleiter und Moderatoren
Die Pädagogische Fachkräfte rekurrieren stark auf die Ressourcen der Kindergruppe und sehen sich selbst „eher im Hintergrund: Sie moderieren Prozesse, bauen Brücken zwischen den Kindern und unterstützen einzelne in ihrer Entwicklung“ (ebd.). Darüber hinaus wird aber auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Einrichtung als wichtige Ressource gesehen.

Fazit
In der Gesamtschau zeigt sich Inklusion in der Studie „im Wesentlichen als neues, zeitgemäßes Synonym für Integration“. Damit stehen die Alltagstheorien der befragten Pädagogischen Fachkräfte zwar im Widerspruch zum vorherrschenden wissenschaftlichen Diskurs über Inklusion, sind „aber weitgehend im Einklang mit den politisch-strukturellen Vorgaben. Die AutorInnen schlussfolgern: „Soll Inklusion demgegenüber mehr sein als eine modernisierte behindertenzentrierte Integration, bedarf es deutlicher Nachjustierungen auf der politischen Ebene – sowohl auf der Ebene struktureller Rahmenbedingungen als auch auf der Ebene einer diversitätsaffinen Kultur.“ (ebd. S. 195)

Einstellungen zur Inklusion erheben und Ergebnisse nutzen

Im zweiten Schwerpunktbeitrag zur Inklusion in Frühe Bildung 4-2016 stellen Anne Lohmann, Silvia Wiedebusch, Gregor Hensen und Marian Mahat ein Instrument zur Erhebung der Einstellung frühpädagogischer Fachkräfte zu Inklusiver Bildung vor. In ihrer Einführung konstatieren sie, dass „die Implementation Inklusiver Bildung im vorschulischen Bereich noch ganz am Anfang [steht]“ (ebd. S. 199). Weder die organisatorischen noch die gesetzlichen Strukturen böten derzeit einen angemessenen Rahmen dafür.

Auch dieses AutorInnenteam hebt hervor, dass „positive Einstellungen frühpädagogischer Fachkräfte als ein relevanter Gelingensfaktor bei der Implementation von inklusiver Bildung im vorschulischen Bereich identifiziert [wurden].“ (ebd.) Doch bisher liege kein deutschsprachiges standardisiertes Instrument zur Erhebung dieser Einstellungen vor – und so haben die ForscherInnen jetzt die englischsprachige „Multidimensional Attitudes toward Inclusive Education Scale (MATPIES)“ mit ihren 18 Items und einer sechsstufigen Ratingskala adaptiert. Erprobt wurde die deutsche Version im Rahmen einer Fragebogenerhebung bei Fachkräften in Kindertageseinrichtungen in Stadt und Landkreis Osnabrück (s. hier: Ist die Inklusion schon in den KiTas angekommen? (Review)) Die Itemanalyse und Reliabilitätswerte der adaptierten MATPIES-Version erwiesen sich dabei als genügend trennscharf und dem Original entsprechend. Die Pilotstudie untermauerte bisherige Befunde, „dass die Einstellung zu Inklusiver Bildung in Abhängigkeit von einschlägigen Erfahrungen und Kompetenzen unterschiedlich ausgeprägt ist.“ (ebd. S. 203). So hatten die befragten Fachkräfte mit einer heilpädagogischen Ausbildung eine positivere Einstellung zur Inklusion als Fachkräfte mit einer pädagogischen Ausbildung.

Einschränkend erwähnen die AutorInnen, dass MATPIES nur die „Einstellung zu Inklusiver Bildung von Kindern mit Förder- und Unterstützungsbedarfen, die aus Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten, chronischen Erkrankungen oder Behinderungen resultieren, erfasst“ (ebd.) und keine weiteren familiären, sozialen oder kulturellen Bedingungen, unter denen ein Kind aufwächst.

Dennoch könne die adaptierte MATPIES-Version in mehrfacher Hinsicht in der frühpädagogischen Praxis Anwendung finden, nämlich für Teamentwicklungsprozesse, im Hinblick auf die Inhalte von Fort- und Weiterbildungen, für die Evaluation von Fort- und Weiterbildungen sowie auch für die Personalentwicklung (vgl. ebd. S. 204).


Zur Ausgabe 4-2016 von Frühe Bildung (kostenpflichtig)