Eingewöhnung in der Krippe: Signale wahrnehmen

Kommen Kinder in die Krippe ist das ein großer Schritt – auch für die Eltern. Kerstin Hochmuth von "Mein Kita" im Gespräch mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Karl-Heinz Brisch über Bindungsmuster, das nötige Feingefühl und den Einfluss der Eltern bei der Eingewöhnung.

  • Die Krippe ist häufig die zweite große Station im Leben eines Kleinkindes. Nach Mama und Papa heißt es nun, sich an neue Menschen und eine fremde Umgebung zu gewöhnen, sich neu zu binden. Doch wie entstehen  Bindungen eigentlich?

brisch 125Kinder wollen sich binden, das ist ein Grundbedürfnis wie Hunger und Durst. Das Band wird dabei jedoch nicht durch die Verwandtschaft hergestellt, sondern durch bestimmte Verhaltensweisen.
Wer die Signale eines  Kindes feinfühlig wahrnimmt, sie richtig beantwortet und auf sie reagiert, wie zum Beispiel Blickkontakt mit dem Baby hat oder mit ihm über das spricht, was es emotional beschäftigt, entwickelt eine gute Bindung zum Kind.

 
  • Was stärkt die Bindung zwischen Bezugsperson und Kind?

 Je feinfühliger eine Person auf die kindlichen Bedürfnisse eingeht, desto sicherer wird die Bindung.  Hauptbindungsperson kann dabei Mama, Papa oder auch die Erzieherin sein. Das Kind entwickelt eine Art Bindungspyramide: Wer am meisten Sicherheit gibt, kann am schnellsten trösten und steht an der Spitze der Pyramide. Ist diese Person nicht verfügbar, greift das Kind auf die zweit- oder drittbeste Bindungsperson zurück.
Die Hauptbindungsperson kann dabei auch wechseln und zum Beispiel erst die Mutter, später der Vater sein, wenn sich dieser intensiv und feinfühlig um das Kind kümmert.
 
  • Spielt Zeit dabei eine Rolle?
 
Natürlich braucht man Zeit, um gemeinsam Erfahrungen machen zu können, aber diese muss auch mit feinfühliger Erfahrung gefüllt und qualitätsvoll sein; man muss mit dem Kind im emotionalen Kontakt sein und entsprechend einfühlsam mit ihm umgehen.

  • Inwiefern wirkt sich die Qualität der Bindung zwischen Eltern und Kind auf die Eingewöhnungsphase aus?

Jede Mutter geht anders mit ihrem Kind um, abhängig davon, welches Bindungsmuster sie selbst in ihrer Kindheit kennengelernt hat. Das kann ein sicheres Bindungsmuster sein, das heißt sie geht auch bei ihrem Kind liebevoll und feinfühlig auf seine Signale ein. Diese Mutter hat meist ein bindungssicheres Kind, mit dem sie nun zur Eingewöhnung in die Krippe kommt.

  • Welche Muster gibt es noch?

Es gibt bindungsvermeidende Eltern, die die Ängste ihres Kindes bagatellisierenoder zurückweisen, indem sie beispielsweise die kindliche Angst vor Geistern oder Schmerzen nicht ernst nehmen. Solch ein Kind verinnerlicht, dass es seine Angst nicht zeigen darf und geht nicht mehr zu den Eltern. Kinder, die bindungssicher sind, weinen, rufen, holen sich Hilfe, bindungsvermeidende Kinder tun das nicht.


  • Wie äußern sich diese unterschiedlichen Bindungsverhalten in der Eingewöhnungszeit?

Das bindungssichere Kind sitzt auf dem Schoß der Mutter, lässt sich langsam auf das Spiel der Erzieherin ein, spielt zunächst zu Mamas Füßen, dann mit Mama und Erzieherin und wird sich irgendwann von der Fachkraft füttern und im Beisein der Mama wickeln lassen. Ausgehend von der sicheren Basis der Mutter, baut es eine sichere Basis mit der Erzieherin auf, die dann zur weiteren sicheren Bindungsperson wird. Mama kann dann schon mal spazieren gehen, sollte aber erreichbar sein, falls doch Stress aufkommt. Dann sollte sie zurückkommen und ihr Kind trösten. So weiß das Kind, dass die Mama im Notfall da und erreichbar ist. So werden aus Mama und Erzieherin im Idealfall zwei sichere Häfen.

  • Wie verläuft die Eingewöhnung bei einem Kind ohne sichere Bindung?

Ist ein Kind bindungsvermeidend, signalisiert es keine Trennungsangst. Es hat zwar auch Angst, hat aber gelernt, diese nicht zu zeigen. Mütter meinen dann häufig, dass hier keine Eingewöhnung nötig sei und sich das Kind überall sicher fühlt. Solch ein Verhalten ist jedoch ein Zeichen von hoher emotionaler Unsicherheit, die das Kind gelernt hat zu   verbergen. Da diese Kinder leicht zu handhaben sind, kümmert sich oft auch niemand besonders um sie. Diesen Kindern geht es aber nicht gut und die Phasen vor und nach der Trennung bedeuten großen Stress für sie. Weil sie diesen nicht ausdrücken, werden sie auch immer wieder krank.

  • Was kann die Fachkraft hier tun?

Wenn die Erzieherin sieht, dass die Mutter bindungsvermeidend ist und meint, dass ihr Kind keine Eingewöhnung braucht, dann muss sie sich ganz besonders um dieses Kind kümmern. Die Eingewöhnung braucht Zeit und auch für die Mütter ist es wichtig, zu erkennen und zu verstehen, welchem Muster sie selbst folgen. 

  • Gibt es noch weitere Muster?

Zwischen Mutter und Kind kann auch eine ambivalent-unsichere Bindung bestehen. Hier hat die Mutter schon von ihrer Mutter ein „Komm her – geh weg!“-Verhalten erfahren. Da nimmt die Mutter das Kind, das von der Schaukel gefallen ist, auf den Arm und tröstet es, um gleich danach mit ihm zu schimpfen. Dieses gleichzeitige Beruhigen und Angst machen aktiviert das Bindungssystem, sodass das Kind gar nicht zur Ruhe kommt, um sich auch von der Mutter wieder zu lösen. Lust und Zeit, die Umgebung zu erkunden, bleiben auf der Strecke.
 
  • Wie wirkt sich das in der Eingewöhnungszeit aus?

Ambivalent gebundene Mütter sitzen an der Tür und können sich kaum trennen. Einerseits animieren sie ihr Kind mit der Erzieherin zu spielen, gleichzeitig machen sie ihm Angst und senden ständig Doppelbotschaften wie „Mama kommt gleich wieder, du brauchst keine Angst haben, dass Mama dich vergisst“. Das Kind bekommt dadurch erst recht Angst und möchte mit. In diesen Fällen benötigen die Mütter Hilfestellung und müssen in ihren Doppelbotschaften gestoppt und selbst an die Hand genommen und getröstet werden. Für solche Mütter bedeutet die Trennung großen Stress, weil sie das selbst als Kind so erlebt haben.
 
  • Überträgt sich also das Bindungsverhalten der Mutter oder des Vaters zu den eigenen Eltern auf die Beziehung zu ihrem Kind?

Bei circa 75 Prozent der Mütter und circa 65 Prozent der Väter gibt es Übereinstimmungen zwischen dem Bindungssystem der Mutter beziehungsweise des Vaters und dem Kind. Das gleiche Kind kann aber auch mit der Mutter bindungssicher, mit dem Vater bindungsvermeidend und mit der Großmutter bindungsambivalent sein, weil sie unterschiedlich mit dem Kind umgehen.

  • Was können sowohl die Fachkräfte als auch die Eltern tun, um dem Kind die Eingewöhnung zu erleichtern?

Es muss klar sein, wer die Eingewöhnungserzieherin ist, das kann nicht jeden Tag eine andere sein. Das heißt Erzieherin Gabi muss jeden Morgen da sein und die kleine Susi empfangen. Wenn Susi dann erlebt, dass Gabi immer da ist und feinfühlig mit ihr spielt – anfangs noch im Beisein der Mama – dann wird Gabi mit der Zeit zu einer weiteren, sicheren Bindungsperson. Wenn Susi dann mal Angst bekommt, wird sie zu Gabi gehen und sich trösten lassen. Sie hat dann ein Urvertrauen zu Mama und Gabi. Kinder können sehr gut mit mehreren Bindungspersonen umgehen – natürlich wäre es gut, es wären alles sichere Bindungen.

  • Welche Rolle spielt die Beziehung zwischen den Eltern und den Fachkräften bei der Eingewöhnung?

Eltern und Fachkräfte müssen gut zusammenarbeiten, nur so kann sich das Kind sicher fühlen und an die neue Situation gewöhnen. Ein Kind schnappt sofort die Stimmung auf. Klappt die Beziehung zwischen Erzieherin und Mutter nicht, sollte die Bezugsperson wechseln. Am besten man prüft beim Vorgespräch, ob man miteinander klar kommt.

  • Zur Unterstützung von Fachkräften und Eltern haben Sie sogenannte SAFESpezial-Kurse entwickelt. Um was geht es in diesen Kursen?

In den Kursen erfahren Erzieherinnen und Erzieher sowie auch die Eltern mithilfe von Videoschulungen alles über Bindung, Bindungsentwicklung, Feinfühligkeit und Eingewöhnung. Denn Erzieherinnen sind nicht immer geschult, Signale von Kindern wahrzunehmen, richtig zu erkennen und das zu tun, was eine feinfühlige, sichere Bindung auf den Weg bringt.

  • Wie sieht diese Videoschulung aus?

Wenn die Eingewöhnung losgeht, unterstützen und begleiten wir die Fachkraft dabei und zeichnen Videos auf, die sie beim Spielen oder Wickeln mit dem Kind zeigen. Auch die Mutter wird in ihrem Umgang mit dem Kind gefilmt. So  bekommen sowohl die Fachkräfte als auch die Mütter individuelle Rückmeldungen zu ihrer Interaktion mit dem Kind und ihrer Feinfühligkeit.

  • Was ist das Ziel?

Zum einen schult es die Wahrnehmung von Fachkräften und Eltern. Zum anderen sehen wir, wie die Bindungsentwicklung verläuft und wie das Kind nach sechs Monaten an die Erzieherin gebunden ist. Darüber hinaus sehen wir uns auch das Bindungsverhalten und die Bindungsgeschichte von Mutter, Vater und auch der Erzieherin an. Sind ungelöste, stressvolle und traumatische Erfahrungen aus ihrer Kindheit an Bord, behindert das einen Teil der Feinfühligkeit. Dann braucht ein Elternteil oder auch die Erzieherin eine professionelle Begleitung oder Therapie, um die eigenen Kindheitsgeschichten gut aufzuarbeiten, damit sich die eigenen, traumatischen Kindheitserlebnisse nicht wiederholen.

  • Wo werden SAFE-Kurse angeboten?

Bislang gibt es sie nur in Berlin, Hannover, München, Graz und Wien. Wir werten derzeit jedoch die Ergebnisse der bisherigen Kurse aus und möchten sie gerne deutschlandweit anbieten.


Zur Person:
Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Karl-Heinz Brisch leitet die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians- Universität München. Er erforscht die frühe Bindung zwischen Eltern und Kind und hat Fortbildungen für Kita-Fachkräfte und Eltern zum Thema Bindung entwickelt.

Informationen zum SAFE-Programm sowie Fortbildungsterminen finden Sie unter: www.safe-programm.de


Erstveröffentlichung unter dem Titel "Signale wahrnehmen" in: Meine Kita – Das didacta Magazin für den Elementarbereich, Ausgabe 3/2013, Seite 8 - 12. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von "Meine KiTa"




Zum Weiterlesen:

Eingewöhnung: Modelle und Rahmenbedingungen

Eingewöhnung in der Krippe: Signale wahrnehmen

Das Münchener Eingewöhnungsmodell




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