Kindheitsforschung

Zu bestimmen, was ein Kind ist, heißt immer einen Begriff von Kindheit zu konstruieren, in dem sich Norm- bzw. Normalvorstellungen des Erwachsenen vom Kind konzentrieren, d. h. aber in der Konsequenz, dass wir zunächst nur historisch und biographisch untersuchen können, welches Konstrukt von Kindheit zu bestimmten historischen Zeitpunkten vorherrschte. Eine methodische, insbesondere auch eine empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Forschung über Kinder gewinnt ihren Gegenstandsbereich erst dann, wenn vorab definiert ist, was ein Kind sein soll.

In der nach ideen-, kultur-, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Paradigmen zu differenzierenden, inzwischen sehr reichhaltigen historiographischen Literatur lassen sich ansatzweise die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Kindheitskonzepten oder -bildern systematisieren. Die inzwischen nur mehr noch schwer zu überblickende Fülle sozial- und sozialisationshistorischer und -theoretischer Schriften zur Kindheitsgeschichte, maßgeblich angestoßen durch Philippe Ariés, zeigt auf, wie sich das seit dem 16. Jahrhundert durchsetzende Ideal von der Individualität des Kindes schon in dieser Zeit verdichtete zu dem für die moderne Pädagogik konstitutiven Widerspruch von Zwang und Freiheit in der Erziehung.

Der Gedanke einer kontrollierten Einwirkung auf die Kinder durch Erziehung wurde im Zeitalter der Aufklärung zum Jahrhundertprojekt, weil sich bei den Eltern das Wissen darüber entfaltete, dass das Verhalten des erwachsenen Menschen eine Konsequenz seiner Entwicklungsmöglichkeiten in der Kindheit ist. Kindheit wurde damit gleichsam entdeckt als Ressource, von deren planmäßiger und richtiger Nutzung wie in anderen Bereichen des staatlichen und ökonomischen Lebens das Wohl der (bürgerlichen) Gesellschaft entscheidend abhängig ist. Die in Jean-Jacques Rousseaus Roman Emile (1762) konstruierte kindzentrierte Lebenswelt fixiert die Grundstrukturen des modernen Deutungsmusters von Kindheit: Nach Rousseaus kopernikanischer Wende zum Kinde (Herman Nohl) entfalten die Pädagogen als Anwälte der Autonomie der Kindheit und Erziehung die These vom Eigenrecht des Kindes, d.h. die Grundüberzeugung, dass das Kind kein kleiner, unvollkommener Erwachsener ist, sondern ein Wesen, das seine Erfüllung und Reife in sich selber trägt.

Erziehung ist demgemäß angewiesen auf die im lernenden Subjekt selber angelegten (Trieb) Kräfte und seinen Gestaltungswillen. Die bei Rousseau paradigmatisch auf den Begriff gebrachte moderne Programmatik einer individualisiert-autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Kindheit im Kontext einer ebenso naturgemäßen wie vernunftgeleiteten Erziehung war im Kern antiständisch. In Anpassung an die sich etablierende sozioökonomische Vorherrschaft der Schicht der Bürger orientierte sich das neue Leitbild jedoch immer stärker an der Emanzipation des Bürgertums und der normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.en Ausstrahlungskraft des Idealtypus der bürgerlichen Familie. In diesem Rahmen wurde in den verschiedenen sozialen Ständen und Schichten mit institutionell und familial unterschiedlich organisierten Lebensweisen festgelegt, wie Kinder zu Bauern, Bürgern und Aristokraten wurden. Kindheit in einer Familienorganisation, dominiert vom ständigen Zwang, durch Arbeit aller das Existenzminimum zu sichern und die Familie vor dem Abgleiten in Not und Armut bewahren zu helfen, war im Sinne bürgerlicher Kinderkultur eine Kindheit ohne Kindheit, eine Straßen- oder Kinder-Kindheit, im schlimmsten Falle eine Aufzehrung der Kinderjahre. Die um ihre Kindheit betrogenen Kinder, die in den Manufakturen, in Handel und Gewerbe, in der proto industriellen Heimindustrie, schließlich in der rasch aufstrebenden frühkapitalistischen Industrie arbeiten mussten, wurden ohne Rücksichtnahme ausgebeutet, durchaus vergleichbar mit der heute noch in vielen Ländern der sog. Dritten Welt alltäglich praktizierten Kinderarbeit.

Aus der Perspektive historischer Sozial- und Sozialisationsforschung sowie der kulturvergleichenden Kindheitsforschung lässt sich inzwischen empirisch gehaltvoll ein Bild der Lebenslagen von Kindern ebenso wie ein Bild darüber nachzeichnen, wie sich das gesellschaftliche Wissen über Sozialisation in der gesamtgesellschaftlich und institutionell ausgestalteten Rolle des Kindes und den sie begründenden Normen niedergeschlagen hat. Die Kindheitsforschung hat sich seit den 1980er Jahren, in Aufnahme des Paradigmas der historischen Sozialiationsforschung, in Richtung neuer sozialisationstheoretischer Varianten eines Sozialkonstruktivismus orientiert, unter der leitenden Prämisse, dass Kinder aktiv an der Konstruktion und Bestimmung ihres eigenen Lebens, im Kontext der Menschen in ihrem Umfeld und der Gesellschaft, in der sie leben, beteiligt sind, und zwar mit einer Kreativität und Gestaltungsfähigkeit, die sich im Grundsatz nicht von der Erwachsener unterscheidet. Kinder werden gesehen als ökonomisch und gesellschaftlich produktive Mitglieder der Gesellschaft, wobei die Lernarbeit in Erziehung und Bildungseinrichtungen als ihr selbstständiger Beitrag zur generationalen Arbeitsteilung in modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften verstanden wird.

Konsequenterweise hat sich die Kindheitsforschung in den letzten Jahrzehnten reich entfaltet als Lebenswelt-, Kinderalltags- und Kinderkulturforschung, in der, im Rahmen der generationalen Ordnung und der Partizipation an Alltagsroutinen, die eigenständigen Formen der Ko-Konstruktion zwischen Kindern und Erwachsenen in der gemeinsamen Etablierung einer Kultur des Aufwachsens thematisiert werden. Auf der Suche nach kindspezifischer Handlungsautonomie werden die eigenen Sinn- und Wirklichkeitskonstitutionen der Kinder in ihren sozialen Interaktionen und selbst aus-gehandelten Regeln betrachtet, und zwar aus der Perspektive der Kinder, nicht für die Kinder. Folgerichtig muss die stellvertretende und normsetzende Deutung von Kindheit durch pädagogische und psychologische Experten ergänzt werden um eine (auto)biographisch orientierte Forschung, in der die Kinder als Träger ihres biographischen Selbst selber zu Wort kommen.

In der Methodologie der Betrachtungsweise aus der Perspektive der Kinder, in der die Kindheitsfor-schung sich zunehmend auf Kinder als Personen aus eigenem Recht konzentriert, nicht an zukünftigen Erwachsenen oder teleologischen Normen des Lebenslaufs, werden die Grenzen der Erziehungskindheit und ihre Selbstverständlichkeit notwendig in Frage gestellt. Forschungsmethodisch ist allerdings noch offen, ob auf diese Weise ein authentischer Einblick in die Innenwelt des Kindes gewonnen werden kann.
Die in den letzten Jahren, insbesondere mit der Vorlage der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (1989) verstärkte Debatte über die Rechte von Kindern hat die pädagogische und sozialisationstheoretisch neue Sicht auf die Autonomie der Kinder nachdrücklich untermauert, dass nämlich Kinder einen erheblichen Einfl uss auf die Gestaltung des Alltags in ihren Familien haben und in vielen kulturellen, zumal medien- und konsumorientierten Lebensbereichen selbstständige Entscheider in eigenen Belangen geworden sind. Wie jede andere Lebensphase bleibt Kindheit gleichwohl jeweils in eine generationale gesellschaftliche Ordnung eingebunden.

Diese sollte deswegen ein angemessenes Potential an persönlichen Gestaltungs-, Entfaltungs- und Förderungsmöglichkeiten gewährleisten, das rechtlich, sozial und finanziell in einer Generationenpolitik abgesichert wird, nicht zuletzt durch die universelle Verwirklichung des Rechtes auf Bildung.


Literatur

  • Behnken, I./Zinnecker, J. (Hg.) (2001): Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Seelze-Velber. 
  • Berg, C. (Hg.) (1991): Kinderwelten. Frankfurt.
  • Fried, L./Roux, S. (Hg.) (2006): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim. 
  • Honig, M.-S. (1999): Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt.
  • Hurrelmann, K./Bründel, H. (2003): Einführung in die Kindheitsforschung. Weinheim, Basel, Berlin. 
  • Markefka, M./Nauck, B. (Hg.) (1993): Handbuch der Kindheitsforschung. Neuwied.


Copyright-Hinweis:

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)

 



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