Martha Muchow (1892-1933)


Mit Beginn des 20. Jahrhunderts begann der rasante Aufschwung der Kinderpsychologie (einschl. Entwicklungspsychologie). Zu den einflussreichsten Vertretern dieser wissenschaftlichen Disziplin gehörten "insbesondere Clara und William Stern sowie ihre Mitarbeiterin Martha Muchow" (Wasmuth 2011, S. 372). Letztgenannte hatte sich als eine der ersten weiblichen akademischen Wissenschaftler mit der öffentlichen Kleinkindererziehung befasst. Sie forderte, dass im Kindergarten "erzieherische Grundsätze der modernen sachgemäßen Erziehung des Kleinkindes" (Muchow 1929, S. 14) angewandt und sämtliches "pädagogisches Tun psychologisch" (ebd., S. 16) untermauert werden müssten.
 

Leben und Wirken

martha muchowMartha Muchow (Quelle: Ida Seele-Archiv)Martha Marie wurde als erstes Kind des Zollinspektors Johannes Muchow und dessen Ehefrau Dorothee, geb. Korff, am 25. September 1892 in Hamburg geboren. 1913 legte sie das Lehrerinnenexamen ab und  war anschließend u. a. an einer „Höheren Mädchenschule“ im dänischen Tondern sowie einigen Volksschulen in Hamburg tätig. Nebenher besuchte sie noch psychologische Veranstaltungen des „Psychologischen Laboratoriums“ am „Kolonial Institut“ (Vorläufer der Universität Hamburg) und beteiligte sich ferner als ehrenamtliche Mitarbeiterin an schulpsychologischen Untersuchungen. 1919 studierte Martha Muchow Psychologie, Philosophie, deutsche Philologie und Literaturgeschichte an der neu gegründeten Universität der Hansestadt Hamburg. William Stern, Professor für Psychologie, wurde schnell auf die begabte Studentin aufmerksam und erwirkte bei der Schulbehörde ihre Beurlaubung aus dem Schuldienst um sie als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin (ab 1930 „Akademischer Rat“), einzustellen. 1923 promovierte Martha Muchow  mit einer Arbeit über „Studien zur Psychologie des Erziehers. Methodologische Grundlegung einer Untersuchung der erzieherischen Begabung“. Ab 1927 lehrte sie noch Kinder- und Jugendpsychologie im neu eingerichteten Jugendleiterinnen-Lehrgang des Hamburger Fröbelseminars. Dadurch setzte sie sich verstärkt mit der Kindergartenpädagogik auseinander und mit der Pädagogik Friedrich Fröbels.

Die Wissenschaftlerin erhielt immer wieder interessant Forschungsangebote aus dem Ausland, u. a. aus den USA. Doch sie lehnte alle Offerten ab, war sie doch sehr mit ihrer hanseatischen Heimat verbunden. November 1930 schrieb sie aus Washington: „Wenn ich nicht so tief in meiner Arbeit verwurzelt wäre, könnten mich vielleicht einige Angebote verlocken, hierzubleiben, wenigstens für ein paar Jahre. Aber gerade hier merke ich doch, wie sehr kultur- und schicksalverwachsen ich im Grunde bin, so daß selbst ungeahnte Mittel für ungeahnte Forschungsarbeiten mir nichts sagen können“ (zit. n. Hintze 2001, S. 164)

Anfang April 1933 wurde Prof. William Stern wegen seiner jüdischen Versippung aus der Universität Hamburg ausgesperrt, Folgend musste Martha Muchow die Übergabe des „Psychologischen Laboratoriums“ der Universität Hamburg an den von den Nazis gestellten Erziehungswissenschaftler Gustav Deuchler vornehmen. Zwei Tage nach ihrem Geburtstag beging sie einen Selbstmordversuch. Sie hatte den Gashahn aufgedreht und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen und Martha Muchow starb nach zwei Tagen Krankenhausaufenthalt. Bis heute konnte letztlich nicht mit der gebotenen wissenschaftlichen Akkuratesse der Grund für ihren Freitod eruiert werden. Fest steht, dass sie sehr unter dem plötzlichen Tod ihrer „über alles geliebten Mutter“ (Hintze 2001, S. 196) litt. Fest steht aber auch, dass Martha Muchow seinerzeit seitens der „braunen Administration“ schärfsten Diffamierungen ausgesetzt war. Sie wurde als „Judengenosse“ und „marxistisch eingestellte Demokratin“ desavouiert, die mit Menschen „nicht arischer Herkunft zusammenarbeitet“ und „intensive Kontakte zu jüdischen Wissenschaftler pflegt“ (Hintze 2001, S. 196 f). Als sie schließlich, genau an ihrem 41. Geburtstag, ihrer wissenschaftlichen Assistentenstelle enthoben wurde und somit wieder in den Schuldienst zurückkehren sollte, hatte Martha Muchow wohl persönlich kapituliert und sich für den Freitod entschieden. Sie verschied am 29. September 1933.


Friedrich Fröbel und die Bedeutung des kindlichen Spiels

Das Kind lebt, so Martha Muchow, in zwei Welten, in einer Spiel- und in einer Ernstwelt. Solange es in der ersten Welt lebt, wie überwiegend das Vorschulkind, gibt es keine andere kindliche Tätigkeit als das Spiel. Darum ist das Spiel auch so bedeutsam für die kindliche Entwicklung, es ist die Lebensform dieser Altersstufe, es ist "Darlegung des Inneren, des Eigenen und dessen Dinge" (Muchow 1929, S. 79). Entsprechend ist Spiel, ganz im Sinne Friedrich Fröbels, keine "Spielerei". Kann ein Kind nicht spielen, verkümmert es. Das Spiel dient nicht der Förderung und Übung einzelner Funktionen, sondern wirkt in seiner Ganzheitlichkeit. Ein derartiges Spiel ermöglicht, dass alle Kräfte und Fähigkeiten des Kindes ausgelebt und gefestigt werden.

Die Psychologin sah in Friedrich Fröbel den „modernen Kinderpsychologen“, der stets auf die Wichtigkeit des „freischöpferischen Spiels“ für die „gesunde Entwicklung“ des Kindes verwies: „Fröbel war sich wie kein anderer Pädagoge darüber klar, daß man eine Lebensstätte des kleinen Kindes nur schaffen konnte, indem man die Stätte phantasiebelebten Spieles schuf. Er wußte, daß das Spiel des Kleinkindes ‚nicht Spielerei’ ist, sondern ‚hohen Ernst und tiefe Bedeutung’ in sich trägt, daß es ‚das reinste geistige Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe’ ist“ (ebd., S. 81). Martha Muchow konstatierte folgerichtig, dass der Begründer des Kindergartens auch die Notwendigkeit, das Kind langsam zur Arbeit hinzuführen, erkannte: „Aber nicht durch einen öden Drill an Aufgaben, sondern durch langsames schrittweises Hinüberleiten zu gebundeneren Betätigungen, die zunächst immer noch eng dem Spiel verwandt bleiben, führt er das Kind dahin, Ziele zu setzen und zu verfolgen. Ein Teil der Betätigungen, die man mit unglücklichen Namen ‚Beschäftigungen’ bezeichnet, bildet dieses Übergangsstück, das neben dem Freispiel und dem Bewegungsspiel im Kindergarten als Bildungsmittel Verwendung findet. Sie sind noch nicht regelrechte werkschaffende Arbeiten, die die Wirklichkeit dauernd umgestalten wollen. In ihren Zielen sind sie noch größtenteils aus den Bedürfnissen des Spiels bestimmt. In ihnen schafft das Kind sich Dinge, die es in seinem Spiel braucht. Es lernt so, Rücksicht auf die Verwendungsmöglichkeit zu nehmen und sich gewissen Zwecken entsprechend zu verhalten“ (ebd.).


Fröbel-Montessori-Streit

Martha Muchow beteiligte sich an der seinerzeit nicht immer gerade sachlich geführten Diskussion um die Methode Maria Montessoris einerseits und der Fröbelpädagogik andererseits. Sie versuchte eine grundsätzliche Klärung herbei zuführen, „wie man sich bei der methodischen Ausgestaltung der Kleinkinderfürsorgeerziehung, die ja bis jetzt wesentlich an Fröbel orientiert ist, zu den Anregungen und den praktischen Vorschlägen der italienischen Ärztin Maria Montessori stellen soll“ (Muchow 1927, S. 59). Die kindliche Phantasie betreffend, sah sie den größten Unterschied zwischen Fröbel und Montessori. Dazu schrieb Martha Muchow: „Sieht Fröbel in ihr das Lebenselement des Kindes, an das alle Erziehung sich anpassen muß, so ist sie für Maria Montessori nur ein unerfreuliches und möglichst zu unterdrückendes Erbteil unzivilisierter Vorfahren. Im Kinderhaus wird daher jede Regung der Phantasie unterdrückt und das Kind zur Beachtung der realen Verhältnisse angeleitet. Bilderbücher und Märchen, die seine Phantasie befruchten könnten, Reigenspiele und Darstellungsspiele, die zu einer Erzeugung von Phantasiesituationen verleiten, sind vom Programm des Kinderhauses ausgeschlossen“  (Muchow 1927, S. 172). „Diese Unterdrückung der Phantasie“ schrieb Martha Muchow, „ist ohne Zweifel der größte und empfindlichste Fehler des [Montessori; M. B.]Systems“ (ebd., S. 15).  Aber auch das kindliche Spiel betreffend gibt des deutliche Diskrepanzen zwischen Fröbel und Montessori. Wie schon ersichtlich wurde, hatte Fröbel dem kindlichen Spiel hohe Aufmerksamkeit gezollt, es als des Kindes ureigenste Tätigkeit hervorgehoben. Demgegenüber betonte Martha Muchow, dass das Montessori-Kinderhaus das Spiel geradezu vernichte, "indem es den Gewinn des Spiels nur in der Übung der Organe und Fertigkeiten des psycho-physiologischen Organismus, aber nicht der personalen Totalität sehend, diesen Gewinn möglichst sicher einzubringen versucht( ebd., S. 164).

Käthe Stern, Leiterin des Breslauer Kinderhauses und Vertreterin des „Erweiterten Montessori-Systems“, bescheinigte Martha Muchow, dass sie versuchte „beider Systeme gerecht zu werden" (Hintze 2001, S. 54), hielt ihr jedoch entgegen: "Da sie  (Martha Muchow; M. B.) aber die Montessori-Praxis sehr viel weniger kennt als die Theorie, wird gegen manches angekämpft, was auch in der strengeren Praxis gemildert auftritt. In vielen Punkten teilen wir ihre Kritik der ‚orthodoxen Methode’, und zwar an allen den Stellen, in denen das „erweiterte System’ zum Ausbau geschritten ist und damit die mit Recht gerügten Mängel abgestellt hat. Muchow weißt darauf hin, daß ein – freilich unbeabsichtigtes – Verdienst der Montessori-Methode darin liege, daß mit neuem Feuereifer - Fröbel studiert wird.“ (ebd.)

Helge Wasmuth fasst prägnant Martha Muchows kritische Ausführungen zum "Fröbel-Motessori-Streit" wie folgt zusammen:

"Insgesamt gelangte Muchow zu dem Urteil, dass Montessori zwar wertvolle Anregungen, aber kein restlos befriedigendes System einer Erziehung biete... Vor allem das nicht anerkannt werde, dass das Kind eine andere Wahrnehmungs- und Denkweise besitze, wurde von ihr kritisch gesehen... Fröbel habe dagegen das Kind qualitativ anderes erkannt. Das Kind müsse als Wesen mit einer 'wesenhaft anderen, durch urtümliche Ganzheit gekennzeichneten Art des Erlebens und des Bewusstseins, mit einer infolgedessen auch ganz andersartigen Welt verstanden werden'..., es brauche keine 'nach rationalen Prinzipien vom Erwachsenen her konstruierte Welt'... Schon Fröbel habe verstanden, was heute gedacht wird: 'Wir erkennen die Welt des Kindes als eine solche, in der die Inhalte ungemein viel labiler und umdeutbarer sind, in der die gefühlsmäßig-affektive und die wahrnehmungsgemäße Fassung dessen, was für uns Dinge von dauernder Konstanz sind, ineinander gehen'... Insgesamt hielt sie Fröbel für durchaus modern. Vor allem das Wesen der Erziehung und des Kindes habe er besser verstanden... Montessoris Beitrag liege dagegen nicht in der Philosophie der Erziehung, sondern in dem, was sie zur 'psycho-physiologischen Unterbauung der Erziehung'... geleistet habe, in ihrem Beitrag zur praktischen Methodik, die als Anregungen aufgenommen werden sollten. Ihre Einsichten müssten in eine 'umfassendere Wesenserfassung des Kindes und der Bildungsprozesse eingeordnet werden'“ (Wasmuth 2011, S. 380 f).

 

Literatur

  • Berger, M.: Martha Muchow (1892-1933). In: Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch. Frankfurt/Main 1995, S. 146-150
 
  • Ders.: Frauen in sozialer Verantwortung. Martha Muchow, in: Unsere Jugend 2013/H. 7+8, S. 343-346

  • Hintze, K.-H.: Martha Muchow und ihr Beitrag zur Erforschung der frühkindlichen Sozial-, Denk- und Bewußtseinsentwicklung (unveröffentl. Diplomarbeit), München 2001

  • Muchow, M.: Das Montessori-System und die Erziehungsgedanken Friedrich Fröbels. In: Hecker, H./Muchow, M. (Hrsg.): Friedrich Fröbel und Maria Montessori. Leipzig 1927

  • Muchow, M.: Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Erfurt 1929

  • Wasmuth, H.: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen. zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland bis 1945, Bad Heilbrunn 2001


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