Responsivität: Antworten und sich abstimmen

Klärung des Begriffs und Praxisbeispiele

Seit über drei Jahrzehnten liegt eine Fülle von Forschungsergebnissen vor, die sowohl im familiären Bereich als auch im Bereich Pädagogik und Therapie die Responsivität der Bezugspersonen als den eigentlichen Wirkfaktor für Entwicklungs- und Bildungsprozesse bei Kindern bis drei Jahren erachten (Bornstein 2002, H. Papoušek & M. Papoušek 1987, Eshel u. a. 2006, Remsperger 2011, Gutknecht 2012, Sarimski 2012). Als Bezugspersonen gelten dabei auch die pädagogischen Fachkräfte in einer Kinderkrippe oder Kita. Responsivität kann mit »Antwortlichkeit« oder »Antwortverhalten« übersetzt werden, häufig wird eine Bedeutung im Sinne von »sich auf jemanden abstimmen« zugewiesen.

Im aktuellen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  der Frühpädagogik wird meist ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich um einen Begriff aus der Bindungsforschung handelt. Dabei ist Responsivität ein zentraler Begriff auch in der Demokratieforschung, in Kunst, Architektur, Robotik und Medizin sowie in Pädagogik, Psychologie und Philosophie. Responsivität kann sich auf Personen in jedem Lebensalter, aber auch auf Gruppen, Systeme und Organisationen beziehen. Immer steht im Mittelpunkt, wie gut eine Abstimmung gelingt: Wie gut stimmt sich die Mutter auf ihr Kind ab, der Politiker auf seine Wähler, der Künstler auf sein Publikum, ein Gesundheitssystem auf seine Adressaten?

Responsivität in der Bindungstheorie

Im Sinne der Bindungstheorie wird Responsivität oft gleichgesetzt mit Feinfühligkeit. Unter einem feinfühligen und damit responsiven Verhalten wird verstanden, dass eine Bezugsperson, in der Regel die Mutter,

1. die Signale des Kindes richtig erkennt,
2. angemessen interpretiert und
3. prompt und feinfühlig beantworten
kann (Ainsworth 1978/2008).

Dort, wo Feinfühligkeit und Responsivität nicht synonym verwendet werden, sind die beiden Begriffe oft miteinander verbunden: Die rasche und prompte Reaktion auf das Kind wird dann als responsiv bezeichnet und durch das Beiwort »sensitiv« oder »feinfühlig« ergänzt, um die Qualität der Antwort herauszustellen: feinfühlige Responsivität. Regina Remsperger, deren Arbeiten eine klare Bezugnahme auf die Bindungsforschung aufweisen, spricht denn auch von »Sensitiver Responsivität«.

Sensitive Responsivität

Regina Remsperger untersuchte in einer Video-Studie im Rahmen ihrer Dissertation das pädagogische Antwortverhalten in der Erzieherinnen-Kind-Interaktion auf der Grundlage von Ainsworth’s (1978) Feinfühligkeits-Konzept. Die Forderung nach Sensitiver Responsivität der Fachkraft bezieht sich in diesem Ansatz ausschließlich auf die Fachkraft-Kind-Beziehung, nicht auf die Fachkraft-Eltern- oder auf die Teambeziehungen.

Remsperger entwickelte ihr Konzept zur Sensitiven Responsivität in einem mehrschrittigen Analyseprozess. Sie zeigt, wie sich der Grad der pädagogischen Feinfühligkeit im Verlauf einzelner Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern verändert. Ihre Darstellung, insbesondere der Wechselwirkungen im Interaktionsgeschehen, verdeutlicht, wie das Verhalten der Fachkräfte auch durch die Kinder selbst beeinflusst werden kann. Zu den übergeordneten Komponenten Sensitiver Responsivität zählen hier die Promptheit der Reaktion auf das Kind, das Eingehen und Dabei-Sein, der Umgang mit Stimmungen/Emotionen, das Zeigen von Wertschätzung/Loben, die Stimulation, das Spiegeln und Fragen.

Jede dieser Komponenten besteht aus weiteren beschreibenden Unterkategorien. Wenn also Sensitive Responsivität heißt, dass die Erzieherin »Dabei- Sein« zeigen soll, so ist dies zum Beispiel daran abzulesen, dass sie Aufmerksamkeit und Interesse zeigt, darauf achtet, dass die Kinder etwas verstehen, dass sie Freude/Begeisterung/Spaß mit den Kindern teilt und Themen mit eigenem Lebensweltbezug einbringt. Indikatoren fehlender Responsivität sind zum Beispiel: gehetzt und ungeduldig sein; abwesend, gleichgültig und desinteressiert wirken.

Auf der Basis ihrer Untersuchung und ihrer Definition kommt Remsperger zum Ergebnis, dass sich Sensitive Responsivität sowohl unabhängig vom Erziehertyp als auch unabhängig von der Art der pädagogischen Situation gestaltet (Remsperger 2011). Im letzten Punkt, aber auch in anderen, unterscheidet sich dieses Konzept von dem der Professionellen Responsivität nach Gutknecht (2010, 2012).

Professionelle Responsivität

In Gutknechts Konzept zur Professionellen Responsivität von Fachkräften wird responsive Abstimmung nicht nur bezogen auf das Kind, sondern auch auf die Eltern und das Team als notwendig erachtet, da auch die Interaktion der Fachpersonen mit den Eltern und die Interaktion im Team Auswirkungen auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder haben (Clarke-Stewart & Allhusen 2005).

Professionelle Responsivität in der Fachkraft -Kind-Interaktion wird definiert als der reflexive und kultursensitive Einsatz der intuitiv-didaktischen Verhaltensweisen, wie sie von Hanus und Mechthild Papoušek (1987) beschrieben worden sind. Die responsive Fachkraft zeigt ein hohes Maß an Wärme, Humor und Freundlichkeit. Sie spiegelt den kindlichen Emotionsausdruck, aber auch die kindlichen Bewegungen und Lautierungen. Sie hilft dem Kind, zu alltäglichen Handlungen wie Waschen, Essen oder Spazierengehen sogenannte Scripts aufzubauen, die Drehbücher des Alltags. Vielfach werden von ihr musikalische Miniaturen und einfache Lieder eingesetzt, um die emotionale Spannungslage des Kleinkinds zu regulieren, denn das Singen eignet sich zur Spannungsmodulation, zur Abfederung von Stress.
Für die unterschiedlichen Situationen in Krippe und Kita muss ein spezialisiertes Fachwissen vorhanden sein, um sich in professioneller Weise auf das Gegenüber abstimmen zu können (Gutknecht 2012). So erfordert beispielsweise Abstimmung am Bildungsort Mahlzeit andere Verhaltensweisen als in Erzählsituationen:

  • Responsivität beim Füttern ist abzulesen an einem angemessenen Füttertempo, am Einsetzen von Unterstützungsstrategien wie der Zwei-Löffel-Technik, an der bewussten Gestaltung der sinnlichen Ess-Umgebung, aber auch am Vermeiden von bewegungseinschränkenden Maßnahmen wie Lätzchenfixierung, Fixierung am Stuhl, Einklemmen des Arms.
  • Responsivität beim gemeinsamen Erzählen zeigt sich im Übernehmen konkreter, unterstützender Kommunikationsjobs (Quasthoff u. a. 2011).

Die Pädagogin nutzt das sogenannte Scaffolding, die sprachlichen Gerüstbautechniken, um die Möglichkeiten des Kindes in der Zone der nächsten Entwicklung durch Modellieren und Ergänzen zu erweitern und zu stimulieren. Sie dramatisiert, um zu verdeutlichen, sie lässt Pausen, um den Erzählraum zu öffnen.

Eine große Bedeutung haben die Abstimmungsprozesse, die im Kontext einer Pädagogik der Vielfalt notwendig sind. Das Antwortverhalten von Fachkräften bezieht sich auf Kinder mit unterschiedlichen kulturellen oder subkulturellen Hintergründen, auf Kinder mit Behinderungen, auf Kinder mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau und Kinder unterschiedlichen Geschlechts.

Die folgenden Beispiele zeigen unterschiedliche Anforderungen an Abstimmung:


Beispiel 1: Wenn die Sprache fehlt, mit Gebärden kommunizieren

Silas (2,8 Jahre) ist in seiner Sprach- und Spielentwicklung stark verzögert. Die Responsivität seiner Bezugserzieherin zeigt sich darin, dass sie, weil eine allein verbalsprachliche Begegnung nicht möglich ist, mit der gebärdenunterstützten Kommunikation (Wilken 2011) arbeitet, um Silas mehr Teilhabe zu ermöglichen.

Beispiel 2: Einen somatischen Dialog führen

Bei Julian (2,5 Jahre, er hat eine Spastik) muss ein abgestimmtes »Handling« umgesetzt werden. Als »Handling« werden die Bewegungen und Berührungen beim Tragen, Füttern und Wickeln, beim An- und Auskleiden, Waschen und Baden des Kindes bezeichnet. Julians Bezugserzieherin muss sich in responsiver Weise auf einen somatischen Dialog mit ihm einlassen und ein Gespür für seinen Körpertonus entwickeln.

Beispiel 3: Einen fremden kulturellen Hintergrund beachten

Für viele Eltern mit Migrationshintergrund sind Werte wie Familienzusammenhalt und Gemeinschaft von größter Bedeutung, sie erziehen verbundenheitsorientiert. In einer Industrienation wie Deutschland dominiert dagegen bei vielen Eltern die Orientierung an Erziehungswerten wie Autonomie und Individualität (Borke & Keller 2014). Diese Orientierungen haben Einfluss auf viele Alltagshandlungen in der Kita. Kinder sollen sich dort allein anziehen, auf den Wickeltisch klettern, sich die Suppe selbst schöpfen. Responsive Fachkräfte kommunizieren den Stil, der in der Einrichtung gepflegt wird, um Irritationen und Fehleinschätzungen zu vermeiden. Sonst können Eltern mit Migrationshintergrund die Orientierung an Selbstständigkeit schlicht für Lieblosigkeit halten, für eine Verweigerung von Zuwendung.

Fazit

Der Begriff Responsivität wird in zahlreichen Bereichen im Sinne von »abgestimmter Antwort« verwendet. Remspergers Konzept »Sensitive Responsivität« beruht auf der Bindungsforschung und fokussiert auf die Fachkraft -Kind-Beziehung. Nach Remsperger kann Sensitive Responsivität situationsunabhängig gezeigt werden. Gutknechts Konzept »Professionelle Responsivität« bezieht neben dem Responsivitätsbegriff der Bindungsforschung den von anderen Disziplinen ein. »Professionelle Responsivität« umfasst neben der Fachkraft -Kind-Beziehung auch die Beziehungen der Fachkräfte zu den Eltern und untereinander im Team. Um sich professionell abstimmen zu können, gilt ein situationsspezifisches Fachwissen als notwendig. Das Konzept erfordert darüber hinaus ein großes Wissen und Können in den Kontexten Kultur/Subkultur, Gender, Behinderung, Entwicklung.

Literatur


  • Ainsworth, M. D. (1978/2008): Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation. New York: Erlbaum, Hillsdale.
  • Bornstein, M. H. (Hrsg.) (2002): Handbook of Parenting: Practical Issues in Parenting. Bd. 5. 2. Aufl. Erlbaum, Mahwah.
  • Borke, J./Keller, H. (2013): Kultursensitive Frühpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Clarke-Stewart, A./Allhusen, V. D. (2005): What We Know About Childcare. The Developing Child. Cambridge: Harvard University Press.
  • Eshel, N., Daelmans, B., Cabral Mello, M. de & Martines, J. (2006). Responsive parenting: Interventions and outcomes. Bulletin of the World Health Organization, 84, 992-999.
  • Gutknecht, D. (2012): Bildung in der Kinderkrippe. Wege zur Professionellen Responsivität. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Maietta, L./Hatch, F. (2004): Kinaesthetics Infant Handling. Bern: Huber.
  • Papoušek, H./Papoušek, M. (1987): Intuitive Parenting: A Dialectic Counterpart to the Infant’s Integrative Competence. In Osofsky, J. D. (Hrsg.): Handbook of Infant Development. pp. 669-720. New York: Wiley.
  • Quasthoff, U., Fried, L., Katz-Bernstein, N., Lengning, A., Schröder, A. & Stude, J. (2011): (Vor)Schulkinder erzählen im Gespräch: Kompetenzunterschiede systematisch erkennen und fördern. Hohengehren: Schneider.
  • Remsperger, R. (2011): Sensitive Responsivität. Zur Qualität pädagogischen Handelns im Kindergarten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Sarimski, K. (2012): Behinderte Kinder in inklusiven Kindertagesstätten. Stuttgart: Kohlhammer
  • Wilken, E. (2010). Unterstützte Kommunikation: Eine Einführung in Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.



Übernahme des Beitrages mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus der Welt des Kindes 2/2014, S. 44 - 46