Chancen für Jungen!

Wie werden Kinder zu Jungen und welche Rolle spielt dabei die Kita? Brauchen sie Männer in Kitas, und wenn ja, wofür? Empirische Daten und entwicklungspsychologische Erklärungen machen deutlich, dass Pädagogik mit Jungen bereits in der Kita geschlechterbewusste Perspektiven braucht. „Rezepte“ für einen richtigen Umgang mit Jungen gibt es dabei nicht – wohl aber Anregungen, durch die Kitas insgesamt sich als Bildungseinrichtung weiterentwickeln können.

„Jungen werden nicht zu Jungen erzogen, sie sind von Natur aus so!“ Diese Aussage einer Erzieherin aus einem Projekt zur Jungenförderung in der Kita steht in bemerkenswertem Kontrast zu einem Schlüsselsatz aus der Mädchenarbeit vor einigen Jahrzehnten. „Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht!“, lautete 1977 der Titel des Klassikers zur Mädchensozialisation von Ursula Scheu – ein Satz, der auch heute noch (oder wieder) durchaus aktuell ist angesichts der „Pinkifizierung“ heutiger Mädchenwelten und der Suche nach „Germany’s next Topmodel“ im Kindergarten. Gleichwohl scheint auch der Satz über Jungen seine Berechtigung zu haben. Jedenfalls sind es nicht pädagogische Fachkräfte, die Jungs zu kleinen Machos heranziehen wollen; vielmehr scheitern sie nicht selten in ihren Bemühungen, stereotypen Verhaltensweisen entgegenzuwirken.

Allerdings passen die beiden Sätze nicht so recht zusammen. Es kann ja eigentlich schon logisch nicht zutreffen, dass Jungen mehr durch „die Natur“ geprägt sind, Mädchen dagegen durch die Gesellschaft. Nur scheinen Jungen tatsächlich erzieherischen Bemühungen weniger zugänglich zu sein. Sie sind tendenziell unruhiger, stören mehr in der Gruppe und später im Schulunterricht, und in ihrer Freizeit sind viele Jungen mehr an „action“ oder an Computerspielen interessiert als daran, ein gutes Buch zu lesen. Was den Bildungserfolg angeht, haben die Mädchen in den letzten Jahrzehnten nicht nur aufgeholt, sondern die Jungen überholt – zumindest im Durchschnitt. Was ist mit den Jungen los?


Ein Blick zurück

In den 1980er Jahren wurden Geschlechterfragen meist als Frauenfragen verstanden, und die Beschäftigung damit zielte auf einen Abbau von Benachteiligungen und die Förderung von Mädchen. Auch in Kitas hinterließen Feminismus und die sich im Bereich der Jugendarbeit entwickelnde Mädchenarbeit hier und da Spuren. Zwar gab es nur selten Projekte zur gezielten Arbeit mit Mädchen, aber Chancengleichheit und die Förderung eines Miteinanders von Mädchen und Jungen wurden zu selbstverständlichen Grundlagen der pädagogischen Arbeit. Mit „Prinzessin Pfiffigunde“ und anderen Bilderbüchern gelangten neue Bilder von starken Mädchen auch in die Kindergruppen.

Ein anderer Blick auf Jungen entwickelte sich zunächst nur in Fachkreisen. Dies änderte sich 1990, als Dieter Schnack und Rainer Neutzling ihr Buch „Kleine Helden in Not“ veröffentlichten und schon mit dem Titel darauf hinwiesen, dass die Lebenslagen von Jungen keineswegs so einfach und vorteilhaft sind wie bis dahin oft angenommen wurde. Seitdem hat sich die Diskussion über Jungen, ihre Bedürfnisse und ihre Probleme in viele Richtungen weiterentwickelt. Das Thema wurde und wird in Wissenschaft, Bildungseinrichtungen und Politik aufgegriffen und oft kontrovers diskutiert.

Im Bereich der schulischen Bildung haben die durch die PISA-StudiePISA-Studie||||| In der PISA- Studie der OECD werden alle drei Jahre seit 2000 in den Mitgliedsstaaten der OECD die alltags- und berufsrelevanten Fähigkeiten von 15- Jährigen durch Testfragen gemessen. Die mittelmäßigen bis schlechten Ergebnisse 2001 in Deutschland führten dazu, dass vielfach von einem PISA-Schock geredet wurde.  n offensichtlich gewordenen Geschlechterunterschiede in Schulleistungen Aufmerksamkeit erzeugt und dazu geführt, dass Geschlechterdifferenzen im Schulsystem und beim Schulerfolg heute breit diskutiert werden (vgl. Aktionsrat Bildung 2009). Dabei kommt es immer wieder zu Dramatisierungen. So werden Jungen pauschal als „Bildungsverlierer“ bezeichnet (Hurrelmann & Schultz 2012). Auf der anderen Seite wird eine generelle Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem bestritten und auf fortbestehende Benachteiligungen von Frauen in der Berufswelt und auch im Bildungssystem verwiesen (Rieske 2011).

Tatsächlich ist es notwendig, genauer hinzuschauen. Der durchschnittliche Bildungserfolg von Jungen im Schulsystem ist heute geringer als der von Mädchen (siehe Kasten). Aus solchen Daten lässt sich allerdings nicht ableiten, dass Jungen generell im Bildungssystem benachteiligt werden. Es gibt sowohl Jungen mit guten Noten als auch Mädchen mit Schulproblemen. Dass Problemanzeigen dennoch mehr Jungen betreffen, wird in der aktuellen Forschung als „Passungsproblem“ begriffen. Typische und oft als „normal“ angesehene Verhaltensstile von Jungen passen nicht zu Erwartungen, die der Kontext des Schulalltags an Kinder stellt. Diefenbach (2012) spitzt zu: „Das heißt, ‘jungentypisches‘ Verhalten in der Schule ist nachteilig, und zwar auch dann, wenn Lehrkräfte ebendieses Verhalten von Jungen erwarten“ (S. 121).


Die Datenlage: Sind Jungen in der Schule benachteiligt?

Vor vierzig Jahren – als der Anteil an Gymnasiasten insgesamt weit geringer war als heute – erreichten Jungen deutlich bessere Schulabschlüsse als Mädchen. Heute ist es umgekehrt. Diefenbach (2012) fasst ihre umfangreichen Analysen dahingehend zusammen, „dass anhand aller gängiger Maße für Schulerfolg erhebliche Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen bestehen“ (S. 117). So verließen im Jahre 2015 6,5 Prozent der männlichen Schüler, aber nur 4,5 Prozent der weiblichen Schülerinnen die Schule ohne Abschluss; 19,9 Prozent der männlichen Schüler, aber nur 14,5 Prozent der weiblichen Schülerinnen erreichten einen Hauptschulabschluss. Umgekehrt erreichten 36,8 Prozent der weiblichen Schülerinnen, aber nur 29,3 Prozent der männlichen Schüler die Hochschulreife (Statistisches Bundesamt 2016, Tabelle 6.1). Diese Geschlechterdifferenzen haben sich im letzten Jahrzehnt nur wenig verändert.

Genauere Analysen zeigen, dass Schulschwierigkeiten nicht alle Jungen gleichermaßen, sondern häufiger Jungen mit Migrationshintergrund und aus unteren sozialen Schichten betreffen. Bemerkenswert ist auch, dass – anders als im Jugendalter – die im Kontext von PISA viel diskutierten Geschlechterdifferenzen in den Lesekompetenzen am Ende der Grundschulzeit gering sind (Bos et al. 2012a, S. 15). Jungen erzielen dagegen deutlich bessere Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Bos et al. 2012b, 22).

Die Ergebnisse aus Schulleistungsstudien verweisen darüber hinaus „auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Bereich der fachbezogenen Einstellungen und Selbstkonzepte“ (Aktionsrat Bildung 2015, S. 68). Während Jungen im Durchschnitt ein größeres Interesse und Selbstbewusstsein in Mathematik haben, ist es im Bereich des Lesens umgekehrt. Beim Leseverhalten sind die Geschlechterdifferenzen allerdings im letzten Jahrzehnt zurückgegangen, vielleicht als Erfolg von Leseprogrammen, die in der Folge der ersten internationalen Vergleichsstudien initiiert wurden (ebd., S. 69; vgl. Bos et al. 2012a, 2012b).

Deutliche Geschlechterunterschiede gibt es im Grundschulalter allerdings nach wie vor im Bereich sozialer Kompetenzen sowie des Lern- und Arbeitsverhaltens. Während Mädchen sowohl in der Selbst- als auch in der Eltern- und Lehrereinschätzung tendenziell als sozial kompetenter gesehen werden, erscheinen Jungen als durchsetzungsfähiger. In Bezug auf das Lern- und Arbeitsverhalten schneiden Mädchen positiver ab, was vermutlich dazu beiträgt, dass sie häufiger eine Gymnasialempfehlung erhalten als Jungen.



Wie werden Jungen zu Männern?

Fragen geschlechtsbezogener Entwicklung werden nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Nicht zu bestreiten ist zunächst, dass es offensichtliche (und für Kinder sehr interessante) körperliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Unterschiede gibt es auch in der hormonellen und neuronalen Entwicklung. Die aktuelle Gehirnforschung betont jedoch die Plastizität des Gehirns, das sich durch die Erfahrungen, die es macht, fortwährend verändert (Eliot 2010). Jungen sind also nicht durch ihre Biologie gesteuert: geschlechtsbezogene Entwicklung ist in vieler Hinsicht ein Lernprozess.

Bemerkenswert ist allerdings ein gewisser Reifungs- bzw. Entwicklungsvorsprung der Mädchen, der bereits in den ersten Lebensjahren festzustellen ist und beim früheren Eintreten in die Pubertät unübersehbar wird. Er beträgt dann bis ins frühere Erwachsenenalter hinein etwa ein bis zwei Jahre. Jungen wiederum sind von Geburt an labiler und krankheitsanfälliger als Mädchen. Dies gilt für die ganz überwiegende Mehrzahl der Entwicklungsstörungen, Behinderungen, Krankheiten und auch für psychosoziale Auffälligkeiten im Kindesalter. Insbesondere in den ersten sechs Lebensjahren sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen dennoch insgesamt eher gering. Individuelle Unterschiede fallen weit größer aus als der durchschnittliche Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Bereits in den ersten Lebensjahren entdecken Kinder Geschlechterunterschiede, setzen sich mit Vorgaben der Umwelt auseinander und beginnen ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln. Im Alter von zwei bis vier Jahren verstehen sie, dass sich die eigene Geschlechtszugehörigkeit nicht mehr ändern lässt. Sie lernen, was ihr Umfeld für „männlich“ und für „weiblich“ hält, und beziehen dies zunehmend auch auf sich selbst. Im Vorschulalter identifizieren sich viele Kinder zunehmend mit der eigenen Geschlechtsgruppe und stellen sich aktiv als „Mädchen” oder als „Junge” dar. Spiele, Spielzeug, Kleidung, selbst Farben werden den Geschlechtern zugeordnet, und was nicht zum eigenen Geschlecht passt, wird rigide abgelehnt. Dies schließt nicht aus, dass manche Kinder sich ausdrücklich geschlechtsuntypisch verhalten oder auch gar nicht für Geschlechterunterschiede interessieren. Viele Kinder sind noch nicht festgelegt, orientieren sich an anderen oder probieren sich in vielfältiger Weise aus (Rohrmann & Wanzeck-Sielert 2014).

Wenn Kinder unter sich sind, bevorzugen sie ab dem Vorschulalter oft gleichgeschlechtliche Spielpartner und Freunde. Insbesondere beste Freunde bzw. Freundinnen sind oft gleichen Geschlechts. Diese Tendenz verstärkt sich bis zum Ende der Grundschulzeit, bis es manchmal den Anschein hat, als ob die Geschlechter in zwei getrennten Welten leben (Rohrmann 2008). Herrmann (2015) hat derartige Prozesse differenziert untersucht. Sie stellt fest: „Aufgrund ähnlicher Interessen, Verhaltensweisen und Kommunikationsstrategien fällt es Kindern des gleichen Geschlechts (...) leichter, ein gemeinsames Thema zu finden. Geschlechtsgemischte Kindergruppen scheitern dabei häufiger, weil kein gemeinsames Spielthema zustande kommt“ (S. 205).

Die Erfahrungen in den Gruppen gleichgeschlechtlicher Kinder haben große Bedeutung für die Entwicklung der (geschlechtlichen) Identität. Obwohl es auch viele Begegnungen zwischen den Geschlechtern gibt, unterscheiden sich die Formen des Miteinanders, die Mädchen und Jungen unter sich entwickeln, manchmal erheblich. Dies ist nicht nur für das soziale Miteinander von Bedeutung, sondern wirkt sich auch entscheidend – und insbesondere für Jungen manchmal nicht positiv – auf das Selbstkonzept und den späteren Umgang mit Lernen und Leistung in der Schule aus. Geschlechtsbezogene Gruppenprozesse sollten daher genau beobachtet werden. Einseitige Orientierungen, die in reinen Jungen- bzw. Mädchengruppen auffallen, sprechen dafür, das Spiel in geschlechtsgemischten Gruppen zu fördern.

Brauchen Jungen Männer – und wenn ja, wofür?

Darüber hinaus werden Probleme von Jungen mit dem Überwiegen von Frauen im Bereich der Erziehung und Bildung von Kindern in Verbindung gebracht und davon ausgehend mehr Männer in Kitas und Grundschulen gefordert (Hurrelmann & Schultz 2012). Während im Bereich der Grundschule der Anteil männlicher Lehrkräfte in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen ist, steigt im Bereich der Kindertagesstätten der – geringe – Anteil männlicher Fachkräfte seit Jahren langsam, aber kontinuierlich an. In immer mehr Kitas sind Männer heute selbstverständliche Realität: Über 25.000 männliche Fachkräfte arbeiten heute in deutschen Kitas und stellen damit circa fünf Prozent des pädagogischen Personals (Statistisches Bundesamt 2015). Spielt das für Kinder aber wirklich so eine große Rolle?

Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Erzieherinnen und Mädchen bessere Beziehungen zueinander entwickeln als Erzieherinnen und Jungen. Bereits in der Krippe treten sichere Bindungsbeziehungen häufiger zwischen Erzieherinnen und Mädchen auf (vgl. Ahnert 2010). Dies setzt sich im Kindergartenalter fort und wirkt sich auf den Kompetenzerwerb von Mädchen und Jungen aus. So wird in der NUBBEK-Studie, der aktuell umfassendsten Kita-Studie in Deutschland, festgestellt: „Erzieherinnen berichten häufiger von einer höheren Beziehungsqualität zu Mädchen (...). Kinder mit einer hohen Erzieherin-Kind-Beziehungsqualität zeigten die höchsten Werte im rezeptiven Wortschatz in Deutsch, in den Kommunikationsfertigkeiten (...) und den sozial-emotionalen Kompetenzen sowie die niedrigsten Werte im Problemverhalten“ (Mayer et al. 2014, S. 812 f.). Bemerkenswerterweise scheinen besonders Jungen von einer hohen Qualität der Beziehung zur Erzieherin zu profitieren – wenn sie diese denn haben (ebd., S. 813). Für die Bindungssicherheit der Erzieherinnen-Kind-Bindung und die Beziehungsqualität sind zudem Prozesse in der Kindergruppe von zentraler Bedeutung. Hier schließt sich ein Kreis, denn viele pädagogische Fachkräfte tun sich gerade mit Jungengruppen schwer, insbesondere wenn diese wilder und chaotischer spielen (vgl. Ahnert 2010).

Bedeutet dies nun, dass Jungen bessere Bindungen und Beziehungen zu pädagogischen Fachkräften entwickeln würden, wenn es mehr Männer in Kitas gäbe? Für diese auf den ersten Blick vielleicht naheliegende Vermutung gibt es bislang kaum Belege. In den letzten Jahren haben Studien aber erste Hinweise auf eine besondere Bedeutung von männlichen Pädagogen für Jungen im Vorschulalter ergeben. So stellte die Dresdner Tandemstudie zwar fest, dass sich männliche Fachkräfte hinsichtlich fachlicher Standards in der Art und Weise der Interaktion mit Kindern nicht unterscheiden. Es „zeigen sich aber Unterschiede (...) hinsichtlich deren Neigung, was sie mit den Kindern tun und welche Interessen und Neigungen von Jungen und Mädchen sie bevorzugt aufgreifen“ (Brandes, Andrä, Röseler & Schneider-Andrich 2015, S. 31). Besondere Bedeutung haben dabei gleichgeschlechtliche Fachkraft-Kind-Dyaden. Die Innsbrucker Wirkungsstudie (Aigner et al. 2013) wiederum stellte bei Videobeobachtungen fest, dass manche Jungen besonders enge Beziehungen zu männlichen Fachkräften entwickelten.

Die Bedeutung männlicher Fachkräfte für Jungen hängt unter anderem mit Unterschieden zwischen Frauen und Männern beim Umgang mit „riskantem“ Spiel zusammen, das vielen Kindern Spaß macht und zudem wichtige Lernerfahrungen ermöglicht. Männliche Kita-Fachkräfte sind eher bereit, selbst Risiken einzugehen, und gehen entspannter mit riskantem Verhalten von Kindern um, wie u.a. norwegische Studien von Sandseter (2013) ergeben haben. Dazu gehört auch das „Raufen und Toben“, das bei Jungen deutlich häufiger zu beobachten ist als bei Mädchen – und an dem sich Männer (sowohl Väter als auch männliche Pädagogen) deutlich häufiger beteiligen.

Es kann also durchaus sein, dass männliche Fachkräfte neue Impulse in den Kita-Alltag bringen, und dass sie damit gerade für Jungen interessant sind. Allerdings gibt es auch deutliche Skepsis bezüglich des Rufes nach Männern als „Lösung“ für die Nöte von Jungen (vgl. Rose & Stibane 2013). So lässt sich nicht selten beobachten, dass es in gemischten Teams zu einer Verstärkung geschlechtstypischer Muster kommt – etwas platt formuliert: die Männer spielen mit den Jungs Fußball, während die Frauen mit den Kindern basteln. Entscheidend ist daher, inwieweit männliche und weibliche Fachkräfte ihr eigenes geschlechtsbezogenes Verhalten gegenüber Mädchen und Jungen im Team reflektieren. Damit wird eine geschlechterbewusste Pädagogik zum Schlüssel für die Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit in Kitas.




Geschlechterbewusste Pädagogik: Alles gender oder was?


Als Sammelbegriff für alle mit Geschlechtsunterschieden verbundene Eigenschaften, Verhaltensweisen, sozialen Konstrukte usw., die nicht biologisch vorgegeben sind, hat auch im deutschen Sprachraum der englische Begriff „gender“ Verbreitung gefunden. „Gender“ bezeichnet in der englischen Sprache zunächst das grammatikalische Geschlecht. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird der Begriff dazu verwendet, soziale und psychologische Zuschreibungen an das Geschlecht von der biologischen Geschlechtszugehörigkeit zu unterscheiden. Die Verwendung dieses Begriffs stößt in manchen, insbesondere konservativen Kreisen zuweilen auf Kritik und wird als Synonym für Geschlechtertheorien verstanden, die die Bedeutung natürlicher Geschlechterunterschiede gänzlich in Frage stellen.

Aus der Fachdiskussion ist der „gender“-Begriff dagegen heute nicht mehr wegzudenken. Dabei ist aber nicht ein bestimmtes Verständnis des Begriffs festgeschrieben. Oft wird er recht pauschal für alle Geschlechterthemen verwendet – z.B. wenn Fachkräfte aufgefordert werden, die „Gender-Perspektive“ zu berücksichtigen, ohne dass damit eine bestimmte theoretische Konzeption verbunden ist. Daher ist es immer wieder erforderlich, sich über die Definition und die Verwendung von Begriffen zur Geschlechterthematik zu verständigen.



Kinder sind Jungen und Mädchen, und Fachkräfte sind Frauen und Männer – nicht nur dann, wenn „Gender“ auf der Tagesordnung steht (siehe Kasten). Geschlechterbewusste Pädagogik ist daher eine Querschnittsaufgabe, die im gesamten Alltag und in allen Bildungsbereichen von Bedeutung sein kann. Es geht dabei nicht in erster Linie darum, noch ein zusätzliches Thema zu den ohnehin zahlreichen Anforderungen an Fachkräfte hinzuzufügen. Vielmehr ist geschlechterbewusste Pädagogik eine Möglichkeit, den gesamten Alltag mit Mädchen und Jungen einmal aus neuer Perspektive zu sehen:

Haben Jungen und Mädchen die gleichen Möglichkeiten und Chancen – und wenn ja, nutzen sie sie auch?

Lassen sich Stärken und Schwächen von Kindern oder auch alltägliche Konfliktsituationen besser verstehen, wenn sie vor dem Hintergrund geschlechtsbezogener Entwicklung betrachtet werden?

Lassen sich Bildungsangebote vielfältiger und ansprechender gestalten, wenn typische Themen und Interessen von Jungen und Mädchen in allen Bereichen gezielt aufgegriffen werden?

Zwei Jahrzehnte kontroverser Diskussionen über Jungen- und Mädchenförderung haben dabei zuweilen zu Missverständnissen geführt. So wurde Mädchen- und Jungenarbeit zunächst in der Jugendarbeit als Arbeit von Frauen mit Mädchen bzw. Männern mit Jungen entwickelt. Das bedeutet aber nicht, dass geschlechterbezogene Pädagogik erfordert, Mädchen und Jungen zu trennen, auch wenn das manchmal sinnvoll sein kann. Es ist gleichermaßen Aufgabe geschlechterbewusste Pädagogik, Jungen und Mädchen miteinander in Dialog zu bringen – und dabei sowohl Geschlechterfragen Raum zu geben als auch bewusst zu erleben, dass Geschlechterunterschiede oft keine Rolle spielen (siehe Kasten).

Geschlechterbewusste Pädagogik bedeutet auch nicht, spezielle Angebote, Methoden und Inhalte nur für Jungen oder nur für Mädchen zu entwickeln. Eher geht es um eine Reflexion des Kita-Alltags, von Materialien oder pädagogischen Angeboten aus Geschlechterperspektive: Wie nutzen Mädchen und Jungen die Räume und Spielbereiche der Kita? Greifen Angebote die Themen auf, die Jungen und Mädchen wirklich auf den Nägeln brennen? Sprechen Arbeitsformen und Materialien beide Geschlechter gleichermaßen an oder bedienen sie eher geschlechtstypische Tendenzen von Mädchen? Wie werden Jungen und Mädchen in Bilderbüchern dargestellt, wie Männer und Frauen? Und bedienen männliche Fachkräfte vor allem geschlechtstypische Interessen von Jungen, oder bereichert die Zusammenarbeit von Frauen und Männern alle Menschen in der Kita?

Ausgangspunkt geschlechterbewusster Pädagogik ist daher ein genauer Blick auf die individuellen Themen und Lebenserfahrungen von Jungen und Mädchen – und ein wohlwollend-kritischer Blick auf sich selbst. Ziel ist dabei immer eine Erweiterung von Verhaltensoptionen für beide Geschlechter.

Ansatzpunkte für geschlechterbewusste Pädagogik


Geschlecht entdramatisieren
Oft entwickeln sich geschlechterstereotype Tendenzen unbemerkt und ungewollt. Es ist daher wichtig, gezielt Angebote zu entwickeln und Materialien bereitzustellen, die für Jungen und Mädchen gleichermaßen interessant sind und bei denen Geschlechterunterschiede keine Rolle spielen.

Das Miteinander von Jungen und Mädchen fördern
Insbesondere wenn Mädchen und Jungen sich sehr voneinander abgrenzen oder ständig in Streit geraten, benötigen sie auch gute Erfahrungen miteinander – z. B. Gespräche, in denen sie offen über ihre Konflikte miteinander sprechen können, oder spannende Herausforderungen, die sich nur gemeinsam meistern lassen.

Mit und nicht gegen die Gruppen arbeiten
Jungen brauchen ihre Freunde und Jungengruppen! Daher ist es sinnvoll, auch herausfordernde Gruppen gemeinsam anzusprechen, z. B. ihnen gezielt Aufgaben und Verantwortung zu übertragen, anstatt generell vermeintlich „schwierige“ Jungen voneinander zu trennen.

An den Themen von Jungen und Mädchen ansetzen
Auffälliges Verhalten von Jungen kann als Anzeichen dafür verstanden werden, dass wichtige Themen von Jungen im Alltag zu wenig wahrgenommen werden. Wenn Jungen erleben, dass sich Erwachsene für ihre alltäglichen Konflikte, für „scheußliches“ Spielzeug oder die „verdummenden“ Computerspiele interessieren, sind sie meist sehr bereit, sich zu öffnen.

„Alternative Fäden“ in die Gespräche und Geschichten der Kinder weben
Geschlechtstypische Aktivitäten und Interessen von Jungen wie von Mädchen können manchmal schwer erträglich sein. Dafür Interesse zu zeigen bedeutet nicht, alles kommentarlos hinzunehmen, was Kinder erzählen. Durch überraschende Fragen und zugleich kritische wie respektvolle Rückmeldungen lassen sich Dialoge mit Kindern beginnen und neue Perspektiven entwickeln – auch auf aktuelle Spielzeugwelten, Medienerfahrungen oder Modetrends.

Geschlechtsgetrennte Angebote gezielt planen und durchführen
In bestimmten Situationen und für bestimmte Themen ist es sinnvoll und wichtig, die Geschlechter situativ oder auch regelmäßig zu trennen, z. B. wenn es um sensible Themen wie Körper und Sexualität geht oder darum, einmal ungefiltert aussprechen zu können, was man (frau) über das andere Geschlecht denkt. Vor allem im Grundschulalter werden geschlechtsgetrennte Arbeitsformen von Kindern gern angenommen.

Männer und Frauen als Ansprechpersonen bereitstellen
Jungen und Mädchen brauchen Frauen und Männer. Damit ist nicht ein „Vorzeigemann“ gemeint, der sich um „die Jungen“ kümmern soll. Vielmehr brauchen Kinder unterschiedliche Männer und Frauen, die ihnen vielfältige Wege des Mann- und Frau-Seins vorleben und offene Ohren für ihre geschlechtsbezogenen Anfragen haben.

Fazit: Was brauchen Jungen?

Was brauchen Jungen nun in Kindertageseinrichtungen? Sie brauchen so Unterschiedliches, wie sie selbst unterschiedlich sind. „Rezepte“ für einen richtigen Umgang mit Jungen gibt es daher nicht. Nicht alle Jungen mögen Fußball und wilde Spiele, auch wenn dies vielen Jungen – und Mädchen – Spaß macht. Nicht alle Jungen benötigen Nachhilfe im Sozialverhalten, auch wenn es immer wieder Jungen gibt, die stören oder mit aggressivem Verhalten auf sich aufmerksam machen. Was Jungen brauchen sind Erwachsene, die genau hinschauen; die sich in Jungen hineinversetzen, aber auch klar Position beziehen; die Jungen herausfordern, aber auch mal in Ruhe lassen. Und sie brauchen Frauen und Männer, die selbst dialogfähig sind und sich für ein konstruktives Miteinander der Geschlechter einsetzen.


Literatur

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  • Aktionsrat Bildung / vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hg.) (2009): Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem. Berlin, München.
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  • Bos, W., Tarelli, I.; Bremerich-Vos, A., Schwippert, K. (Hrsg.) (2012): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster.
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  • Brandes, H., Andrä, M., Röseler, W., Schneider-Andrich, P. (2015): Spielt das Geschlecht eine Rolle? Erziehungsverhalten männlicher und weiblicher Fachkräfte in Kindertagesstätten. Kurzfassung der Ergebnisse der „Tandem-Studie“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin, Rostock.
  • Diefenbach, H. (2012): Jungen und schulische Bildung. In: Matzner, M., Tischner, W. (Hrsg.): Handbuch Jungen-Pädagogik. 2. Aufl. S. 109-126. Weinheim.
  • Eliot, L. (2010): Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen. Berlin.
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  • Rieske, T. V. (2011): Bildung von Geschlecht. Zur Diskussion um Jungenbenachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen. Hrsg.: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Frankfurt.
  • Rohrmann, T., Wanzeck-Sielert, C. (2014): Jungen und Mädchen in der Kita. Körper, Gender, Sexualität. Stuttgart.
  • Rohrmann, T. (2008): Zwei Welten? Geschlechtertrennung in der Kindheit: Forschung und Praxis im Dialog. Opladen.
  • Rose, L., Stibane, F. (2013): Männliche Fachkräfte und Väter in Kitas. Eine Analyse der Debatte und Projektpraxis. In: WiFFWiFF|||||WiFF ist ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V. Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutschland mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. Expertisen Nr. 35. München.
  • Scheu, U. (1977): Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft. Frankfurt am Main.
  • Schnack, D., Neutzling, R. (2011): Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. 3. überarb. Neuausgabe. Reinbek. Original 1990.
  • Statistisches Bundesamt (2015): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  am 1.3.2015. Wiesbaden.
  • Statistisches Bundesamt. Statistik der allgemeinbildenden Schulen 2014/2015 https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/Schulen/AllgemeinbildendeSchulen2110100157004.pdf?__blob=publicationFile (Abruf 11.6.2015).


Der Artikel ist die aktualisierte und erweiterte Fassung des Beitrages „Chancen für Jungen! – Geschlechterbewusste Pädagogik. Empirische Daten und entwicklungspsychologische Erklärungen“, veröffentlicht in: Katechetische Blätter, 140. Jg., Heft 5, September/Oktober 2015, S. 319-327.
Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 04-2016, S. 6 - 13




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