Familie

Familie umfasst gegenwärtig in der Regel mindestens zwei, häufig auch drei lebende Generationen. Sie ist ein sozialer Mikrokosmos, in dem durch die genealogische Abfolge von Generationen über Erziehung und Sozialisation Kultur in der alltäglichen Lebensführung transformiert wird.
Familie als Institution verbindet auf der Meso-Ebene gesellschaftliche Strukturen und individuelles Handeln und ist von Wirtschaft, Recht, Politik und sozialstrukturellen Dimensionen wie Geschlecht, Alter, Generation und Ethnizität geprägt. Charakterisierend für Familie ist die Reproduktions- und Sozialisationsfunktion innerhalb von Generationenbeziehungen.
Zu den Klassikern der Familienforschung gehören Wilhelm Heinrich Riehl und Pierre Guilleaume Fréderic Le Play, mit denen die These von der modernen Familie entsteht. Auf Riehl geht die These vom Ganzen Haus der vorindustriellen Familie zurück, die der modernen Kleinfamilie gegenüber gestellt wird. Le Play unterscheidet patriarchalische, instabile und Stamm-Familien mit drei Generationen. Emile Durkheim entwickelt die These von der Kontraktion, nach der die Familie aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Aufgabenteilung einen großen Teil der traditionellen Aufgaben wie Erziehung, Religion und Produktion an den Staat abgibt. Diese These wird von Talcott Parsons aufgegriffen und mündet in der Annahme vom Funktionsverlust der Familie. Mit diesen Ansätzen wurde ein Mythos sowohl von der vorindustriellen Großfamilie als auch von der kleinen Gattenfamilie produziert, auch wenn vielfältige Forschungen diese Thesen zu widerlegen versuchen und man heute eher vom Funktionswandel der Familie in modernen Gesellschaften spricht. Auch René König hat auf die Existenz von Kern- bzw. Kleinfamilien vor der Industrialisierung hingewiesen und daraus abgeleitet, dass die Kernfamilie vor allem ein Produkt der sozialen Unterschicht ist, die sich ein Jahrhundert später etablierte. Lutz von Trotha geht sogar von einer Umkehr sozialer Entwicklungen der Familienform aus, der Rückkehr zur Kleinstfamilie wie im 18. und 19. Jahrhundert. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Familie halten sich gegenwärtig noch, denn sie können jeweils für sich eine gewisse Plausibilität beanspruchen.
Zeitgleich entsteht eine feministisch orientierte Familienforschung, die auf die Reproduktionsarbeit der weiblichen Tätigkeit und die Fixierung der Frauen auf die Hausfrauenrolle aufmerksam macht. Zentral wird auch die historische Familienforschung, die der Frage nach den unterschiedlichen Familienformen im historischen Prozess nachgeht.
Hinzu kommen modernisierungstheoretische Annahmen, nach denen Familie zur Wahlgemeinschaft geworden ist. Rüdiger Peuckert folgert aus der Entstandardisierung und sozialen Differenzierung der Gesellschaft ein Lebensmodell der doppelten Lebensplanung; der familienzentrierten und berufsorientierten Lebensplanung, die neue familiale Strukturmuster zur Folge hat. Unterschieden wird in einen kindorientierten, partnerorientierten und individualistischen Privatheitstypus.
Seit den 1990er Jahren existiert ein breites Forschungsfeld, wobei eine differenzierungstheoretische Sicht Familie auf ihre Funktionen in Bezug auf Reproduktion, Sozialisation, Platzierung, Freizeit und Spannungsausgleich hin untersucht und die verschiedenen pluralen Familienformen von der traditionellen alleinerziehenden Adoptions-, Stief- bzw. Fortsetzungs-, Patchwork-, Pflege-, Inseminations- bis hin zur Zwei- oder Drei-Generationen-Familie in Bezug auf verschiedene Rollen, Wohnformen und soziale Platzierung analysiert. Der Value-of- Children- Ansatz (VOC) ist auf die Analyse des Wertes von Kindern für Erwachsene in Familien ausgerichtet, mit dem Gründe reproduktiven Verhaltens mehrdimensionalerklärt werden.
Im Rahmen einer stärkeren Betonung weiterhin bestehender vielfältiger Familienbeziehungen in drei und mehr Generationen entstand eine Forschungsrichtung, die sich auf die innerfamilialen Beziehungen, die emotionale Bewältigung von Arbeit und Familie und Kindererziehung, den Zusammenhang von Familie, Verwandtschaft, Freunden und Bekannten und den Wandel zum sog. Empty-Nest sowie die Bewältigung von Scheidung, Wiederheirat und Stiefelternschaft konzentriert. Familie und Erziehung, den Wandel der Erziehungsmuster in drei Generationen hat Jutta Ecarius untersucht und die Veränderungen vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt aufgezeigt.
Familie wird gegenwärtig grundlegend als eine von Ambivalenzen gekennzeichnete Beziehungsform gedeutet. Eine weitere Richtung der Familienforschung ist die Analyse des Verhältnisses von Familienform, Erziehung, Bildung und sozialer Ungleichheit. Die Bewältigung prekärer Lebenslagen von Familien sowie das Verhältnis von Scheidung und nachfolgender Lebensform (z.B. Stieffamilie) für Kinder und deren Bildungsleistungen sind aktuelle Themen. Verglichen werden dabei auch ethnische Gruppen. Dies geht über in die kulturvergleichende und internationale Familienforschung, die ebenfalls nach Familienform, Fertilität, Bildung fragt.

 

Literatur

  • Ecarius, J. (Hg.) (2007): Handbuch Familie. Wiesbaden.
  • Gestrich, A./Krause, J.-U./Mitterauer, Michael (2003): Geschichte der Familie. Stuttgart.
  • Peuckert, R. (42002): Familienformen im sozialen Wandel. Opladen.
  • Rosenbaum, H. (1982): Formen der Familie. Frankfurt.

 


Copyright-Hinweis:
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)

 

 



Verwandte Themen und Schlagworte