Kinder mit Migrationshintergrund und ihre Lebenslagen

Interview mit Kirsten Bruhns vom DJI zum Kinder-Migrationsreport

Rund ein Drittel der Kinder unter 15 Jahren in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Gleichwohl sind neun von zehn von ihnen in Deutschland geboren, sieben haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten leben in Familien mit hohem sowie mittlerem Berufs- und Bildungsniveau. Und obwohl die Mehrheit der Kinder mit  Zuwanderungshintergrund nicht in Armut lebt, verfügen sie deutlich häufiger als Kinder ohne Migrationshintergrund über nur geringe kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen im Elternhaus. Dies sind unter anderen Ergebnisse des Kinder-Migrationsreports des DJI (s. Download unten).
 
Über die Auswirkungen auf den Prozess des Aufwachsens von Kindern mit Migrationshintergrund hat DJI Online mit Kirsten Bruhns (DJI) gesprochen, die den DJI-Kinder-Migrationsreport verantwortet.

  • Frau Bruhns, nach dem Jugend-Migrationsreport, der vom DJI 2012 vorgelegt wurde, erscheint nun der Kinder-Migrationsreport des DJI. Mit Blick auf die Jüngsten stellt sich die Frage, inwieweit sich beim vieldiskutierten Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen Spezifika für Einwanderungsfamilien zeigen. Lassen sich aus den Erhebungen zur institutionellen Betreuung Schlüsse auf die Betreuungswünsche von Eltern mit Migrationshintergrund ziehen?

bruhns 150Unter dreijährige Kinder mit Migrationshintergrund werden seltener in Einrichtungen betreut als Kinder ohne Migrationshintergrund. In Ostdeutschland ist ihr Anteil aber höher als in Westdeutschland. Dies deutet darauf hin, dass sich Eltern mit Migrationshintergrund bei einem größeren Angebot, wie wir es in den östlichen Bundesländern vorfinden, auch häufiger für eine frühkindliche institutionelle Betreuung entscheiden. Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass in Ostdeutschland – trotz eines besseren Ausbaus der Kinderbetreuung für Drei- bis Sechsjährige – ein geringerer Anteil von Kindern in diesem Alter mit familialer Zuwanderungsgeschichte eine Kinderbetreuungseinrichtung, sprich: eine Kita besucht als in Westdeutschland. Das Platzangebot ist demnach wohl nicht allein ausschlaggebend für die Entscheidung von Eltern mit Migrationshintergrund, ihre Kinder institutionell betreuen zu lassen. Hierfür dürften noch weitere Einflüsse eine Rolle spielen, die für die Altersgruppe der unter Dreijährigen noch nicht ausreichend untersucht sind.

Allgemein fördern bei Kindergartenkindern neben einem ausreichenden Platzangebot ein hohes elterliches Bildungsniveau und Haushaltseinkommen, eine geringere Kinderzahl sowie längere erwerbsbedingte Abwesenheiten der Mütter die Nutzung einer Kita. Auch kulturelle und familiäre Traditionen scheinen die elterliche Entscheidung für den Kindergartenbesuch zu beeinflussen. Denn es sind vor allem Drei- bis Sechsjährige aus Familien aus Drittstaaten, die geringere Chancen haben, institutionell betreut zu werden als Kinder ohne Migrationshintergrund.

  • Der möglichst frühe Besuch einer Kindertagesstätte hätte – unter der Voraussetzung guter Förderung – positive Auswirkungen auf die Sprachentwicklung der Kinder mit Migrationshintergrund, die ja essenziell für den weiteren Bildungserfolg ist. Welche Auskunft geben hier Sprachstandserhebungen im vorschulischen Bereich und Informationen über die Sprachpraxis in den Familien? 

Leider liegen hierzu keine bundesweiten Daten aus den Sprachstandserhebungen vor. Aber im DJI-Survey Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) wurden Eltern nach dem Ergebnis solcher Untersuchungen gefragt. Kinder mit Migrationshintergrund haben danach zwar einen höheren Sprachförderbedarf als Kinder ohne Migrationshintergrund; aber nur in Fällen, bei denen beide Elternteile zugewandert sind, sind die quantitativen Unterschiede nennenswert. Der Sprachförderbedarf ist auch dann deutlich höher, wenn in der Familie neben Deutsch noch  eine andere Sprache gesprochen wird. Anzumerken ist jedoch, dass selbst in dieser Gruppe über 60 Prozent keinen Sprachförderbedarf haben.

  • Und in der Schule?

Mit dem Schuleintritt gewinnt die Kommunikation in deutscher Sprache in Migrationsfamilien an Bedeutung: Mehr als drei Viertel der Sechs- bis Achtjährigen mit Migrationshintergrund sprechen nach Angaben ihrer Eltern mit diesen und noch häufiger mit den Geschwistern zuhause überwiegend Deutsch. Das sind deutlich mehr als noch im Alter unter sechs Jahren.

Darüber hinaus finden wir in den Familien in höheren Sozialschichten öfter eine hauptsächlich deutsche Sprachpraxis als in niedrigeren. Und Kinder der dritten Migrantengeneration, also jene, die mindestens ein Großelternteil haben, das nach Deutschland zugewandert ist, unterscheiden sich in der familiären Sprachpraxis kaum von Kindern ohne Migrationshintergrund. Dies ist auch der Fall, wenn nur ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat. Vorurteile, die der Mehrzahl der Kinder aus Zuwandererfamilien unterstellen, dass kein Wert auf die Aneignung der deutschen Sprache gelegt wird, müssen demnach zurückgewiesen werden. Aber natürlich sagen derartige Daten noch nichts über die Sprachqualität aus. Auch die naheliegende Annahme, dass zweisprachig aufwachsende Kinder über zukunftsträchtige Potenziale verfügen, lässt sich ohne Daten zu sprachlichen Kompetenzen nicht ausreichend bestätigen.

  • In vielen anderen Gesellschaften außerhalb Deutschlands hat sich die grundsätzliche Anerkennung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen noch nicht gänzlich durchsetzen können. Stellen Sie bei Mädchen – im Kindesalter bzw. vor dem Eintritt in die Pubertät – bereits unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen hinsichtlich Bildungsaspiration bzw. -motivation fest?

Geschlechterunterschiede bei den Kindern mit Migrationshintergrund weisen im Wesentlichen in die gleiche Richtung wie bei Mädchen und Jungen ohne Migrationshintergrund. So werden in beiden Gruppen Mädchen häufiger in die Erledigung von Haushaltsaufgaben einbezogen als Jungen; und ein höherer Anteil der Mädchen als der Jungen wird durch die Eltern beim vorschulischen und schulischen Lernen unterstützt. Von den Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte unterscheiden sich Kinder mit familiärem Migrationshintergrund in diesen Fällen nur darin, dass bei ihnen die Differenzen zwischen den Geschlechtern etwas geringer ausfallen.

Die Angaben der Eltern bzw. Kinder zur Familiensprache lassen allerdings nicht darauf schließen, dass Mädchen oder Jungen Bildungsvorteile gegenüber dem anderen Geschlecht haben, weil sie häufiger mit Eltern oder Geschwistern Deutsch sprechen. Dies gilt in der Tendenz auch noch, wenn man sich die Geschlechterdifferenzen bei Kindern unterschiedlicher nationaler Familienherkunft anschaut. Auch in der non-formalen Lernwelt der Vereine gibt es keine gravierenden Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen mit und ohne Migrationshintergrund. Zwar lassen sich unterschiedliche inhaltliche Orientierungen erkennen – Mädchen bevorzugen z.B. eher Musikvereine oder Chöre als Jungen, diese wiederum organisieren sich öfter in Sportvereinen –, was jedoch sowohl für Kinder mit als auch ohne Migrationshintergrund gilt.

  • Hinter dem Etikett „Migrationshintergrund“ verbirgt sich keine einheitliche Gruppe. Nimmt das DJI im Kinder-Migrationsreport eine Differenzierung nach Migrationsgruppen vor? 

Es ist ein zentrales Anliegen unseres Kinder-Migrationsreports zu zeigen, dass „Kinder mit Migrationshintergrund“ keine homogene Gruppe sind. Die Daten belegen, dass sich ihre Lebenslagen und Lebenssituationen teilweise erheblich nach den Regionen, in denen sie aufwachsen, nach ihrer, vom sozialen Status der Eltern abgeleiteten sozialen Position in der Gesellschaft, nach Altersstufen und nach Geschlecht unterscheiden. Außerdem sind ihre Eltern aus unterschiedlichen Ländern der Welt zugewandert. Manche Kinder haben selbst den Migrationsprozess miterlebt, manche haben in Deutschland geborene Eltern bzw. Elternteile oder sind selbst hier geboren.

Im DJI-Kinder-Migrationsreport werden die Migrationsgruppen nach der Zugehörigkeit der Kinder zu einer Migrantengeneration, also danach, ob ein Elternteil oder beide Eltern einen Migrationshintergrund haben und nach – z.T. zusammengefassten – Herkunftsländern unterschieden, sofern es die Fallzahlen zulassen und entsprechende Daten vorliegen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich zwischen den so unterschiedenen Gruppen zum Teil erhebliche Differenzen ergeben. Generell wäre es wünschenswert, die jeweiligen Merkmale untereinander in Beziehung zu setzen, so dass wir beispielsweise bei Herkunftslandunterschieden erkennen können, ob diese für alle Migrantengenerationen und sozialen Schichten gelten und wie sich zudem Mädchen und Jungen verschiedenen Alters voneinander unterscheiden. Solche Analysen sind allerdings kaum möglich, weil die Zahl der untersuchten Kinder insgesamt nicht groß genug ist.

  • Auf welche empirischen Daten stützen sich Ihre Ausführungen im DJI-Kinder-Migrationsreport?

Unser Anspruch war es, die Perspektive der Kinder mit Migrationshintergrund wiederzugeben. Wir haben deswegen nicht nur auf unsere eigene AID:A-Befragung zurückgegriffen, sondern auch Ergebnisse aus anderen repräsentativen Untersuchungen einbezogen, in denen die Kinder selbst befragt wurden, wie z.B. in der World-Vision-Studie, im LBS-Kinderbarometer. Lediglich bei den jüngeren Altersgruppen haben die Eltern Fragen zu deren Lebenswelten beantwortet. Einbezogen wurden zudem amtliche Datenquellen, wie die Schul- oder die Kinder- und Jugendhilfestatistik. Außerdem wurde zur Rekonstruktion kindlicher Lebenslagen auf Daten aus Elternangaben und aus der amtlichen Repräsentativ-Statistik zurückgegriffen. So wurden Erhebungen des Mikrozensus 2009 zur Berufstätigkeit, zur Bildungslage und zu Armutslagen in der Familie kindbezogen ausgewertet. Das heißt, diese Ergebnisse beschreiben die Situation der Kinder und nicht – wie sonst üblich – die Situation ihrer Familien.

  • Kinder mit Migrationshintergrund leben häufiger als Kinder ohne Migrationshintergrund in Armut, mit nicht-erwerbstätigen Eltern und in Familien mit einem niedrigen Bildungsniveau. Welche Rolle spielt dies für die Bildungschancen dieser Kinder?

Vergleicht man Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten und aus Familien mit sozialen oder bildungsbezogenen Risikolagen mit Kindern aus sozial und ökonomisch besser gestellten Familien und einem höheren Bildungsniveau, so zeigen sich erhebliche Unterschiede. Kinder mit einem niedrigen sozialen Status haben generell geringere Chancen, an einer institutionellen Kinderbetreuung teilzunehmen, gymnasiale Bildungsgänge zu erreichen oder von bildungsförderlichen Aktivitäten in und außerhalb der Familie zu profitieren. Differenzen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, aus verschiedenen familiären Herkunftsländern oder aus unterschiedlichen Zuwanderungsgenerationen können zu einem erheblichen Teil durch soziale Disparitäten erklärt werden.

Gleichzeitig deuten Ergebnisse multivariater Analysen jedoch darauf hin, dass der Migrationshintergrund für sich genommen ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße als soziale Lebenslagen, eine Rolle spielt – insbesondere für die Chancen auf bildungsbezogene Förderung und schulisches Fortkommen. Was sich dahinter versteckt, ob z.B. Benachteiligungen, Diskriminierungserfahrungen oder traditionelle und kulturelle Orientierungen diese Unterschiede bedingen, können wir auf Basis der vorliegenden quantitativen Ergebnisse nicht erklären. Hierzu sind tiefergehende Forschungsarbeiten zu den Alltagswelten von Kindern mit Migrationshintergrund und zur sozialen Positionierung ihrer Eltern erforderlich.
 
(Interview: DJI Online Redakteurin Susanne John)


Mit freundlicher Genehmigung des DJI

Zur Person:

Kirsten Bruhns
(Jg. 1949) ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut. Sie war Mitarbeiterin und kommissarische Leiterin der Forschungsgruppe „Migration, Integration und interethnisches Zusammenleben“ und arbeitet derzeit mit demselben Themenschwerpunkt im Forschungsschwerpunkt „Übergänge im Jugendalter“.



Zum Weiterlesen:

Interkulturelle Elternbildung


DJI-Kinder-Migrationsreport


Der DJI-Kinder-Migrationsreport stellt Daten zu Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern mit Migrationshintergrund zusammen. Diese beleuchten die Situation von Kindern mit familiärer Zuwanderungsgeschichte in der Familie, in der Kinderbetreuung und in der Schule und beschreiben ihre außerfamiliäre sowie außerschulische Freizeitgestaltung. Die Ergebnisse vermitteln einen Eindruck vom Aufwachsen von Kindern mit Migrationshintergrund und geben im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund Hinweise auf entwicklungs- und bildungsrelevante Potenziale und Benachteiligungen.