Unter dem Titel „Die Würde des Menschen achten" zeigte der XV. Göttinger Kongress für Erziehung & Bildung jetzt Wege zur Inklusion in Kita, Schule und Gesellschaft auf. In Kooperation mit dem nifbe hatte Kongressleiter Dr. Karl Gebauer ein sehr vielfältiges Programm aufgestellt, in dem sich die ganze Bandbreite der Inklusion widerspiegelte. Grundsätzlich, so Gebauer, gelte es „alle Menschen mit ihren einzigartigen Eigenschaften und Ressourcen, mit ihren Stärken und Schwächen anzunehmen, zu beteiligen und zu fördern – egal ob Menschen mit Handicaps, mit ganz verschiedenen kulturellen und sozio-ökonomischen Hintergründen, ob Junge oder Mädchen, ob klein oder groß."

In den rund 40 Vorträgen, Workshops und Foren wurde auch immer wieder betont, dass zur Umsetzung der Inklusion nicht nur die Bildungseinrichtungen, sondern die ganze Gesellschaft in der Verantwortung stünden. Hier müsse ein grundsätzliches Umdenken stattfinden, mit dem die Vielfalt der Menschen tatsächlich als Chance und Bereicherung angesehen werde. Sowohl in Beiträgen aus der Wissenschaft wie aus der Praxis wurde dabei die Bedeutung der Haltung und einer Wahrnehmung unterstrichen, die die Ressourcen der Menschen im Blick hat und nicht ihre Defizite oder ihr „Anderssein". Wie Inklusion im Alltag trotz aller Schwierigkeiten und stetigen Herausforderungen funktionieren kann, wurde auch in einem vom nifbe produzierten Film und einem Workshop zum Rut-Bahlsen-Zentrum in Hannover deutlich. Eine zentrale Rolle spielte dabei auch eine ständige Selbstreflexion und Überprüfung des eigenen pädagogischen Verhaltens im Rahmen von Teambesprechungen, kollegialer Beratung oder auch einer Supervision.

 

Auftaktvortrag von Annedore Prengel


„Inklusion ist immer nur bruchstückhaft und schrittweise zu realisieren, aber vieles ist auch unter schwierigen (Rahmen-) Bedingungen möglich" resümierte Prof. Dr. Annedore Prengel entsprechend vor den über 700 TeilnehmerInnen des Kongresses den derzeitigen Inklusionsprozess. Als Grundlage der Inklusion verwies die Pionierin einer Pädagogik der Vielfalt in ihrem Auftaktvortrag auf die Menschenrechte und die UN-Behindertenrechtskonvention mit den darin formulierten Leitsätzen der Gleichheit und Solidarität. In unserer „spätmodernen Demokratie" müsse der Spagat gelingen „zwischen dem Leistungsprinzip und der Inklusion pluraler Lebensweisen."

Annedore Prengel hob die inklusive Kita als Fundament eines inklusiven Bildungssystems hervor. Deutschlandweit seien mittlerweile 72% aller Kinder mit Behinderungen in einer integrativen bzw. inklusiven Kita. Hier würden schon vielfach exemplarische Ansätze zur Inklusion entwickelt und gelebt. Im Zentrum stehe dabei immer das Kind mit seinen Bedarfen und Ressourcen und dies sei „nicht nur Baustein der Inklusion, sondern jeder guten Pädagogik".

Es gehe dabei auch um Anerkennung der jeweils individuellen und nicht an einer Norm zu bewertenden Lernleistungen. Im Sinne der Chancengleichheit plädierte sie daher für ein „Lernen mit Kompetenzrastern und ein individualisierbares Kerncurriculum für alle Lernausgangslagen". Dieser Punkt bildete auch einen von „Zwölf Bausteinen einer guten (inklusiven) Pädagogik", die Annedore Prengel ihren ZuhörerInnen präsentierte.

 

Göttinger Positionspapier: Auf dem Weg zur Inklusion


Zum Abschluss des Kongresses wurde unter dem Applaus der TeilnehmerInnen auch das Göttinger Positionspapier „Auf dem Weg zur Inklusion" verabschiedet, das folgenden Wortlaut hat:


Die Inklusion ist eine Vision, der es Schritt für Schritt näher zu kommen gilt. Dafür muss sich die ganze Gesellschaft auf den Weg machen. Statt Ausgrenzung und Selektion sind gemäß der auch von Deutschland ratifizierten UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung Teilhabe und Gleichberechtigung gefragt: Jeder Mensch muss mit seinen einzigartigen Eigenschaften und Ressourcen, mit seinen Stärken und Schwächen angenommen, beteiligt und gefördert werden. Es gilt auf allen gesellschaftlichen Ebenen grundsätzlich umzudenken und die Vielfalt der Menschen als Chance und Bereicherung wahrzunehmen.

Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft nehmen die Bildungseinrichtungen eine zentrale Rolle ein: Die Kindertagesstätte ist der erste Ort, an dem Kinder in ihrer großen Vielfalt zusammen kommen, spielen, lernen und lachen können. Kinder mit und ohne Handicaps, Kinder mit ganz unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen, mit unterschiedlichen Ressourcen und Talenten. Von Anfang an können hier Teilhabe und Gleichberechtigung verwirklicht und gelebt werden. Hier kann auf ideale Weise der Grundstein für eine inklusive Gesellschaft gelegt werden, in der sich die Menschen mit Respekt und Wertschätzung begegnen.

In der inklusiven Grundschule kommt es dann verstärkt darauf an, differenzierte Lehr- und Lernformen zu entwickeln und die Kinder individuell zu fördern. Wie auch in der Kita müssen dafür entsprechende Lernumgebungen und Lernmaterialien zur Verfügung stehen, so dass Lernen im Klassenverbund, in Gruppen, zu zweit oder auch alleine möglich ist. Das alles erfordert eine umsichtige Raumplanung. Dazu gehören Räume für Kleingruppen, Rückzugsräume und Räume für Therapieangebote.

Für die Inklusion in Kita und Grundschule bedarf es gut abgestimmter multiprofessioneller Teams und kooperativer Arbeitsformen zwischen Elementar- und Primarpädagoginnen, Sonder-, Sozial- und Heilpädagoginnen sowie Therapeut-innen. Für sie alle muss das Wohl des Kindes im Vordergrund ihres Handelns stehen.

Die Inklusion in Kita und Grundschule darf kein Sparmodell sein! Es müssen Schritt für Schritt Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit denen eine optimale Begleitung und Förderung jedes einzelnen Kindes gewährleistet werden kann. Eltern dürfen perspektivisch nicht länger das Gefühl haben, dass ihre Kinder in Sondereinrichtungen alleine wegen der besseren Ausstattung gut aufgehoben sind. Sie müssen eine echte Wahlfreiheit bekommen!

Neben den Rahmenbedingungen spielt die Haltung der pädagogischen Fachkräfte eine entscheidende Rolle. Notwendig ist ein konsequenter Perspektivenwechsel, um die Schätze und Ressourcen jedes einzelnen Kindes in den Vordergrund zu stellen. Es gilt, Vielfalt als Chance und Bereicherung zu entdecken, Vertrauen in die vorhandenen Potentiale des Kindes zu entwickeln und den Blick sensibel auf dessen ganz individuelle Fähigkeiten zu richten – und diese nicht nur im Vergleich zu anderen Kindern oder starren Standards zu beurteilen.

Eine solche Haltung kann man sich nicht überstreifen wie einen Arbeitskittel, sie muss so lange eingeübt, geschult und kultiviert werden, bis sie sich schließlich als dauerhafte Einstellung und Persönlichkeitsmerkmal niederschlagen kann. Dafür sind – ebenso wie für die verschiedenen konkreten Handlungsebenen der inklusiven Pädagogik – gezielte Aus- und Weiterbildung, dauerhafte Selbstreflexion, kollegiale Beratung und professionelle Prozessbegleitung notwendig.

Die Entwicklung einer inklusiven Bildung braucht ohne Zweifel viel Zeit, Geduld und Geld. Es gilt gemeinsame Kommunikationsräume zu schaffen, in denen wir diskutieren und uns austauschen können – über das, was gut geht, was noch nicht geht oder was fragwürdig ist. Inklusion braucht Zeit und alle Beteiligten brauchen Zeit – von den Eltern, über die Erzieherinnen und Lehrerinnen, die Aus- und Fortbildnerinnen bis zu den Bildungsplanerinnen in Kommune und Land. Nur wenn wir niemanden überfordern, kann eine tragfähige Basis für inklusives Handeln geschaffen werden.

Inklusion ist ein Generationenprojekt. Aber lassen Sie uns schon heute mit dem beginnen, was machbar ist und die Zahl der inklusiven Momente stetig vergrößern – bis sie zum Alltag und zur Selbstverständlichkeit geworden sind.


Beim XV. Kongress für Erziehung und Bildung verabschiedet.
Göttingen, im Oktober 2014

 

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