Langfristige Investitionen in frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote von hoher Qualität haben jetzt drei renommierte Akademien gefordert. "Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen: In der frühen Kindheit gibt es Zeitfenster, in denen zwingend bestimmte Lern- und Umwelterfahrungen gemacht werden müssen. Fehlen diese, so bleibt die Entwicklung unvollständig. Manche Verhaltensweisen können dann später gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt erworben werden.", sagt Prof. Dr. Frank Rösler, Neuropsychologe an der Universität Hamburg und einer der beiden Sprecher der Arbeitsgruppe "Frühkindliche Sozialisation". Dies gelte vor allem für das Lernen einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, aber ebenso für den Erwerb sozialer Kompetenz oder geistiger Voraussetzungen für den späteren schulischen Wissenserwerb.

In ihrer Stellungnahme "Frühkindliche Sozialisation" weisen die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften darauf hin, dass insbesondere auch die Förderung von Kindern, die in weniger förderlichem Familienumfeld aufwachsen, erheblich verbessert werden kann. Hier gelte es, rechtzeitig einen Förderbedarf zu erkennen, damit Betreuungsangebote nicht erst nach Abschluss wichtiger Entwicklungsphasen gemacht werden ─ und damit nicht mehr oder weniger gut greifen.

Investitionen in frühkindliche Bildung "besonders sinnvoll"

Aus der Lebensverlaufsperspektive erscheint es den ForscherInnen "besonders sinnvoll, Bildungsinvestitionen für die frühe Kindheit bereitzustellen. Dies gilt für die Entwicklung aller Kinder, im besonderen Maße aber für Kinder, die mit sensorischen Einschränkungen geboren werden oder die in wenig förderlichen Umwelten aufwachsen“ wie z.B. prekären Familienverhältnissen oder Bildungsferne der Eltern. Im Fazit heißt es: „Investitionen in qualitativ hochwertige frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote sind sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich besonders rentabel, da sie positive Voraussetzungen für weitere Entwicklungsschritte gewährleisten. Sie sollten deshalb langfristig gesichert und verstärkt werden.“


Die Wissenschaftler empfehlen weiterhin, die enge Wechselwirkung zwischen Erbanlagen und Umwelt bei der Entwicklung eines Kindes stärker in bildungspolitische Überlegungen einzubeziehen. Sie weisen darauf hin, dass das Intelligenzniveau eines Menschen nicht von Geburt an unveränderlich festgeschrieben ist. Vielmehr hätten negative und positive Umwelteinflüsse einen bedeutsamen Einfluss auf die Entfaltung der genetischen Veranlagung eines Menschen. Gleichzeitig setzten diese Veranlagungen auch Grenzen. Das heißt, auch bei günstigen Trainings- und Bildungsmaßnahmen erreichen nicht alle Menschen die gleiche geistige Leistungsfähigkeit. Dies gelte es zu berücksichtigen, sowohl in der Frühpädagogik, als auch in der Schul- und Berufsbildung. Jedes Individuum müsse die Förderungen und die Anforderungen erfahren, die zur bestmöglichen Entfaltung seines Potenzials beitragen.


An der Stellungnahme waren Forscher aus den Fächern Psychologie und Neurobiologie, ebenso wie Linguistik, Pädagogik, Soziologie und Ökonomie beteiligt. Die Arbeitsgruppe hat Ergebnisse aus diesen sehr unterschiedlichen Disziplinen zusammengetragen und in ihrer Aussagekraft bewertet. Die Stellungnahme dokumentiert die Forschungsergebnisse zur frühkindlichen Entwicklung und deren Bedeutung für die Gesellschaft, die aus Sicht aller beteiligten Fächer als gesichert gelten können. Dennoch gebe es weiterhin großen Forschungsbedarf, so die Autoren. Sie empfehlen langfristig angelegte interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.e Studien. Diese sollen den Zusammenhang zwischen geistigen, emotionalen und sozialen Erfahrungen im frühen Kindesalter und der Gehirnentwicklung im Verlauf des Lebens untersuchen, sowie die Auswirkung dieser individuellen Entwicklung auf die Gesellschaft.

Hintergrund

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften unterstützen Politik und Gesellschaft unabhängig und wissenschaftsbasiert bei der Beantwortung von Zukunftsfragen zu aktuellen Themen. Die Akademiemitglieder und weitere Experten sind hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland. In interdisziplinären Arbeitsgruppen erarbeiten sie Stellungnahmen, die nach externer Begutachtung vom Ständigen Ausschuss der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina verabschiedet und anschließend in der Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung veröffentlicht werden. Für das Projekt "Frühkindliche Sozialisation" hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina die Federführung übernommen.


Quelle: PM / bildungsklick / Redaktion



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Frühkindliche Sozialisation