Qualität in der KiTa: Über blinde Flecken und ideologische Vorurteile

Die Entwicklungs- und Kulturpsychologin Prof. Dr. Heidi Keller nimmt in diesem Beitrag Stellung zu der aktuellen und insbesondere vom Thema Bindung bestimmten Qualitätsdebatte in deutschen Krippen und beleuchtet dabei kritisch einige ideologische Vorannahmen.

 
Die Frage nach der Qualität in Kitas wird seit den 1970er Jahren immer wieder - mal heftiger, mal moderater - geführt. Erstaunlicherweise haben sich auch die Themen über diesen langen Zeitraum kaum verändert. Der sogenannte Personalschlüssel, d.h. die Relation von pädagogischen Fachkräften zu Kindern, soll günstiger sein (mehr Fachkräfte für weniger Kinder), die Elternarbeit bzw. wie es heute heißt die Erziehungspartnerschaft soll besser werden, es soll ausreichend Raum zur Verfügung stehen, die Ausbildung des pädagogischen Personals soll besser werden, die Bezahlung, Arbeitsbedingungen und das Ansehen dieser Berufsgruppe sollen verbessert werden. Insgesamt soll die pädagogische Qualität gesteigert werden, dies verstärkt seit dem „Pisaschock“ 2001.

Woran liegt es, dass sich offensichtlich nichts ändert, trotz der immer wieder konstatierten Brisanz des Themas? Ein Grund könnte sein, dass Bund und Länder nicht bereit sind, genug Geld in die Verbesserung der Situation zu investieren, es könnte (zudem) daran liegen, dass vorhandenes Geld so investiert wird, dass es nicht wirklich nutzt, z.B. in teure Programme mit wenig oder keinem Effekt (Beispiel: Sprachförderung) oder in Betreuungsgeld, dessen volkswirtschaftlicher und bildungspädagogischer Schaden vorhersagbar ist.

Vielleicht liegt es aber auch, zumindest teilweise, an der ideologischen Überfrachtung der Debatte, die von der Frage nach der Wirkung von Fremdbetreuung allgemein nicht getrennt ist. Um es vorweg gleich klar zu sagen: es gibt keinen einzigen wissenschaftlich haltbaren Beleg dafür, dass Fremdbetreuung, und zwar egal wann sie beginnt und wie lange sie andauert, sich auf die kindliche Entwicklung generell oder die (Mutter-Kind-)Bindung (darauf werde ich noch zurückkommen) im besonderen negativ auswirkt. Ganz im Gegenteil: Werden überhaupt Effekte festgestellt, sind es (geringe bis moderate) positive Zusammenhänge - und das bei der konstatierten mittelmäßigen Qualität in den Einrichtungen. Die viel zitierte erhöhte Verhaltensauffälligkeit der Kitakinder (übrigens nur im Urteil der Fachkräfte, nicht in dem der Mütter) in der berühmten NICHD Studie war bei späteren Erhebungszeitpunkten auch wieder verschwunden. In jedem Fall hat die Familie den wichtigsten Einfluss auf die Entwicklung von Kindern  (in Deutschland noch stärker als in anderen europäischen Ländern) für den Bildungsweg.  Es ist also wenig hilfreich, wenn die Krippenqualität generell mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht wird wie z.B. in dem Interview mit Karl Heinz Brisch in der ZEIT vom 16. Januar 2014 (Risiko Krippe?)


Beurteilung der Qualität orientiert sich ausschließlich an einer westlichen Mittelschichtphilosophie

Das heißt jedoch nicht, dass die entwicklungsfördernden Aspekte der Kita nicht in den Blick genommen werden sollten, besonders im Hinblick auf die mögliche Ergänzung  familiärer Entwicklungsgestaltung. Damit sind wir zurück beim Thema Qualität: Dabei geht es nicht nur um die Frage der Qualität der Einrichtung sondern vorab muss verstärkt die Frage nach der Qualität der Messinstrumente gestellt werden. Diese messen, was sie messen. Qualität in Krippe, Kindergarten und Tagesbetreuung wird in verschiedenen internationalen Untersuchungen mit vergleichbaren Instrumenten gemessen, zumeist Skalen, in denen bestimmte Dimensionen wie "Platz und Ausstattung", „Betreuung und Pflege" oder "Zuhören und Sprechen" anhand vorgegebener Kategorien beurteilt werden. Dabei werden Punkte für die verschiedenen Bereiche vergeben, die dann zu einem Gesamtmittelwert verrechnet werden. Auf die Problematik solcher Skalen und der Qualitätssicherung in ihrer Anwendung kann ich hier nicht eingehen. Wichtig ist hier, dass diese Skalen auf ideologischen oder besser gesagt auf kulturspezifischen Vorannahmen basieren. Zum Beispiel gilt das Reden über Gefühle der Kinder und Verbalisieren kindlicher Absichten (Bestnote 'ausgezeichnet' auf der Skala "Zuhören und Sprechen") nicht in allen Kulturen als angemessenes Verhalten oder gar Ausdruck exzellenter Pädagogik. Die Beurteilung der Qualität orientiert sich jedoch ausschließlich an der westlichen Mittelschichtphilosophie, die die Individualität, die Entfaltung der inneren Welt und die Wahlfreiheit (freies Spiel) in den Mittelpunkt stellen.

Selbst wenn die  "Förderung von Toleranz und Akzeptanz von Verschiedenartigkeit/Individualität"  explizites Thema ist, basiert das Qualitätsrating hauptsächlich  auf der Sichtbarkeit von Vielfalt (Kultur, Alter, Geschlecht) auf  Fotos, in Büchern oder Puzzles, und richtet damit den Fokus auf die Objektwelt. Die soziale Umgangskultur wird hingegen kaum berücksichtigt. Das führt u.a. dazu, dass viele Familien mit anderen Konzepten von Familienkultur institutionelle Betreuung nicht in Anspruch nehmen. So hört man immer wieder, wenn man denn hin hört, dass sich manche Familien sehr darüber wundern, dass ErzieherInnen Kinder fragen, was sie tun möchten, wo und mit wem sie was spielen möchten. Sie fragen sich, ob denn diese PädagogInnen nicht wissen, was sie tun sollen und wie man Kinder fördert? Und um das gleich klarzustellen, es handelt sich hier nicht um "die MigrantInnen", sondern um Familien, die ein bestimmtes soziokulturelles Milieu repräsentieren, in dem eher niedrige formale Bildung ein zentraler Organisator ist - und viele Familien mit Migrationshintergrund gehören zu dieser Gruppe, aber auch viele deutsche Familien ohne Migrationshintergrund.

Und um noch etwas klarzustellen: Familien mit niedriger formaler Bildung sind nicht per se Problemfamilien, sondern sie haben in den allermeisten Fällen lebendige Familienkulturen mit vielfältigen Ressourcen. Allerdings ist in vielen Familien das Erlernen der deutschen sog. Bildungssprache sicher nicht einfach, so dass eine außerfamiliäre Sprachbildung von individuellem wie gesellschaftlichem Interesse wäre. Auch hier nutzt es nichts, wenn Sprachbildung von einer Fachkraft für eine bestimmte Zeit am Tag oder in der Woche durchgeführt wird, sondern Kinder lernen Sprache natürlich durch Teilnahme an alltäglichen bedeutungshaltigen Unterhaltungen, die an den familiären Kommunikationsstil anknüpfen müssen, damit sich die Kinder überhaupt an Konversationen beteiligen. Alltagsbasierte Sprachbildung bedeutet, dass alle Personen, die in der Kita mit den Kindern sprechen, in allen Situationen sprachbildend wirksam sind - und dafür sollten sie ausgebildet sein. Das wäre gute Qualität.

 
Bindungstheorie mit ideologischen Vorannahmen

Viele Familien verstehen auch überhaupt nicht, wozu die langsame Eingewöhnung in die Kita gut sein soll – und da sind wir bei der auch nach 50 Jahren in ihren Grundannahmen unveränderten Bindungstheorie und ihren ideologischen Vorannahmen. Dazu zählen u.a. das Primat einer signifikanten Beziehung, die dyadisch (und in der Regel auf die Mutter bezogene) exklusiv definierte Sensitivität und Responsivität auf kindliche Signale, neuerdings auch die Mentalisierung, d.h. das Verbalisieren von Gefühlen, Wünschen, Intentionen, Vorstellungen aus der Perspektive des individuellen Kindes. Verbunden mit der grundlegenden Annahme der sicheren Bindung als einzig beste Vorbereitung auf ein erfolgreiches Leben gehen sie an der Realität und den Idealen von mindestens 95% der Weltbevölkerung vorbei, von denen nicht wenige auch in Deutschland leben. Gelebte Vielfalt im Kitaalltag auch im Hinblick auf Beziehungsgestaltung wäre ebenfalls ein Zeichen guter Qualität.

 
Peer-Beziehungen als wesentliche Dimension des Wohlbefindens

Und noch ein weiterer Punkt ist wichtig für die Qualitätsdebatte: die Bedeutung der Kindergruppe als soziales und pädagogisches Medium - und als wesentliche Dimension des Wohlbefindens. Viele Kinder freuen sich morgens darauf in die Kita zu gehen – und zwar nicht unbedingt, um dort eine bestimmte Erzieherin zu sehen, sondern um ihre Freunde zu treffen. Kinder beobachten sich und lernen voneinander, besonders in altersgemischten Gruppen. In der Entwicklungspsychologie ist unbestritten, wie wichtig Kinder für andere Kinder sind, für die soziale und kognitive Entwicklung sowie für das Wohlbefinden. Und hier ist die ErzieherIn in einer anderen Qualität gefragt, nämlich als ModeratorIn von Gruppenprozessen. Gemeinsames Tun lässt Kinder Zusammengehörigkeit praktizieren und die Gruppenidentität stärken, wesentliche Ergänzungen zu dem allgegenwärtigen pädagogischen Blick auf das individuelle Kind. Und da ergeben sich wie von selbst auch Überschneidungen zwischen verschiedenen kulturellen Vorstellungen. Diese Prozesse würden natürlicherweise erleichtert durch multikulturelle Teams in Kitas. Warum finden diese Aspekte keinen Einzug in die pädagogische Qualitätsdiskussion?


Zum Weiterlesen:

Qualität in KiTas
Was macht eine gute KiTa aus?
 



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