Fröbels Mutter- und Koselieder


Erst im Alter von über 50 Jahren wandte sich Friedrich Fröbel (1782-1852), der Begründer des Kindergartens (1840), intensiv der Kleinst- und Kleinkinderpädagogik zu. Er entwickelte ein System von Spiel- und Beschäftigungsmitteln, entsprechend dem jeweiligen kindlichen Entwicklungsstand. Am Beginn seines akribisch durchdachten „entwickelnd-erziehenden Systems“ stehen (sozusagen als „erste vor der ersten Gabe“) die „Mutter- und Koselieder“:

„Die Erziehung beginnt mit dem Neugeborenen, und ihr erster Ort ist nicht eine Institution, sondern die Familie; die erste Erzieherin ist keine Professionelle, sondern die Mutter, und das erste Entwicklungsmaterial ist kein Spielzeug, sondern der Körper des Säuglings“ (Hebenstreit 2003, S. 177).

Mutter-Koselieder 200Mutter-Koselieder (Quelle: Ida Seele-Archiv)Aus dieser Erkenntnis heraus schrieb Friedrich Fröbel die „Mutter- und Koselieder“, dazu angeregt von dem lang geplanten Vorhaben, „das unvollendet gebliebene Unternehmen seines Lehrers Pestalozzi, ein ‚Buch der Mütter’ zu schreiben, auf seine Art und Weise zu vollenden“ (Renner 1982, S. 186). Friedrich Fröbels Publikation ist eine Sammlung von Liedern, Reimen und Bewegungsspielen, die der Begründer des Kindergartens, nach jahrelangen und zeitraubenden Vorarbeiten, im Jahre 1844 veröffentlichte. Ihr vollständiger Titel lautet: „’Kommt, laßt uns unsern Kindern leben!’ Mutter- und Kose-Lieder. Dichtung und Bilder zur edlen Pflege des Kindheitslebens. Ein Familienbuch von Friedrich Fröbel. ‚Gar hoher Sinn liegt im kind’schen Spiel’. Mit Randzeichnungen, erklärendem Texte und Singweisen. Blankenburg bei Rudolstadt, die Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes der Kindheit und Jugend“.
 
Mit seinem zwar für die gesamte Familie gedachten Buch, wandte sich Friedrich Fröbel doch in erster Linie an die Mutter, denn er zählte das tändelnde Spiel zwischen ihr und dem Kind zu der wichtigsten pädagogischen Maßnahme der frühesten Kindheit. Die Mutter soll ihr Kind nicht nur körperlich versorgen, d. h. pflegen und füttern, denn das Kind bedarf vom ersten Tag seines Daseins an auch einer geistigen und seelischen Pflege. Der Pädagoge postulierte, dass die allerersten Erfahrungen und Lebenseindrücke des heranwachsenden Kindes sich auf sein ganzes Leben auswirken würden. Dazu Friedrich Fröbel:

„Ich habe in diesem Buche […] das Wichtigste meiner Erziehungsweise niedergelegt; es ist der Ausgangspunkt für eine naturgemäße Erziehung, denn es zeigt den Weg, wie die Keimpunkte der menschlichen Anlagen gepflegt und unterstützt werden müssen, wenn sie sich gesund und vollständig entwickeln sollen“ (zit. n. Prüfer 1919, S. I).

Am Beispiel zahlreicher Bilder aus dem Familienleben schildert Friedrich Fröbel „die Entwicklungsbesonderheiten von Säuglingen und Kleinkindern: ihre lebhafte Empfänglichkeit, ihre Kontaktfreude und ihr Bedürfnis nach Tätigkeit und Nachahmung“ (Boldt/Eichler 1982, S. 102).

IMG 20151215 0003Rezension aus dem Jahre 1911, archiviert im Ida-Seele-ArchivDas großformatige Familienbuch ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil besteht aus insgesamt sieben Mutter- und Koseliedern. Durch sie soll die emotionale Zuwendung und Bindung von Mutter und Kind intensiviert werden. 50 Spiellieder weist der  zweite Abschnitt auf. Er ist das eigentliche „Herzstück“ des Buches und dient zugleich als Bilderbuch für das etwa drei- bis fünfjährige Kind. Seine Intention ist, die Mutter anzuregen, in „Lebenseinigung“ mit ihrem Kind, dieses zu einer sinnvollen Lebensgestaltung zu führen. Demzufolge ist der inhaltliche Schwerpunkt dieser Lieder „die Entwicklung von Fähigkeiten im motorischen, sensorischen, sozia-emotionalen, kognitiven und kreativen Bereich, sowie eine erste Einführung in das Erkenntnis- und Gewerbsleben“ (Frey/Gehrlein/Wosnitza 2001, S. 147). Dem jeweiligen Spiellied, das durch Bewegungen der Hand, Finger und anderer Körperteile gestaltet wird, ist ein gereimtes Motto vorangestellt und wird von einer üppig erzählenden Rahmenzeichnung eingefasst. Aufgabe der Mutter ist, unterstützt durch die Bildtafeln, die in den einzelnen Liedern angesprochenen Motive mit eigenen kleinen Erzählungen aufzugreifen, zu gestalten und zu vertiefen. Durch ihre liebevolle Zuwendung soll das Kind zum aktiven spielerischen Mitvollziehen angeregt werden. Die Fröbelpädagogin Marie Anne Kuntze umschreibt die Bandbreite der Spiellieder wie folgt:

„Kosend hilft die Mutter dem Säugling, seinen kleinen Körper gleichsam selbst zu erobern, Ärmchen, Händchen, Finger, Füßchen, Fußzehen, sogar die Zunge als Spielstoff und Darstellungsmaterial zu begreifen… In diesen Gliederspielen läßt sie das ganze Kinderleben in wachsenden Kreisen am Kind vorüberziehen. Vom eigenen Körper führt sie hinaus in den Kreis der Familie. Aus der Familie tritt es hinaus in die Natur, sieht Mond und Sterne und Schatten, geht zu den Tieren im Wald, hört die Namen der Handwerker, die im Haus schaffen, geht in Hof und Garten, wird schließlich in die größere Gemeinschaft von Staat und Kirche geführt“ (Kuntze o. J. S. 222 f).

Ein dicht gedrängter Anhang (mit ausführlichen Prosatexten, die das Titelblatt, die Randzeichnungen zu den Spielliedern und Umschlagzeichnungen sehr detailliert kommentieren) beschließt die „Mutter- und Koselieder“. Der letzte Buchabschnitt gibt der Mutter Anregungen für mögliche Kindergeschichten und Spiele, aber auch theoretisch pädagogische (symbolische) Erläuterungen sowie didaktische Hinweise. Zugleich wird der schwer verständliche erziehungsphilosophische Hintergrund Friedrich Fröbels erläutert.

Die Illustrationen zu dem Familienbuch fertigte der  dem Kreis der Nazarener nahestehende  Friedrich Unger (1811-1858). Wenige Wochen vor  der Herausgabe  der "Mutter- und Koselieder" erschien der dazugehörende Notenband als eigenständiges Werk. Die darin enthaltenen Spiellieder wurden von Robert Kohl (1813-1881) komponiert. Beide genannte Künstler unterrichteten an der von Friedrich Fröbel gegründeten und geleiteten Bildungs- und Erziehungsanstalt in Keilhau.

Es steht wohl außer Zweifel, dass Friedrich Fröbels „Alterswerk“ für die heutige erzieherische Praxis nicht mehr 1:1 in Frage kommt. Es trägt zu deutliche Spuren ihrer Zeit. Trotzdem können die „Mutter- und Koselieder“ „aber immer wieder eine Richtschnur für alle im vorschulischen Bereich professionell Tätigen sein. Voraussetzung dafür ist eine intensive Beschäftigung mit ihnen, die zwar anstrengend, aber auf jeden Fall lohnend ist (Konrad 2006, S. 259).

 KoseliederDie Mutter- und Koselieder in einer französischen Ausgabe: Das Lied von der Uhr. Vignette zu den "Schluß-Empfindungen" aus der Vertonung der Mutter- und Koselieder von Robert Kohl (Quelle: Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen)

 

Maria Kley-Auerswald und Hans Joachim Schmutzler sind der Meinung, dass in den Mutter- und Koseliedern die ersten theoretischen wie praktischen Vorlagen für den "Ko-Konstruktive Ansatz", in dessen pädagogisch-didaktischen Mittelpunkt die soziale Interaktion steht, zu finden sind. In Fröbels Spätwerk spielt die Mutter "mit dem Kind in einer geplanten Spiel-Situation und stimuliert bzw. für die angeborene Spielfähigkeit zu vielfältiger Spielfertigkeit". Sie ermöglicht "in spielpädagogisch gestalteten Situationen die Sozial- und Sach-, Kultur- und Naturbegegnung des Kindes, stimuliert seine Selbsttätigkeit und führt zu selbsttätigem und lebenslangem Lernen". Insofern ist Ko-Konstruktion als moderner Selbstbildungsansatz in sozialer Interaktion... schon zugrunde gelegt worden und findet hier seine moderne Bergründung und Fortentwicklung" (Kley-Auerswald/Schmutzler 2015, S. 71).

 

 

Literatur

 

  • Boldt, R/Eichler, W.: Friedrich Wilhelm August Fröbel, Leipzig/Jena 1982

 

  • Frey, A./Gehrlein, B./Wosnitza M.: Fröbels ganzheitliche Pädagogik, Landau 2001

 

  • Hebenstreit, S.: Friedrich Fröbel. Menschenbild, Kindergartenpädagogik, Spielförderung, Jena 2003

 

  • Kley-Auerswald, M./Schmutzler, H.-J.: Montessori, Berlin 2015

 

  • Konrad, Ch.: Die „Mutter- und Koselieder“ von Friedrich Fröbel. Untersuchungen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Würzburg 2006 (unveröffentlichte Dissertation)

 

  • Kuntze, A. M.: Friedrich Fröbel, Frankfurt/Main/Bonn o. J.

 

  • Prüfer. J.: Friedrich Fröbels Mutter- und Kose-Lieder, Leipzig 1919

 

  • Renner, K.: Baut das Haus zum frohen Kindergarten! Zum Verständnis von Fröbels „Mutter- und Koseliedern“, in: Fröbel, H./Pfaehler, D. (Hrsg.): Kommt, laßt uns unsern Kindern leben. Friedrich Fröbels Mutter- und Koselieder, Neustadt a. d. Saale 1982, S. 185-199


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