Bildung Raum geben

Ko-Autor: Matthias Wilk

 

Kita-Räume sollen die verschiedenen Bedürfnisse ihrer Bewohner erfüllen, die Entwicklung der Kinder unterstützen und motivierende Lernchancen bieten. Warum eine Einrichtung mehr ist als nur ein schöner Ort für Kinder, zeigt dieser Beitrag auf.

Das Thema Raumgestaltung in Tageseinrichtungen für Kinder gehört momentan mit zu den gefragtesten Fortbildungsthemen pädagogischer Fachkräfte. Aufgrund aktueller Entwicklungen, wie etwa die Ausweitung der Betreuungszeiten, die Aufnahme von Kindern unter drei Jahren, die Umsetzung von Inklusion oder die zunehmende Diversität der Kinder und deren Familien, gewinnt eine auf all diese Bedürfnisse ausgerichtete Raumgestaltung immer mehr an Wichtigkeit.


Viele neue Tageseinrichtungen werden konzipiert und errichtet. Bestehende Einrichtungen müssen an-, um- und ausgebaut werden. Die optimierten Räume sollen verschiedenste Nutzerbedürfnisse aufgreifen und unterstützen. Dabei ist oft nicht nur die Finanzierung problematisch, sondern auch die Umsetzung. Obwohl der Raum als Einflussfaktor von Bildungs- und Entwicklungsförderung eine mehr als hundert Jahre alte pädagogische Tradition hat, fehlt vielerorts die Handlungskompetenz – auf Architekten-, aber auch auf Pädagogen-Seite. Kein Wunder: Das Thema „Raumgestaltung" wird in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte und in den Bildungsplänen der Bundesländer nur am Rande thematisiert.

 

Pädagogische Raumgestaltung – wie alles begann

Die Wichtigkeit betonen Frühpädagogen schon seit Jahrhunderten. Rudolf Steiner (1861) hat in seiner Waldorf-Pädagogik dem Thema Raum große Beachtung geschenkt. Für Maria Montessori (1952) war eine bewusste Raumgestaltung als „vorbereitete Umgebung" Kerngedanke ihrer Pädagogik.


In der Reggio-Pädagogik (Malaguzzi 1978) wird der Raum „dritter Erzieher" genannt. Urie Bronfenbrenner (1981) weist auf eine frühzeitige Beachtung und Berücksichtigung der Raumqualitäten beim Bau einer Tageseinrichtung für Kinder hin. Für Wassilios E. Fthenakis (2004) ist Raum „Medium der Gestaltung von gezielter Bildungsförderung". Durch diese Bedeutungszuschreibung zählen Kita-Räume zu einer didaktischen Theorie der Kindheitspädagogik. Der Selbstbildungsprozess wird durch bewusste Raumgestaltung und Materialauswahl erzieherisch beeinflusst. Der Raum wird zum (Mit-) Erzieher.


Der Krippenraum prägt das Kind nachhaltig

Raum ist für kleine Kinder gleichzeitig Lerngegenstand und Lernumgebung, also im doppelten Sinn bedeutsam. Ihre eigenaktive Exploration richtet sich, basierend auf ihrem Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, zuerst auf die unmittelbare Umgebung. So sind der Lichteinfall, Geräusche, Bewegungen, später er-greifbare und er-tastbare Dinge spannende Phänomene, denen sich das Kind neugierig zuwendet. Mit zunehmender Mobilität wird der Erkundungsradius größer. Nun werden Oberflächenstrukturen, greif- und bewegbare Gegenstände spannend, die das Kind selbstwirksam erkunden kann. Es macht Erfahrungen „aus erster Hand" von den Dingen und Raumelementen seiner Umgebung. Sie werden als kognitive Strukturen gespeichert und bilden die Grundlage für die Vorstellungen, die es von seiner Umwelt aufbaut.

 

Das spätere Raum- und Sozialverhalten wird angelegt

Die Qualitäten des Raumes beeinflussen bereits vorhandene „innere Bilder". Die ersten Räume der Kindheit sind prägend und deren innere Bilder also schon vorhanden, wenn ein Kind in die Einrichtung kommt. Maßgeblich dabei ist der Einfluss der Herkunftsfamilie und ihrer Ressourcen – diesen kann sich das Kind nicht entziehen. Auch eine Erfahrung bezüglich der Größe und Qualität des Nahraums, also der konkret genutzten Lebenswelt, ist vorhanden und hat große Auswirkungen auf die frühkindliche Raumerkundung. Ihre Ausprägung ist eine Schablone für späteres Raumverhalten, individuelle Mobilität und soziokulturelle Teilhabe.

 

Wie „Heimat" im Kopf entsteht

Die so „verorteten" ersten, sinnlichen Erfahrungen und emotionalen Erlebnisse sind in unserem Gedächtnis gespeichert. Dieser gedankliche Anker wird mit dem Begriff der Heimat besetzt – und die räumliche Umgebung ist ein Teil davon. Mit der Aufnahme kleiner Kinder in eine Kita erweitert sich ihre räumliche und sozio-kulturelle Umwelt. Je nach pädagogischem Ansatz sind diese Räume im Sinne einer „vorbereiteten Umgebung" bewusst kindgerecht und entwicklungsförderlich gestaltet.


Der Raum als Kategorie der pädagogischen Qualität hat mit der Veröffentlichung der „Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit" von 2012, abgekürzt „NUBBEK"-Studie, an Bedeutung gewonnen und wird seitdem als ein wesentlicher Einflussfaktor der pädagogischen Prozessqualität anerkannt.

 

Was ist bei der Raumgestaltung zu beachten?

Pädagogische Raumgestaltung ist mehr als die sorgfältige Auswahl und Platzierung von Möbeln und Dekoration. Räume bestehen aus einzelnen Elementen wie Türen, Fenstern, Kanten sowie Linien und besitzen spezifische Qualitäten wie Beleuchtung, Temperatur, Akustik, Farb- und Materialgestaltung. Von diesen Kategorien wird das Raumnutzungsverhalten beeinflusst.


Um sich das System „Raum" zu erschließen und seine Einflüsse zu verstehen, ist es sinnvoll, einzelne Kategorien systematisch zu analysieren und ihre Abhängigkeit zum individuellen Nutzerverhalten zu erfassen. Erst auf dieser Grundlage ist eine begründete nutzerspezifische Raumgestaltung möglich. Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte haben unterschiedliche Anforderungen an Räume.

 

Was Kinder wollen

Kleine Kinder brauchen Sichtachsen, freie Sicht, um ihre Bezugserzieherin jederzeit orten zu können. Nur durch die Sicherheit, sie jederzeit zu erreichen, können die Kinder sich neugierig den spannenden Dingen ihrer Umwelt zuwenden. Ältere Kinder lieben Rückzugsräume, wollen allein oder mit ihren Spielpartnern ungestört konzentriert tätig sein und ihre Produkte wertschätzend präsentieren können, egal ob dies ihre Musik, kreative Arbeiten, Bauwerke oder Bewegungslandschaften sind. Sie wollen ihre Umwelt in Besitz nehmen und sie ihren aktuellen Themen entsprechend mit- und umgestalten.


Das Recht auf Partizipation gilt auch für Räume in einer Kita. Die Erzieher sollten diese Teilhabe entwicklungsabhängig ermöglichen und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit der Kinder unter Beachtung einer gesunden Balance zwischen Grenzen und Freiheiten fördern.

 

Raumplanung als Kompromiss der verschiedenen Nutzerbedürfnisse

Räume werden von Architekten für spezifische Nutzerbedürfnisse geplant. In einer Kindertageseinrichtung gibt es vielfältige Nutzerbedürfnisse und spezifische Abläufe. Zum Beispiel stellt ein Flur in einer Kita nicht nur einen Verbindungsweg zwischen zwei Räumen dar. Er ist gleichzeitig Garderobe, Lagerraum für Kinderkleidung und Anlaufstelle für Eltern in der Bring- und Abholphase. Oft ist er auch Bewegungs- und Spielfläche für Kinder – und damit Treffpunkt für viele Menschen.


Ein Flur ist aber auch Fluchtweg und unterliegt damit Orientierungs- und Brandschutzkriterien, die den vorher genannten Nutzungen widersprechen. Der Eingangsbereich ist nicht nur Windfang und Schmutzschleuse. Er muss Orientierung geben, aktuelle Informationen präsentieren, Eltern und Gäste einladen und Kinder in ihrer Lebenswelt begrüßen. Damit wird er zur professionellen Visitenkarte der Institution. Ein Wickelraum ist in einer Kita ein bedeutsamer Bildungsort, in dem in wiederholten Pflegesituationen wertvolle Beziehungsarbeit geleistet wird. Damit pädagogische Fachkräfte und Kinder sich dort wohlfühlen und aufeinander einlassen können, muss er entsprechend gestaltet sein.

 

Architekten und Erzieherinnen müssen gemeinsame Sache machen

Wissen die Planer von Kitas von diesen spezifischen Raumbedürfnissen, von denen hier nur einige genannt wurden? Ein Dialog von Architekten und pädagogischen Fachkräften für die Planung einer Kindertageseinrichtung ist in Deutschland strukturell nicht vorgesehen. Kitas werden von Trägern in Auftrag gegeben, von Architekten geplant und gebaut. Die Pädagogen haben das fertige Gebäude zu füllen. Oft steht dann die pädagogische Raumnutzung mit den vorhandenen Gegebenheiten im Widerspruch, es werden Notlösungen geschaffen: etwa die Speisewagen, die aufgrund fehlender Abstellmöglichkeiten in der Küche, im Gang geparkt werden müssen und wertvolle pädagogische Nutzfläche blockieren, oder der Gestaltungsbereich, der im engen, dunklen Zusatzraum ohne Fenster untergebracht werden muss.


Oft müssen teure Um- oder Nachbauten erfolgen. PISA-führende Länder wie Finnland haben hier andere Strukturen: Im dialogischen Prozess werden Bildungsbauten gemeinschaftlich geplant, errichtet und gestaltet. Das funktioniert nur, weil pädagogische Fachkräfte frühzeitig in den Prozess eingebunden werden und sie gelernt haben, die Sprache der Architekten zu sprechen. So können sie für eine optimale Raumplanung und somit für die maximal mögliche Bildungs- und Entwicklungsförderung der ihnen anvertrauten Kinder sorgen.

 

Keine Bildungschance verschenken

Um die Ressource „Raum" in der Kindheitspädagogik optimal nutzen und in internen und externen Planungsprozessen kompetent vertreten zu können, bedarf es einer fachlichen Weiterentwicklung auf Basis einer Theorie fundierten Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Sensibilisierung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften für die Bedeutung des räumlich-kulturellen Umfeldes für Entwicklungsprozesse der frühen Kindheit und die bewusste Verantwortungsübernahme für deren entwicklungsförderliche Gestaltung, ist ein wichtiges und spannendes Thema. Architektur und Kindheitspädagogik bieten eine große Reibungsfläche. Gleichzeitig gibt es ausreichend Freiraum für eine konstruktive Zusammenarbeit, neue Ideen und Freude am Blick über den eigenen Tellerrand.


Tipp zum Weiterlesen:

 

 

Erstveröffentlichung in: Meine Kita – Das didacta Magazin für den Elementarbereich, Ausgabe 3/15, S. 4-8. Übernahme mit feundlicher Genehmigung von "Meine KiTa"

 



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