Optimistische Schulkinder haben nur vorübergehend die Nase vorn

Ergebnisse langfristiger Studie zum Zusammenhang zwischen Selbsteinschätzung und Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern in der Grundschule


„Trau Dir ruhig mehr zu“: Diesen Satz haben bestimmt schon viele Schülerinnen und Schüler gehört. Eltern und Lehrkräfte wollen den Kindern damit Sicherheit vermitteln und sie ermutigen, die eigene Leistungsfähigkeit höher einzuschätzen. Eine solche Selbsteinschätzung nennt die Forschung positives oder optimistisches Fähigkeitsselbstkonzept. Es gilt auch in vielen pädagogisch-psychologischen Fachveröffentlichungen als wünschenswert, weil es zu größerer Motivation und zu mehr Durchhaltevermögen führen soll. An langfristigen empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Forschungsarbeiten zu den Auswirkungen optimistischer Selbsteinschätzungen von Schulkindern auf ihre tatsächlichen Leistungen mangelte es bislang jedoch. Für das Fach Mathematik hat eine neue Studie aus dem Projekt „Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern“ (PERLE) diesen Zusammenhang jetzt bei fast 1.000 Schülerinnen und Schülern über die gesamte Grundschulzeit hinweg untersucht. Die nun veröffentlichten Ergebnisse relativieren die Forderung nach mehr Optimismus auf der Schulbank etwas: „Einen positiven Effekt optimistischer Fähigkeitsselbstkonzepte auf die Leistungen in Mathematik konnten wir nur im ersten Schuljahr feststellen“, so Dr. Anna-Katharina Praetorius vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), die Erstautorin des nun zu der Untersuchung veröffentlichten wissenschaftlichen Fachbeitrags.


Die Bildungsforscherin hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von der Bergischen Universität Wuppertal (Professorin Dr. Claudia Kastens) und vom DIPF (Professor Dr. Johannes Hartig) sowie dem Leiter des PERLE-Projekts von der Universität Kassel, Professor Dr. Frank Lipowsky, Daten von insgesamt 964 Schülerinnen und Schülern aus 42 Klassen in 25 Grundschulen in Sachsen, Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ausgewertet. Die Schulkinder wurden von der ersten bis zur vierten Klasse untersucht. Zu fünf Messzeitpunkten erfassten die Forscherinnen und Forscher zeitgleich die mathematischen Fähigkeitsselbstkonzepte der Kinder und deren Leistungen in dem Fach. Sie errechneten dann, inwieweit die Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten von den tatsächlich gezeigten Leistungen abwichen – ob sie also optimistisch, realistisch oder pessimistisch ausfielen. Anschließend analysierten sie, wie sich die Leistungen und diese Selbsteinschätzungen im wechselseitigen Verhältnis zueinander über mehrere Messezeitpunkte hinweg entwickeln. Nur zu den zwei ersten Messzeitpunkten am Anfang und am Ende des ersten Schuljahres zeigten sich dabei der beschriebene positive Einfluss eines optimistischen Selbstkonzepts sowie ein negativer Effekt einer pessimistischen Selbsteinschätzung auf die darauffolgenden Leistungen.

Das Forschungsteam nennt mögliche Erklärungsansätze: Der Glaube in die eigenen Fähigkeiten könnte in den ersten Monaten der Schulzeit in der Tat zu mehr Ausdauer beim Bearbeiten von Aufgaben und zu einer regen Teilnahme am Unterricht sowie in Folge dessen zu besseren Leistungen führen. Längerfristig scheint jedoch der umgekehrte Effekt einflussreicher zu sein, wie Praetorius erläutert: „Über die gesamte Grundschulzeit hinweg beeinflussen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, in welchem Ausmaß sie sich anschließend über- oder unterschätzen. Dieser Effekt scheint im Lauf der Zeit sogar stärker zu werden.“ Der Grund hierfür könnte eine häufig anzutreffende Beurteilungspraxis der Lehrkräfte sein: Sie bewerten oft im klasseninternen Vergleich und geben guten Schülerinnen und Schülern regelmäßig positives Feedback, während Schulkinder mit schwächeren Leistungen negative Rückmeldungen erhalten. Da die Kinder nur schwer genau einschätzen können, wie gut oder wie schlecht ihre Leistungen objektiv ausgefallen sind, neigen gute Schülerinnen und Schüler aufgrund der positiven Rückmeldung dazu, sich selbst zu überschätzen, schlechte hingegen dazu, ihre Leistungen zu unterschätzen.

Für die pädagogische Praxis ergeben sich aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen zumindest Hinweise auf die Bedeutung des Fähigkeitsselbstkonzeptes. Dr. Praetorius legt dar: „Eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten ist zu Beginn der Grundschulzeit nicht besorgniserregend, sondern offenbar sogar hilfreich. Handlungsbedarf bestünde in dieser Phase eher bei einer pessimistischen Selbsteinschätzung.“ Für weiterführende Schlussfolgerungen wären allerdings zusätzliche Analysen notwendig, um die Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung von Fähigkeitsselbstkonzept und Leistungen näher zu ergründen.

Die Studie ist jetzt in der Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie erschienen: http://econtent.hogrefe.com/doi/abs/10.1026/0049-8637/a000140


Das langfristig angelegte Forschungsprojekt PERLE wurde von der Universität Kassel gemeinsam mit der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und dem DIPF durchgeführt. Leiter ist Professor Dr. Frank Lipowsky. Die für die aktuelle Studie untersuchten Daten stammen aus dem Projekt. Nähere Informationen: http://www.uni-kassel.de/go/perle


Quelle: Presseinfo DIPF