Monika Seifert (1932-2002)

"Mutter der antiautoritären Kinderläden"

seifert 150Monika Seifert (Quelle: Barbara Fahle)Oskar Negt, Sozialphilosoph und Gründer der Glockseeschule in Hannover, nannte sie die "Mutter der antiautoritären Kinderläden" (Negt 1995, S. 298). Und ihre Freundin und Biografin, Wilma Aden-Grossmann konstatiert, dass Seifert vermutlich 1968 die Wortmarke "antiautoritäre Erziehung" einführte - dabei zurückgreifend auf Horkheimer, der den Ausdruck "antiautoritär" in seinem Essay "Autorität und Familie" (1936) verwandte. Sie verknüpfte die Begriffe "antiautoritär" und "Erziehung" zur "Charakterisierung einer alternativen Form der Erziehung, die sich von der herkömmlichen, d. h. autoritären Erziehung abhebt" (Aden-Grossmann 2015, S. 74). Um ihre Vision von einer "repressionsfreien Erziehung" als Voraussetzung für ein frei bestimmtes Leben für ihre Tochter zu verwirklichen, gründete Seifert 1967 in Frankfurt/Main den ersten sog. "repressionsfreien/antiautoritären Kindergarten", die "Frankfurter Kinderschule". Dazu äußerte sie sich später rückblickend:

"Kindergärten fand ich unmöglich, sie kamen für mich nicht infrage, auch nicht Waldorf oder Montessori. Es sollte ein Kindergarten sein, der auf die Bedürfnisse der Kinder eingeht und nicht einer, der erzieht" (Finkbeiner 1988, S. 42).

Mit dieser neuen Einrichtung, der später noch eine "Freie Schule" folgte, wollte die junge Mutter "in erster Linie eine alternative Erziehung entwickeln und experimentell erproben, deren theoretische Grundlage in der Kritischen Theorie und der psychoanalytischen Pädagogik lag" (Aden-Grossmann 2011, S. 143). Ihre beiden Gründungen, Kindergarten wie Grundschule, waren seinerzeit kein leichtes Unterfangen, stand man doch der "repressionsfreien/antiautoritären Bewegung" allgemein sehr skeptisch gegenüber. So sträubten sich beispielsweise die Behörden "zunächst, die Kinderschule der Monika Seifert finanziell zu unterstützen, unter anderem deshalb, weil die Handtuchhaken in der Toilette nicht den vorgeschriebenen Abstand hatten" (o. V. 1970, S. 72). Die vorschulische Einrichtung, die entgegen der damaligen Gepflogenheit auch Kinder unter drei Jahren aufnahm, orientierte sich konzeptionell an der psychoanalytischen Pädagogik.

Folgerichtig wurde darum die "Kinderschule" von Helke Sander, eine der Pionierinnen der Kinderladenbewegung in Berlin, als "psychoanalytischer Kindergarten" bezeichnet. Worin lag eigentlich der Unterschied zwischen der Frankfurter Vorschuleinrichtung und den Berliner KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   ? Für Sander ging es Seifert "biografisch nicht darum, mit dem Kindergarten auch eigene Probleme als Frau lösen zu müssen, selber Zeit für sich zu schinden, sondern sie befasste sich beruflich mit Erziehungsfragen und hatte persönlich einen anderen materiellen Hintergrund als die jungen studierenden Frauen mit Kindern in Berlin. In Berlin ging es um ein neues politisches Konzept, das Frauen als politisches Subjekt entwickelt hatten. In Frankfurt ging es zunächst um eine inhaltliche Neubestimmung vorhandener Kindergärten, ohne dass dies verbunden gewesen wäre mit Forderungen nach einer neuen öffentlichen Erziehung für alle und mit Frauenemanzipation". Demzufolge bestand die Frankfurter Elterngruppe überwiegend aus "etablierten Berufstätigen": Juristen, LehrerInnen, KünstlerInnen und JunalistInnen (vgl. Hartlaub 1994, S. 194).

Neben ihrem Engagement für die "Freie Schule" setzte sich Monika Seifert für die Verbreitung der Schriften u. a. von Siegfried Bernfeld, Anna Freud, Wilhelm Reich und Nelly Wolffheim ein, die wegen ihrer jüdischen Abstammung die angestammte Heimat verlassen mussten. Um deren Publikationen, "die nach dem Krieg nicht wieder aufgelegt worden waren, verfügbar zu machen, wurden sie in Raubdrucken publiziert" (Aden-Grossmann 1011, S. 144).

Leben und Wirken

Monika Seifert erblickte am 11. Juli 1932 in Berlin das Licht der Welt. Ihre Eltern waren Alexander Mitscherlich, der Jahre später mit seiner Publikation "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie" hohe Anerkennung fand, und dessen erste Ehefrau, der Ärztin Melitta Mitscherlich, geb. Behr. Noch vor der Geburt ihrer Schwester Barbara trennte sich die Eltern, die sich erst 1936 scheiden ließen. Die kurze Dauer der Ehe hatte zur Folge, dass Monika mit ihrer Schwester und einem Halbbruder „vaterlos" aufwuchs. Alexander Mitscherlichs Biograf schreibt dazu treffend, dass der bekannte Arzt, Schriftsteller und Psychoanalytiker wenig Bereitschaft dazu zeigte, "in seinem Leben jene Vaterrolle zu übernehmen, die er in seinen Schriften einforderte. Seine beiden Töchter Monika und Barbara wuchsen nach Mitscherlichs Trennung von Melitta Behr getrennt von ihrem Vater auf... Auch öffentlich mochte Mitscherlich sich nicht als Vater präsentieren. Er sah seine Vaterrolle nicht als Teil jener persona, die er der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. In seiner Autobiografie werden seine sieben Kinder aus drei Ehen nur am Rande erwähnt" (Dehli 2007, S. 271 f). Die "vaterlose Familie" übersiedelte nach Bad Kissingen, wo Monika zunächst, trotz beruflich bedingter Abwesenheit der Mutter, glückliche Kindertage in ökonomisch gesicherten Verhältnissen erlebte. Doch ein schwerer Schicksalsschlag ereilte das Mädchen, denn im Alter von sechs Jahren erkrankte es an paralytischer Poliomyelitis und eine schwere Leidenzeit bestimmte fortan seinen weiteren Lebensweg. Zeitlebens hatte Monika eine konvexe Krümmung der Wirbelsäule, "einen Buckel"

Nach Privatunterricht absolvierte sie ab 1956 das Propädeutikum an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, und bestand dort am 19. März 1958 das Abitur. Folgend studierte sie bis 1963 Soziologie in Frankfurt am "Institut für Sozialforschung", u. a. bei Adorno. In beiden Hochschulstädten war sie politisch aktiv tätig. Sie engagierte sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), in dessen Bundesvorstand sie 1959 gewählt wurde. Die Studenten im SDS lasen die Schriften von Horkheimer, Adorno sowie Reich und kamen zu dem Ergebnis, dass der Nationalsozialismus auch durch die Erziehung ermöglicht wurde, die die Elterngeneration der Studenten erlebt hatte. Des Weiteren war Mitscherlich in der Bewegung "Kampf dem Atomtod" aktiv, wo sie ihren Mann, den Politikwissenschaftler Jürgen Seifert kennen und lieben lernte. Die beiden heirateten 1960. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor, die 1964 geboren wurde. Gerne wäre Seifert Psychoanalytikerin geworden. Für die Ausbildung benötigte sie eine Lehranalyse, die sie am renommierten "Sigmund-Freud-Institut" absolvieren wollte. Doch sie wurde abgelehnt. Den Vorsitz im Genehmigungsverfahren führte ihr eigener Vater. Diesbezüglich schrieb vier Jahrzehnte später der hochgeschätzte Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter an Monika Seiferts Schwester, Barbara Kuhn-Mitscherlich:

"Ihrem Vater habe ich ja manches zu verdanken. Allerdings habe ich es ihm seinerzeit verübelt, dass er sich ganz energisch gegen die Bewerbung von Monika um eine psychoanalytische Ausbildung in der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) ausgesprochen hat - unter Hinweis auf ihre Behinderung. Ich weiß nicht, ob er sich für sie schämte. Seine Worte, an die ich mich noch erinnere, sprachen dafür" (zit. n. Aden-Grossmann 2015, S. 57).

Aber die vom eigenen Vater Verfemte resignierte nicht und verfolgte selbstbewusst ihren beruflichen Weg. Über die Volkswagen-Stiftung erhielt sie ein einjähriges Stipendium (1966/1967) für ein Zweitstudium der Psychoanalyse am "Tavistock Institute", London. Während sie Vorlesungen und Seminare besuchte, wurde Tochter Anna in der "Kirkdale School" betreut. Die Londoner alternative Einrichtung wurde für sie zum Vorbild für die von ihr, in Verbund mit anderen engagierten Eltern, 1967 in Frankfurt-Eschersheim gegründeten „Frankfurter Kinderschule".

Nach zehn Ehejahren verließ ihr Mann, der sich in eine jüngere Frau verliebt hatte, sie. Eine chronische Herzschwäche als Folge ihrer Behinderung bestimmten ihre letzten Lebensjahre. Monika Seifert starb am 14. März 2002 in Frankfurt/Main.

Grundzüge der antiautoritäre Erziehung

Anfänglich sprach Seifert von "repressionsfreier Erziehung". Etwa ab 1968 verwendete sie zur Charakterisierung ihres pädagogischen Konzeptes die Bezeichnung "antiautoritäre Erziehung". Dahinter stand folgender politischer Anspruch:
"Realisierung eines repressionsfreien Erziehungsstils in Form eines Experiments; Schaffung eines Modells, im Rahmen dessen gezeigt werden kann, daß innerhalb und gegen eine repressive Gesellschaft eine freie, antiautoritäre Erziehungspraxis möglich ist. Kritik an den bestehenden herkömmlichen Kindergärten - städtischen und konfessionellen einschließlich Montessori und Waldorf:

Es hat sich gezeigt, daß
a) bei den überall üblichen großen Kindergruppen (fast durchweg 1 zu 20, häufig mehr) und der konservativen Ausbildung der Kindergärtnerinnen sich zwangsläufig ein autoritärer Erziehungsstil einstellt;
b) man sich unter diesen Umständen nicht intensiv genug mit den bei jedem Kind auftretenden psychischen Entwicklungsschwierigkeiten und den gesellschaftlich bzw. milieubedingten Störungen befassen kann;
c) das Lernen von Selbständigkeit und individueller Entscheidungsfreiheit unmöglich gemacht wird;
d) die intellektuellen Bedürfnisse der nichtschulpflichtigen Kinder bisher nicht in ausreichenden Maße befriedigt werden; deshalb der Schuleintritt für die meisten Kinder ein Schock bedeutet, da die Sphären des Spielens und des Lernens nicht koordiniert sind" (Seifert 1971, S. 159 f).

Ihre pädagogische Konzeption der "repressionsfreien/antiautoritären Erziehung" fasste Seifert unter folgenden drei Punkten:

  • "Daß Kind muß sein Bedürfnis frei äußern und selbst regulieren können.
  • Die Kinder müssen ohne Schuldgefühle - also frei von dem, was wir heute Moral nennen - in funktional begründeter Rücksichtnahme aufwachsen können.
  • Das Lernen muß primär von den Fragen des Kindes ausgehen und nicht
  • auf einem für das Kind notwendig abstrakt erscheinenden Programm beruhen" (zit. n. Aden-Grossmann 2011, S. 144f).

Demzufolge legte die "repressionsfreie/antiautoritäre Erziehung" großen Wert auf das Prinzip der Selbstregulierung hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse, das sich sowohl im Tagesablauf, als auch in der Einstellung zum Spiel, zum Essen zur Sexualität, zur Aggression, zum Lernen und Sozialverhalten sowie im Verhältnis zwischen den Generationen findet. Dazu konstatierte Marei Hartlaub, die zur Elterngruppe der "Frankfurter Kinderschule" gehörte, 25 Jahre später:

"Erziehung zur Selbstregulierung bedeutete für die Erwachsenen unendlich viel mehr Beteiligung und aktive Zuwendung als die moralische Lenkung, die üblicherweise unter Erziehung verstanden wird" (Hartlaub 1994, S. 194).

Das bedeutet konkret: Das "Kind soll in jedem Alter und auf allen Lebensgebieten... seine Bedürfnisse frei äußern und selbst regulieren können, es soll Gelegenheit haben und darin unterstützt werden, seine Interessen individuelle und kollektiv zu erkennen und angemessen zu vertreten" (Seifert 1971, S. 163). Erwachsene sind nicht mehr Erzieher im eigentlichen Sinne, sondern allenfalls gleichberechtigte Begleiter. Seifert betonte, dass ein selbstregulierendes Kind kein sich selbst überlassenes Kind im Sinne des "Laissez-faire-Stils" ist, zumal ein Kind seine Bedürfnisse nur dann regulieren und seine eigene Interessenvertretung lernen kann, "wenn es sich in der Geborgenheit einer stabilen Bezugsrahmens (Elternhaus, Kinderkollektiv) befindet. Die Voraussetzung für Selbstregulierung ist ein liebevolles Klima, wo affektive Zuwendung möglich ist, in dem keine festen rigiden Deutungsmuster von den erwachsenen Bezugspersonen vorgegeben sind, sondern der Erfahrungsspielraum für das Kind in jeder Hinsicht offengehalten wird... Häufig werden von Kritikern des Prinzips der Selbstregulierung Bedenken geäußert, daß diese Freiheit in chaotische Freiheit umschlage, in Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit der Bedürfnisse - kurz: in Tyrannei des Kindes . Ein tyrannisches Kind aber ist kein freies Kind, es ist ein zwanghaftes, unfreies Kind. Ein Kind, das 'hemmungslose', unstillbare Bedürfnisse äußert und nicht zufriedenzustellen ist, ist ein unglückliches, gestörtes, krankes Kind, dessen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung nicht oder mangelhaft gestillt werden oder in vorausgegangenen Phasen vernachlässigt wurden und das nun das Gefühl hat 'zu kurz' zu kommen" (ebd., S. 164 f). Die "repressionsfreie/antiautoritäre Erziehung" ist gekennzeichnet durch eine angstfreie Beziehung des Kindes zum Erwachsenen, zu den Eltern, zur Kindergärtnerin, zur Lehrerin etc. Eine wichtige Voraussetzung dazu ist, die Verwerfung einer Erziehung mittels Strafen und Belohnungen:

"Erwachsene müssen sich Kindern gegenüber funktional verhalten. Das bedeutet zum Beispiel, in einem Streit nicht zu werten, sondern den Kindern klarzumachen, daß - solange sie sich streiten - keiner spielen kann" (zit. n. Aden-Grossmann 2015, S. 78).

Kindliche Sexualitätsäußerungen

Geradezu revolutionär war seinerzeit die Einstellung der antiautoritären Bewegung zur kindlichen Sexualität, die diese nicht isoliert von den gesamten anderen Lebensäußerungen des Kindes betrachtete. Angeregt von der psychoanalytischen Sexualtheorie, die die sexuellen Bedürfnisse und Äußerungsformen des Kindes mit dem Terminus prägenital (d. h. als Vorstufe der Triebentwicklung im Verhältnis zur genitalen Erwachsenensexualität) bezeichnete, gehörte die kindliche Sexualität, mit ihren verschiedensten Äußerungsformen (Onanie, kindlicher Exhibitionismus, Voyeurismus, analerotische Tendenzen, sexuelle Spiele - Vater-, Mutter-, Kind-; Doktorspiele u.dgl.m.) zu Seifert Konzeption der "repressionsfreien/ antiautoritären Erziehung". Sie meinte, dass die Äußerungsformen der kindlichen Sexualität "nicht nur zur Kenntnis zu nehmen und zu dulden, sondern voll und ganz zu bejahen (sind; M. B.)... Fehler bestehen nicht nur darin, die kindliche Sexualität zu unterdrücken und abzulehnen, mit Strafen und Liebesentzug zu reagieren, zu verbieten, abzulenken. Es ist genau so falsch, sich den kindlichen sexuellen Äußerungsformen gegenüber distanziert zu verhalten, sie nicht zu beachten und damit nicht ernstzunehmen... Zu einem 'kultivierten' Körpergefühl, und damit zu sexueller Genuß- und Liebesfähigkeit, kann das Kind nur dann gelangen, wenn es auch in dieser Hinsicht nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern die anerkennende, positive Einstellung und Zuwendung der Erwachsenen erlebt" (Seifert 1977, S. 24). Wenn also beispielsweise mehrere Kinder sich darüber einig waren, "nackt zum gemeinsamen Essen zu erscheinen, so haben wir sie nicht mit dem Hinweis auf Anstand und Moral daran gehindert, denn es spricht nichts gegen genußvolles Essen im nacktem Zustand" (Hartlaub 1994, S. 195).

Da die erwachsenen Bezugspersonen des Kindes gerade hinsichtlich der Sexualität die meisten Abwehrmechanismen produzieren und die größte Verdrängungsarbeit leisten, hat dies zur Folge, dass unbeabsichtigtes Fehlverhalten und nicht reflektierbare Fehlleistungen die Sexualerziehung negativ beeinflussen. Um unbewusste Verschleierungen und Manipulationen zu vermeiden, forderte Seifert:
"1. Die Erwachsenen müssen versuchen, ihre sexuellen Schwierigkeiten in der ganzen auto-biographischen und gesamt-gesellschaftlichen Komplexität aufzudecken und zu analysieren, was gleichzeitig 2. bedeutet, daß sie diese eigene Problematik kollektiv im politischen Kontext zu verarbeiten suchen müssen. 3. Sie müssen ihre Beziehungen zu den Kindern relativieren, d. h. ihre Fixierungen an das Kind abbauen, um damit autoritäre Fixierungen an die Erwachsenen und die Übertragung ihrer sexuellen Problematik auf die Kinder von vornherein zu verhindern" (Seifert 1971, S. 169).

Die kritische Frage der Pädophilie

Wie sollten sich nun die Eltern und all die anderen erwachsenen Bezugspersonen verhalten, wenn sich die Neugier der Kinder direkt an den Erwachsenen als Sexualobjekt bzw. als Partner richtet? Dazu Aden-Grossmann:

"Darüber ob man diese tolerieren oder zurückweisen sollte, gingen die Meinungen auseinander. Einhellig jedoch wurden sexuelle Aktivitäten seitens der Erwachsenen kategorisch abgelehnt. Monika Seifert hob hervor, dass hierdurch der Erwachsene Macht über das Kind ausübe und die Wahrung der Generationsschranke für eine freie Entwicklung des Kindes eine unabdingbare und notwendige Voraussetzung sei. Damit war die Position klar und unmissverständlich formuliert: Jede Form erotisch-sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern - der Begriff Pädophilie wurde zur damaligen Zeit noch nicht verwendet - wurde entschieden abgelehnt" (Aden-Grossmann 2015, S. 83).

Bei genauerer Betrachtung relativiert sich diese kategorische Ablehnung jedoch. So fragte Seifert selbstkritisch ob das Ausbleiben „von versuchter, direkter, zielgerichteter sexueller Aktivität eines Kindes mit einem Erwachsenen" (Seifert 1971, S. 172) in ihrem Projekt als Manko oder als Erfolg zu bewerten sei. In typisch tiefenpsychologisch orientierter Weise führte sie dazu aus:

"Es mag daran liegen, daß diese Kinder an keine der erwachsenen Bezugspersonen einseitig fixiert sind und sie deshalb die Möglichkeit haben, sich mit Gleichaltrigen zu identifizieren (die für Familien typischen Fixierungskonstellationen bestehen hier nicht). Es ist also möglich, daß die Kinder deshalb keinen Versuch machen, die Erwachsenen direkt als Sexualobjekt einzubeziehen, weil sie ihre sexuellen bzw. genitalen Bedürfnisse im Kinderkollektiv realitätsgerecht mit Gleichaltrigen befriedigen können. Andererseits - da wir von den Schwierigkeiten der Erwachsenen wissen - muß als mögliche Ursache dessen auch berücksichtigt werden, daß es die eigenen Hemmungen und Unsicherheiten der Erwachsenen sein können, die solchen Bedürfnissen der Kinder von vornherein Grenzen setzen. Dies würde bedeuten, daß die Kinder durch das unbewußte reagieren der Erwachsenen ihre sexuelle Neugierde an diesem Punkt unterdrücken und sie aus diesem Grunde über gewisse Ansätze zur Einbeziehung der Erwachsenen nicht hinausgehen" (ebd.).

Es zeigt sich, dass diese Frage wie auch weitere in diesem Kontext - z.B., ob es vertretbar wäre, Kinder beim Geschlechtsverkehr der Eltern dabei sein zu lassen – noch nicht ausdiskutiert waren. Sie sollten „in permanenter Zusammenarbeit kollektiv gelöst werden, was selbstverständlich nicht bedeuten kann, daß ein theoretischer Konsens geschaffen wird; 'kollektiv' heißt hier: in erster Linie von den Bedürfnissen der Kinder ausgehen und dabei nicht aufgrund einer abstrakten Theorie der Erwachsenen die Kinder letztlich überfordern" (ebd., S. 173).

Literatur


  • Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten: Geschichte - Entwicklung - Konzepte, Weinheim/Basel 2011
  • Dies.: Monika Seifert. Pädagogin der antiautoritären Erziehung. Eine Biografie, Frankfurt/Main 2015
  • Dehli, M.: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007
  • Finkbeiner, E.: Gespräch mit der Gründerin des ersten Kinderladens, Monika Seifert, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 1988/H. 1, S. 42
  • Hartlaub, M.: "Der nackte Kinderpopo schreit zum Himmel". Antiautoritäre Erziehung 25 Jahre danach, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 1994/H. 4, S. 193-195
  • Negt, O.: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995
  • Seifert, M.: Kinderschule Frankfurt (Eschersheimer Landstraße), in: Höltershinken, D. (Hrsg.): Vorschulerziehung. Eine Dokumentation, Freiburg/Basel/Wien 1971, S. 159-173
  • Dies.: Kann die Kinderladenbewegung einen allgemeingültigen Beitrag zur Frage von Möglichkeiten kindlicher Autonomie leisten?, in: Nagel, H./Seifert, M. (Hrsg.): Nicht für die Schule Leben!, Frankfurt 1977, S. 29-41
  • o. V.: Kindererziehung. Aufrechter Gang, in: Der Spiegel 1970/Nr. 44, S. 62-90


Webseiten

  • http://www.martinwilke.de/freie_schule_frankfurt.html (abgerufen 17. 2. 2015)
  • http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/browse/25/back/nach-autoren/article/vom-58er-zum-68er-ein-biographischer-rueckblick/ (abgerufen 17. 2. 2015)
  • http://www.taunus-nachrichten.de/kronberg/aktuelles/kronberg/praesentation-ueber-mutter-antiautoritaeren-kinderlaeden-id11522.html (abgerufen 17. 2. 2015)
  • http://www.helke-sander.de/2008/01/die-entstehung-der-kinderlaeden/ (abgerufen 17. 2. 2015)
  • http://www.inhr.net/book/kuck-mal-meine-vagina (abgerufen 17. 2. 2015)
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Monika_Seifert (abgerufen 17. 2. 2015)


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