Frühpädagogik

Der Begriff Frühpädagogik (auch Pädagogik der frühen Kindheit, englisch Early Childhood Education) erstreckt sich auf alle pädagogischen Fragen vom Zeitpunkt der werdenden Elternschaft bis nach dem Eintritt des Kindes in die Grundschule (0-8 Jahre). Er thematisiert die familiale Erziehung ebenso wie alle Formen institutioneller und semiformeller Erziehung vor der Pflichtschule (Kindertageseinrichtungen, Mütter/Eltern-Kind-Gruppen, KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung. ). Er bezieht sich auf die pädagogische Theoriebildung und Programmatik, die Qualifizierung von pädagogischem Fachpersonal und von Eltern und die pädagogische Gestaltung der sozialen und räumlich-sächlichen Umwelt des Kindes. Schließlich werden unter dem Begriff auch Fragen der einschlägigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der auf diese Altersstufe von Kindern bezogenen Bildungs- und Sozialplanung sowie bildungsökonomische Fragen gefasst.

Frühpädagogik grenzt sich damit ab von anderen Begriffen wie Vorschulerziehung, Familienerziehung, Elementarpädagogik, Kindergartenpädagogik, die jeweils engere Ausschnitte und bildungsgeschichtliche Akzentuierungen des umfassenderen Aufgabenfeldes der Frühpädagogik thematisieren.

Frühpädagogische Reflexion und Theoriebildung im Engeren haben ihren Ausgangspunkt in der Entstehung des bürgerlichen Familienmodells in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit der nahezu exklusiven Zuständigkeit der Mutter für das familiale Binnenklima und das kleine Kind richtet sich das frühpädagogische Theoretisieren zunächst an die Mütter.

Jean-Jacques Rousseau weist in seinem epochemachenden Werk Emil (1762) darauf hin, dass es auf die erste Erziehung ankomme und diese Sache der Frauen sei. In der Folgezeit thematisieren Mediziner (Stillkampagnen, Hygiene und Pflege) und Pädagogen besonders aus dem Umkreis des |||||u.a. Johann Bernhard Basedow, Heinrich Christian Wolke, Christian Gotthilf Salzmann, Joachim Heinrich Campe) die große Bedeutung der frühen Lebensphase für das Erwachsensein und geben Anleitungen für eine entsprechende Früherziehung der Kinder.

Früherziehungskonzepte als Teil umfassender, weltanschaulich-philosophisch begründeter Erziehungstheorien werden mit der Fröbel-Pädagogik im 19. Jahrhundert und der Montessori- und Waldorf-Pädagogik im Zeitalter der Reformpädagogik vorgelegt. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden frühpädagogische Konzepte stärker an einzelwissenschaftliche Erkenntnisse rückgebunden (Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie, Begabungsforschung, heute auch Neurowissenschaften).

Aktuelle TheoremTheorem|||||Bezeichnung von einem Lehrsatz, Lehrmeinung oder auch einem Bestandteil einer wissenschaftlichen Theorie.e zur frühkindlichen Bildung gehen davon aus, dass das kleine Kind auf der Grundlage genetischer DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen. en sich mit seiner kulturell und sozial bestimmten Umwelt auseinander setzt und sich auf diese Weise in einem sozial-konstruktiven Prozess bildet. Das Paradigma der Frühpädagogik als Integrationswissenschaft bleibt dabei bis heute vorherrschend. Eigenständige empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Forschung und evidenzbasierte Konzepte sind bislang nur in unzureichendem Maße gegeben.

Die institutionelle Früherziehung kann in Deutschland wie in anderen zentraleuropäischen Ländern auf eine gut 200jährige Geschichte mit zwei Strängen zurückblicken. Zum Einen ist der auf Schutz vor körperlicher und geistig-moralischer Verwahrlosung gerichtete Strang der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Bewahranstalten, Warteschulen und christlichen Kleinkinderschulen zu erwähnen, zumeist für Kinder aus sozialen Unterschichten; zum Anderen der auf frühe Bildung und frühes Lernen gerichtete Strang für Kinder aus bürgerlichem Milieu, wie er im Fröbelschen Konzept des Kindergartens zum Ausdruck kommt. Der damit gegebene Gegensatz zog sich trotz bestimmter Vereinigungsversuche (Volkskindergarten) durch das gesamte 19. Jahrhundert und fand bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der Entgegensetzung eines bildungsorientierten Halbtagskinderkartens und eines betreuungs- und versorgungsorientierten Ganztagsangebots seinen Niederschlag. Die soziale und bildungsbezogene Funktion von Kindertageseinrichtungen werden heute nicht mehr als Gegensatz, sondern als wechselseitige Ergänzung betrachtet.

In der Deutschen Demokratischen Republik erfolgte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ausbau des Kindergartens als Bestandteil des allgemeinen Bildungssystems, der Mitte der 1970er Jahre ab- geschlossen war. In der Bundesrepublik Deutschland begann der Ausbau seit 1970, als der Kindergarten im Zuge der Bildungsreform zum Elementarbereich des gesamten Bildungssystems erklärt wurde. Der flächendeckende Ausbau des Kindergartens wurde im Westen erst mit dem seit 1996 geltenden Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erreicht (Kinder- und Jugendhilfegesetz, Sozialgesetzbuch VIII). Im Rahmen der kulturellen Dominanz des bürgerlichen Familienmodells mit der exklusiven Zuständigkeit der Mutter für das kleine Kind standen bis vor kurzem nur wenige Plätze für Kinder unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen zur Verfügung (2008 für ca. 18% der Kinder, allerdings inkl. Kindertagespflege). Ein Rechtsanspruch für Kinder dieser Altersstufe, verbunden mit einem entsprechenden Platzausbau, ist für das Jahr 2013 vorgesehen und soll eine Versorgungsquote von 35% erreichen.

Trotz des Charakters von Kindertageseinrichtungen als Bildungsinstitutionen, liegt die administrative Zuständigkeit anders als in den meisten europäischen Ländern im Sozial- und Jugendhilfebereich. Neben dem noch nicht abgeschlossenen quantitativen Ausbau öffentlich verantworteter Früherziehung, zu dem auch die Kindertagespflege gehört, ergibt sich auf allen Stufen und in allen Formen der Früherziehung die Notwendigkeit der Verbesserung der pädagogischen Qualität. Vorliegende Untersuchungen zeigen, dass die pädagogische Qualität im Kindergarten- wie im Krippenbereich und auch in der Kindertagespflege stark schwankt und nach internationalen Standards als im Durchschnitt nur mittelmäßig betrachtet werden kann. Zugleich verweist eine breite Befundlage darauf, dass von der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen wie auch in der Kindertagespflege (und noch mehr in den Familien) nachhaltige Effekte auf die Bildung und Entwicklung der Kinder ausgehen. Die bisherigen Formen der Qualitätssicherung (Inputsteuerung) erweisen sich dabei als nur bedingt wirksam. Neue Formen der Qualitätssicherung stützen sich daher zunehmend auf Zertifizierungen von Einrichtungen auf der Grundlage externer Begutachtungen (z.B. Deutsches Kindergarten Gütesiegel).

Bildungsökonomische Untersuchungen demonstrieren die große Bedeutung eines quantitativ zureichenden und qualitativ guten öffentlichen Früherziehungssystems für die weitere Bildungsbiographie von Kindern und Jugendlichen und belegen den außerordentlichen Nutzen von Investitionen in diesem Bereich. Neben einer öffentlich verantworteten Früherziehung mit den Kindern als direkten Adressaten wird eine gute Familienerziehung und Elternbildung zunehmend als gesellschaftliche Aufgabe erkannt. Der Ausbau von Kindertageseinrichtungen zu sog. Familienzentren, in denen neben der Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder auch eine facettenreiche Unterstützung der Erziehungskompetenz der Familien dieser Kinder zum Programm gehört, steht für diese Tendenz.

 

 

Literatur

  • Fried, L./Roux, S. (Hg) (2006): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim. – Paterak, H. (1999): Institutionelle Früherziehung im Spannungsfeld normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.er Familienmodelle und gesellschaftlicher Realität. Münster.
  • Jurczyk, K. u.a. (2004): Von der Tagespfl ege zur Familienbetreuung.
  • Weinheim. – Tietze, W. (2008): Qualitätssicherung im Elementarbereich. In: Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 53, S. 16-35.
  • Tschöpe-Scheffler, S. (Hg.) (2005): Konzepte der Elternbildung. Leverkusen.

 

 

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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)


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