Krippenbesuch - Chancen und Risiken

Im Interview mit Karsten Herrmann geht die international renommierte Entwicklungs- und Kulturpsychologin Prof. Dr. Heidi Keller auf die Chancen und Risiken eines frühen Krippenbesuchs ein.

 

 

  • Zur Zeit tobt in Deutschland eine heftige öffentliche Debatte über die Chancen und Risiken einen frühen Betreuung der Kleinsten in den Krippen. Beide Lager verweisen dabei immer wieder auf angeblich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse für Ihre Position. Gibt es überhaupt auf unsere Situation in Deutschland ausgerichtete und zugleich valide Studien in dieser Hinsicht?

 

 

Es gibt keine validen Studien, aus denen man eindeutig ableiten könnte, dass eine frühe institutionelle Betreuung für Kinder schädlich ist und beispielsweise zu sozialen Auffälligkeiten führt. Die in dieser Hinsicht verschiedentlich angeführte Längsschnittstudie „NICHD Study of Early Child Care“ deutet dies nur für eine bestimmte Gruppe unter bestimmten Bedingungen an – nämlich für Kinder mit niedrig gebildeten Müttern in qualitativ schlechten Einrichtungen und zwar auch nur für eine leichte Erhöhung der Aggressivitätswerte. Die vielen positiven Effekte einer qualitativ guten Fremdbetreuung, die in dieser Untersuchung auch gefunden wurden, werden scheinbar weniger rezipiert. Für Deutschland gibt es noch gar keine entsprechenden langfristigen Studien, die solche Aussagen zulassen.

 

Aber keine noch so aufwändig angelegte wissenschaftliche Längsschnittstudie wird uns Pauschalurteile über den Nutzen oder die Risiken eines frühen Krippenbesuches ermöglichen. Immer werden wir die Situation des einzelnen Kindes und seiner Familie differenziert betrachten müssen.


Leicht unterschlagen wird in der Debatte ja auch, dass die Krippe die Familie nicht ersetzen kann und soll, sondern sie lediglich für einen begrenzten Zeitraum pro Tag ergänzt. Trotz der zunehmenden institutionellen Betreuung in Krippe und Kindergarten hat die Familie den nach wie vor und mit Abstand größten Einfluss auf die Entwicklung und Bildung ihrer Kinder. Dies belegen zahlreiche internationale Studien wie auch jüngst die „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“, an der ich selber mitgewirkt habe.


Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass jede Familie und jede Mutter ein zu ihrem Lebensentwurf passendes Betreuungs-Setting wählen können darf, ohne in dieser ideologisch geprägten Debatte von Vorwürfen wie „Rabenmutter“ auf der einen oder „Heimchen am Herd“ auf der anderen Seite getroffen zu werden. Denn das Glück und die Zufriedenheit der Eltern strahlen ja auf jeden Fall auch auf die Kinder zurück.

 

 

  • Konsens scheint es in der Wissenschaft ja darüber zu geben, dass eine sichere Bindung die unabdingbare Grundlage für eine gesunde Entwicklung und Bildung von Kindern ist. Ist eine solche sichere Bindung nun nur zur Mutter oder allenfalls noch zum Vater möglich oder können Kleinkinder beispielsweise auch zu ihren ErzieherInnen verlässliche Bindungen aufbauen?

 

 

Eine sichere Bindung ist ohne Zweifel für die gesunde Entwicklung eines jeden Kindes notwendig. Aber wie diese Bindung sich gestaltet, kann sehr unterschiedlich sein. Die feste Mutter-Bindung als primäre, wie sie in der hiesigen Bindungstheorie favorisiert wird, ist nicht universell, sondern eine kulturelle Konstruktion, die bei uns geradezu mythische Züge angenommen hat. In vielen Kulturen, aus denen auch MigrantInnen zu uns kommen, ist die Bindung und das Vertrauen des Kindes aber kaum oder gar nicht an eine bestimmte Person, sondern vielmehr an eine Gemeinschaft, an ein ganzes soziales Setting gebunden. Das gibt ja auch das schöne und vielfach zitierte Sprichwort wieder „Für die Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes“.


In diesem Sinne können Kinder selbstverständlich auch zu einzelnen ErzieherInnen sichere Bindungen aufbauen. Aber letztlich sind solche mütterähnlichen Bindungsmuster gar nicht notwendig, wenn der soziale Raum diese Funktion übernimmt. Deshalb plädiere ich auch dafür, in der Krippen- und Kindergarten-Pädagogik viel stärker die Gruppe und die dort stattfindenden Prozesse und Interaktionen in den Blick zu nehmen.

 

 

  • Welche Chancen sehen Sie in einer frühen Krippen-Betreuung, gerade auch im Hinblick auf Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten?

 

 

Kinder aus bildungsfernen Schichten und Defiziten in der deutschen Sprache profitieren ganz eindeutig von einer frühen institutionellen Betreuung. Ganz entscheidend ist hier der möglichst frühe deutsche Spracherwerb für Kinder mit Migrationshintergrund ohne den schon ein früher Bruch in der Bildungsbiographie droht. Und übrigens gilt dies nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund, denn auch Kinder deutscher Herkunft haben immer öfter Sprachprobleme, weil in ihren Familien immer weniger geredet, erzählt und vorgelesen wird und zugleich der Medienkonsum zunimmt.


Grundsätzlich sind auch positive Auswirkungen einer qualitätsvollen institutionellen Betreuung auf kognitive und mathematische Fähigkeiten sowie auf die Selbstkompetenz der Kinder durch wissenschaftliche Studien vielfach belegt – besonders eindrucksvoll durch das „Perry Preschool Project" in den USA. Mit deren Ergebnissen untermauerte der Nobelpreisträger James Heckmann seine Forschungen zu den enormen ökonomischen Effekten einer möglichst frühzeitigen Förderung von benachteiligten Kindern. Die ökonomischen Effekte bilden bessere soziale Integration, bessere Ausbildung und damit höheres Einkommen, weniger Kriminalität und ähnliches ab. Das heisst, die positiven Auswirkungen von Krippe und KiTa auf die sozialen und persönlichen Kompetenzen der Kinder führen nicht nur für diese Kinder zu einem besseren Leben, sondern auch zu gesellschaftlichem Gewinn.

 

 

  • Was ist aus Ihrer Sicht unabdingbar, damit schon in den Krippen eine bestmögliche Förderung und Begleitung der Kleinsten stattfinden kann und was muss sich ggf. noch ändern?

 

 

Bei den Krippen ist nicht nur ein konsequenter quantitativer, sondern auch ein konsequenter qualitativer Ausbau notwendig. Viele ErzieherInnen sind derzeit nicht hinreichend für die Betreuung, Bildung und Erziehung von unter dreijährigen Kindern ausgebildet. Hier müsste eine flächendeckende Weiterbildungs-Kampagne gestartet werden. Ansätze dazu gibt es ja bereits in der WIFF. In der Elementar- und besonders auch der Krippen-Pädagogik muss das Gesamt-Setting aus Team, Raum und Kindern samt der hier stattfindenden Gruppenprozesse und Interaktionen verstärkt in den Blick genommen werden. Auf fast sträfliche Weise werden zur Zeit noch kultursensitive Ansätze zum Beispiel bei der Sprachförderung vernachlässigt – und das, obwohl bald jedes zweite Kind in den KiTas einen Migrationshintergrund hat. Ganz entscheidend ist auch die sogenannte „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ zwischen pädagogischen Fachkräften und den Familien. Nur wenn beide Systeme - KiTa und Familie – in einem intensiven, von Respekt geprägten wechselseitigen Austausch stehen, können Kinder sich bestmöglich entwickeln.
 

(Interview: Karsten Herrmann)