Frühkindliche Sozialisation

Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme und Positionierung

Ein interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.es Positionspapier zur frühkindlichen Sozialisation in sowohl kognitiver, emotionaler wie motivationaler Hinsicht hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Zusammenarbeit mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften vorgelegt. In ihm und mit ihm sollen der aktuelle Wissensstand der frühkindlichen Forschung zusammengefasst und Empfehlungen für politische Entscheidungen abzuleiten sein - zum Beispiel im Hinblick auf die konkrete Umsetzung von Maßnahmen bei Interventionsprogrammen sowie die mögliche Förderung von Vorhaben zur Beseitigung von Forschungsdefiziten.

Zur Umsetzung wurde eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit ausgewiesenen Experten der Psychologie, Linguistik, Medizin, Biologie, Pädagogik, Soziologie und Ökonomie zusammengestellt.

Übereinstimmend untermauern die ForscherInnen, „dass frühkindliche Erfahrungen den weiteren Entwicklungsweg eines Menschen nachhaltig beeinflussen“ und beklagen zugleich, dass die zugrunde liegenden Erkenntnisse in der öffentlichen Diskussion bislang nicht hinreichend aufgenommen worden seien.

Aus der Lebensverlaufsperspektive erscheint es den ForscherInnen "besonders sinnvoll, Bildungsinvestitionen für die frühe Kindheit bereitzustellen. Dies gilt für die Entwicklung aller Kinder, im besonderen Maße aber für Kinder, die mit sensorischen Einschränkungen geboren werden oder die in wenig förderlichen Umwelten aufwachsen“ wie z.B. prekären Familienverhältnissen oder Bildungsferne der Eltern. Im Fazit heißt es:

„Investitionen in qualitativ hochwertige frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote sind sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich besonders rentabel, da sie positive Voraussetzungen für weitere Entwicklungsschritte gewährleisten. Sie sollten deshalb langfristig gesichert und verstärkt werden.“

In der Folge können Sie die grundlegende Vorbemerkung zum Positionspapier sowie die daraus zu schlussfolgernden bildungspolitischen Konsequenzen lesen, die wertvolle Argumentationshilfen bieten.

Das gesamte Positionspapier mit der dezidierten Darstellung des Forschungsstandes in den unterschiedlichen Sozialisationsbereichen sowie Empfehlungen zu Förderung von Sprachkompetenz, Kognitiven Fähigkeiten sowie sozialen, emotionalen und motivationalen Kompetenzen steht unten zum Download bereit.

 


 

Vorbemerkung

Der ökonomische Erfolg und das soziale Miteinander in einer Gesellschaft hängen entscheidend davon ab, wie sich kognitive, emotionale und motivationale Potentiale eines jeden Menschen entfalten können. Grundlegend dafür ist, wie und unter welchen Bedingungen Kinder aufwachsen. Die jeweilige Umwelt bestimmt, wie anlagebedingte Prädispositionen zum Ausdruck kommen, ob Potentiale geweckt und gefördert oder ob sie in ihrer Entwicklung eher behindert werden.

Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen sich bestimmte Eigenschaften eines Menschen herausbilden, ist sowohl im Hinblick auf das einzelne Individuum als auch auf die gesamte Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Denn nur wenn sich die im Einzelnen schlummernden Ressourcen voll entwickeln können, stehen diese auch der Gesellschaft zur Verfügung. D.h., die erfolgreiche, entwicklungsadäquate Förderung der intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten eines jeden Kindes ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die in einer Gesellschaft vorhandenen Potentiale verfügbar werden.

Die Forschung aus Biologie, Psychologie, Soziologie und Ökonomie der letzten 50 Jahre hat gezeigt, dass insbesondere während der frühkindlichen Sozialisation die „Weichen“ für den gesamten weiteren Lebensweg gestellt werden. In den ersten Lebensjahren gibt es Zeitfenster, in denen bestimmte Umwelteinflüsse wirksam werden müssen, damit sich Funktionen adäquat herausbilden können. Dies gilt für elementare Wahrnehmungsfunktionen (wie Sehen und Hören), für kognitive Leistungen (z.B. Sprache und Handlungskontrolle) ebenso wie für sozial-emotionale Verhaltenseigenschaften (z.B. die Bewältigung von belastenden Situationen oder die Interaktion mit anderen Menschen).

Auffassungen über die Art und Weise, wie sich kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten entwickeln, haben eine unmittelbare Bedeutung für politisches Handeln. Aus den wissenschaftlichen Befunden ist abzuleiten, dass insbesondere die Förderung vor Schuleintritt und in den ersten Schuljahren die beste Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklung und Integration liefert, etwa die Förderung der Sprachkompetenz oder der Fähigkeiten zur Selbststeuerung.

Gezielte Fördermaßnahmen sind umso wichtiger, je geringer der sozioökonomische Status eines Kindes ist. Aber auch bei günstigen Ausgangsbedingungen müssen die im Kind vorhandenen Anlagen durch eine adäquate Umwelt gefordert und gefördert werden. Interventionen sind besonders wirksam, wenn sie zum optimalen Entwicklungszeitpunkt angeboten werden. Spätere korrigierende Maßnahmen sind nicht unwirksam, aber um ein Vielfaches aufwändiger, für das Individuum anstrengender und für die Gesellschaft teurer. Generell wird das volle Potential der intellektuellen und sozialen Leistungsfähigkeit eines Menschen nur durch die Verfügbarkeit günstiger Lern- und Erfahrungsumwelten während der gesamten Entwicklung gewährleistet, die sich von der Zeit vor der Geburt bis zum Tod erstreckt. Je erfolgreicher die Entwicklung in den früheren Phasen war, umso größer ist auch das Potential für weiteres lebenslanges Lernen und damit nicht zuletzt auch für ein „erfolgreiches“ Altern.

In der öffentlichen Diskussion sind diese grundlegenden Erkenntnisse bislang nicht hinreichend aufgenommen worden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den z.T. heftig geführten Debatten über die Ursachen individueller Unterschiede, mangelhafter Integration oder Bildungsungerechtigkeit. Viele der dabei vertretenen Thesen sind wissenschaftlich nicht haltbar. Würde man stärker die wissenschaftlich gesicherten Fakten berücksichtigen, so ließen sich die Debatten erheblich versachlichen und zielführende Maßnahmen vermutlich schneller und gewinnbringender umsetzen.

 


 

Bildungspolitische Konsequenzen

Der Besuch einer frühpädagogischen Einrichtung ist für die Entwicklung der Kinder im sozial-emotionalen wie im kognitiv-leistungsbezogenen Bereich förderlich. Längerfristige positive Effekte gehen vor allem von einer hohen pädagogischen Qualität aus.

Die pädagogische Qualität der Kindertagesbetreuung wird maßgeblich durch die Prozessqualität, also die unmittelbaren Förderprozesse in den Einrichtungen selbst, geprägt. Merkmale der Strukturqualität beeinflussen diese Prozesse. Letztere können durch politische Rahmenbedingungen verändert und verbessert werden. Zentrale Ansatzpunkte sind in diesem Zusammenhang z.B. die Verkleinerung von Gruppen, die Reduzierung der Anzahl von betreuten Kindern pro Erzieherin bzw. Erzieher sowie Verbesserungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Fachpersonals, wobei jeweils unterschiedliche Maßstäbe für unterschiedliche Altersgruppen gelten.

Eine programmbasierte Förderung im vorschulischen Bereich, z.B. in Kindertagesstätten, muss keine Verschulung bedeuten. Kindern sollte frühzeitig die optimale Bildungschance eingeräumt werden, indem ihre kognitive und emotionale Sozialisation gefördert wird. Dies bedeutet nicht, dass diese Kinder für ökonomische Zwecke funktionalisiert, sondern vielmehr, dass individuelle Chancen genutzt werden. Im „Kindergarten-Verschulungs- Vorurteil“ liegt oft eine falsche Vorstellung vom spielerischen und situativen Lernen! Frühkindliche Bildung hat nur wenig mit Lernen im Klassenraum im klassischen Sinne zu tun. Die Förderung einer Mehrsprachigkeit im Kindergarten z.B. bedeutet nicht, dass Kinder bereits im Kindergarten Sprachunterricht bekommen sollen. Es reicht völlig aus, in einer Kindertagesstätte Muttersprachler zu haben, um im täglichen und spielerischen Umgang miteinander eine andere Sprache zu erlernen.

Eine größere Zielgruppenorientierung kann die Effizienz von Bildungsinvestitionen erhöhen, wenn dabei Segregationseffekte vermieden werden. Insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien können von einer qualitativ guten Bildung und Betreuung profitieren. Von daher muss sich das deutsche System der Kindertagesbetreuung auch damit auseinandersetzen, wie bestimmte Zielgruppen bzw. Stadtteile besonders gefördert werden können.

Eine stärkere Einbeziehung von Familien in außerfamiliäre Bildungs- und Betreuungsprogramme kann die Effizienz der Maßnahmen erhöhen. Hohe Effizienz ist vorrangig bei pädagogischen Programmen nachweisbar, die sehr intensiv die Eltern einbezogen haben. Eine Möglichkeit für Deutschland wäre der gezielte Ausbau von Kindertageseinrichtungen hin zu Familienzentren bzw. Eltern-Kind-Zentren.

Bildungsentscheidungen werden einerseits durch herkunftsbedingte Kompetenz- und Leistungsunterschiede bestimmt, andererseits durch klassenspezifisches Entscheidungsverhalten aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der Kosten und Nutzen unterschiedlicher Bildungswege. Politische Maßnahmen müssen darauf abgestimmt werden. Zum einen sollten durch Kindertageseinrichtungen, Ganztagsschulen etc. zu geringe elterliche Unterstützungs- und Förderpotentiale kompensiert werden. Bei Migrantenpopulationen könnten diese Maßnahmen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, sprachliche Defizite zu reduzieren und so die Startvoraussetzungen im Bildungssystem anzugleichen. Zum anderen sollten Maßnahmen zur Reduktion der Bildungskosten für finanzschwache Eltern oder die bessere Vermittlung der Erfolgsaussichten von Bildungswegen befördert werden.

Institutionelle Rahmenbedingungen haben einen erheblichen Einfluss auf die Bildungschancen der Kinder und somit auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungsverlauf. Offenere, d.h. durchlässigere Systeme bieten bessere Chancen, eine höhere Bildung zu erlangen. In starreren Systemen mit früher Selektion werden insbesondere die Chancen unterer sozialer Schichten beschnitten.