Käthe Stern (1894 -1973)

Käthe SternKäthe Stern (Quelle: Manfred Berger 2011, S. 37)Käthe Stern gehört zu den Pionierinnen der Montessori-Pädagogik in Deutschland und war -  wie die meisten von ihnen -  jüdischer Herkunft. (vgl. Berger 2011, S. 88 ff.). Ihre bedeutendsten Publikationen zur Montessori-Pädagogik, in denen sie ausführlich die Grundlinien ihrer Kinderhauspraxis und Kinderpsychologie darlegt, sind 1932 und 1933 erschienen, „zu einem Zeitpunkt also, zu dem ein Reagieren auf sie kaum noch möglich gewesen ist. In der Tat finden sich in der Montessoriliteratur keine Hinweise darauf, dass diese Schriften noch zur Kenntnis genommen worden wären. Sie sind aber […] wichtig, weil mit ihnen nicht nur auf die (vor allem psychologische) Montessori-Kritik reagiert worden ist, sondern zudem als die ausführlichste Darstellung des sogenannten ‚erweiterten Montessori-Systems’ gelten dürfen“ (Konrad 1997, S, 228). Mit ihrer innovativen Konzeption des erweiterten Montessori Systems (vgl. dazu Konrad 1997, S, 228 ff.; Wasmuth 2011, S. 333 ff.) hatte seinerzeit Käthe Stern für Indignation in orthodoxen Montessorikreisen gesorgt, da sie „in unausgesprochenen Gegensatz zur Gedankenwelt Frau Dr. Montessoris… stünde“ (Berger 2011, S. 37).

 

Leben und Wirken


Käthe Stern wurde am 6. Januar 1894 in Breslau geboren. Sie war das zweitälteste von vier Kindern. Der Vater, Oskar Brieger, war Humanmediziner, die Mutter, Hedwig Brieger, geb. Lion, zeichnete für die Erziehung der Kinder und der Führung des Haushalts verantwortlich. Nach dem Abitur studierte Käthe Brieger u. a. Mathematik und Physik an der Universität ihrer Heimatstadt. Das Studium schloss sie 1918 mit der Promotion in Physik ab. Das Thema ihrer Dissertation lautete: „Reflexionsmessungen im Ultrarotem. Ein Beispiel zur Konstitution der Kristallhydrate“. Die promovierte Physikerin entschied sich gegen eine naturwissenschaftliche Laufbahn, sie fühlte sich mehr zu einer Arbeit mit Kindern hingezogen. Im Jahre 1919 heiratete Käthe Brieger den Humanmediziner Rudolf Stern. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. 1921 übersiedelte die junge Familie nach Berlin. Dort absolvierte Käthe Stern den ersten Montessori-Kurs auf deutschem Boden und eröffnete ein Montessori-Kinderhaus, das sie jedoch nur kurze Zeit leitete, da die Familie - aus beruflichen Gründen Rudolf Sterns - zurück nach Breslau übersiedelte. In der Stadt an der Oder gründete Käthe Stern sogleich ein Montessori-Kinderhaus, wo sie ihr erweitertes Montessori-System entwickelte und erprobte.
 
Als die Nazis an die Macht kamen, musste Käthe Stern, weil „jüdisch versippt“, sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ihr wurde angetragen, das Montessori-Kinderhaus, das sich eines guten Rufs weit über die Grenzen der Stadt Breslau hinaus erfreute, aufzulösen und erhielt ferner ein striktes Publikationsverbot. 1938 emigrierten die Sterns in die USA. Dort arbeitete Käthe Stern mit dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer zusammen und verfasste mehrer Bücher über ihre „neue Methode“ des Rechenunterrichts – „Structural Arithmetik“ genannt (vgl. Berger 2011, S. 42). Käthe Stern starb am 8. Januar 1973 in New York.

Erweitertes Montessori-System

 
Die österreichische Kindergartenpädagogin und Montessoriverehrerin Mater Margarete Schörl bezeichnete die Stern’sche „Erweiterung des orthodoxen Montessori-System“ als den besten aller seinerzeit unternommenen „praktischen Lösungsversuche“ (Schörl 1956, S. 217). Käthe Sterns kritisierte an Maria Montessori, dass diese im Laufe der Zeit immer mehr die von ihr entwickelten Materialien in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik rückte:
 
„Während M[ontessori] in der „Selbsttätigen Erziehung’ noch die handwerkliche Betätigung, den Fröbelschen Singreigen, das gemeinsame Frühstück in ihr System einbezieht, hat sie jetzt das Schwergewicht ganz auf die Materialarbeit gelegt und so eine Einseitigkeit geschaffen, die mit Recht von strukturpsychologischer Seite – am eingehendsten von Martha Muchow - angegriffen wird“ (Stern 1932, S. 5).

Käthe Sterns innovative Konzeption ist u. a. der Versuch einer Synthese der Montessori- und Fröbelpädagogik, „von beiden das Beste, beider Einseitigkeiten überwindend“ (Konrad 1997, S. 237). Des weitern berücksichtigte sie die neuesten kinderpsychologischen Erkenntnisse, beispielsweise von Karl und Charlotte Bühler, David und Rosa Katz, Hildegard Hetzer, Jean Piaget und der schon genannten Kinderpsychologin Martha Muchow. Dazu Käthe Stern:

 „Wir mussten uns dort von Montessori trennen, wo die eigene psychologische Beobachtung oder die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Forschung zum Ausbau zwangen. Da nun die heutige Psychologie in vielen Punkten bestätigt, was Fröbel intuitiv erfasst hatte, so ist allein dadurch unsere Verbindung zu Fröbel gegeben […] Fröbel hat mit genialem Blick die charakteristischen Züge der kindlichen Entwicklung erkannt, und nur dort können wir ihm folgen, wo er anstatt ‚nachzugehen und behüten’ den Kindergarten ganz auf die primitive Denkart des Kindes zuschneidet und das ‚Phantasiespiel’ organisiert. Montessori wieder betont allzu sehr, dass die ‚Phantasie’ ein Übergangsstadion kennzeichnet, um der nächst höheren Stufe willen – die in der Tat jedes Kind erklimmt – unterdrückt sie die primitiven Äußerungen. Dadurch droht tatsächlich die Gefahr, dass das Kind sich wie ein kleiner, zielstrebiger Erwachsener verhält, der ebenso wie er den Finger nicht mehr in den Mund steckt – auch zu ‚groß’ ist, um Schaffner zu spielen […] In unserem Kindergarten sehen wir das Kind mit Fröbels Augen und freuen uns an seinem Spiel. Wir helfen ihm aber vorwärts mit Montessoris klar durchdachten ‚Entfaltungsmitteln’ und Erleben seine Fortentwicklung zur Leistung“ (Stern 1933, S. 94 ff.).

Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass Käthe Stern die Förderung und Unterstützung der kindlichen Phantasie stark berücksichtigte. Ferner wird deutlich, dass die Montessori-Materialien, mit denen nur „während der ersten anderthalb Stunden jedes Vormittags […] gespielt [wurde]“ (Stern 1932, S. 10), in ihrer Bedeutung gemindert sind.

Innerhalb des erweiterten Montessori-Systems nimmt die Gemeinschaftserziehung, „in welcher innerhalb der Gemeinschaft und mit ihr verbunden die Eigenart jeden Kindes berücksichtigt wird“ (Stern 1932, S. 2), einen hohen Stellenwert ein, wobei Käthe Stern die gegen das Montessorikinderhaus vorgebrachte Kritik nunmehr gegen den Fröbelkindergarten mit seiner apodiktischen „Familien-Gruppierung“ wandte:

„Bei uns ist wirklich die individuelle Erziehung in die Gemeinschaftserziehung eingebaut. Wir ahmen nicht mit einer doch nur konstruierten ‚Familien-Gruppierung’ (wie es im Kindergarten geschieht) das häusliche Milieu nach – wir möchten eher glauben, dass auch innerhalb der Familie die Grundstimmung des Kinderhauses herrschen sollte; jeder geht der eigenen Arbeit nach, jeder ist bereit, dem anderen zu helfen, jeder sorgt dafür, dass das Haus Ruhe und Frieden atmet. So ist unserer Meinung nach eine Gemeinschaftserziehung in jedem Montessori-Kinderhaus möglich, und die Angriffe gegen die Isolierung in der Einzelarbeit scheinen auf Missverständnissen zu beruhen“ (Stern 1932, S. 140).

Die Erziehung zur Freiheit war eine weitere pädagogische Leitidee der Kinderhauspraxis im erweiterten Montessori-System. Dabei ist mit Freiheit nicht gemeint, dass das Kind tun und unerlassen darf, wann, wo und was es will. Es soll, so Käthe Stern, „nicht in Freiheit aufwachsen, sondern in Freiheit erzogen werden“ (Stern 1933, S. 3). Demzufolge geht es nicht ohne „Autorität“, die sich deutlich von Zwang und willkürlicher Autorität abgrenzt. Freiheit und Autorität müssen in Balance sein, weil nur so das Kind in Freiheit zur Ordnung, Einordnung und Unterordnung gelangen kann. Ziel der Erziehung ist der innerlich unabhängige Mensch: Ein solcher ist bereit, sich “einer als Pflicht erkannten Lebensaufgabe ganz [hinzugeben]“ (Stern 1933, S. 10).


 

Literatur


  • Berger, M.: Jüdische Förderinnen der Pädagogik Maria Montessoris – Ein Beitrag zur Geschichte der Montessori-PädagogikMontessori-Pädagogik|||||Montessoripädagogik wurde von Maria Montessori ab 1907 als pädagogisches Bildungskonzept vom Kleinkind bis zum jungen Heranwachsenden entwickelt. Leitspruch der Pädagogik ist "Hilf mir es selbst zu tun" und arbeitet mit offenem Unterricht und freien Verfügungsphasen, in dem der Lehrende dazu angehalten ist die Lernprozesse angemessen anzuregen.  im deutschsprachigen Raum (Deutschland Österreich) unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Werk vier ausgewählter Frauen jüdischer Herkunft, in: Das Kind 2001/H.29/30, S. 88 ff

  • Ders.: Erinnerung an eine in Vergessenheit geratene Montessori-Pädagogin, in: Montessori 2011/H. 2, S. 37 ff.

  • Konrad, F.-M.: Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption und pädagogischer DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  in Deutschland bis 1939, Freiburg/Brsg. 1997

  • Schörl, M.: Die Lehren Fröbels und Montessoris in der Erziehungssituation unserer Zeit, in: Kinderheim 1956, S. 214 ff.

  • Stern, K.: Methodik der täglichen Kinderhauspraxis. Psychologische und pädagogische Erfahrungen mit dem erweiterten Montessori-System, Leipzig 1932

  • Dies.: Wille, Phantasie und Werkgestaltung in einem erweiterten Montessori-System, Leipzig 1933

  • Wasmuth, H.: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen. Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland, Bad Heilbrunn 2011