Kongress zeigt Herausforderungen und Potenziale auf


CoverAuf dem Weg zur Inklusion sind schon wichtige Schritte gemacht, aber das Ziel ist noch weit entfernt und  die Bewältigung der Gesamtstrecke  „ein Generationenprojekt“ – dies wurde einmal mehr auf dem gemeinsam vom BeltzForum, der Stadt Wolfsburg und der Wolfsburg AG veranstalteten Kongress „Inklusion und Sprache“ deutlich. Denn, wie Kongressleiter Dr. Karl Gebauer zur Begrüßung ausführte, gehe es bei der Inklusion um nichts weniger als die Gleichwürdigkeit aller Menschen und die Anerkennung von Vielfalt in all ihren Facetten in einem nicht selektierenden Bildungssystem. Dafür sind gravierende Paradigmenwechsel in den Rahmenbedingungen und normativen Vorgaben und natürlich in den Köpfen aller Beteiligten notwendig. Eine entsprechende professionelle Haltung und Beziehungsgestaltung, so zeigten viele Kongressbeiträge, spielt bei der Umsetzung der Inklusion eine entscheidende Rolle. „Inklusion ist immer nur bruchstückhaft und schrittweise zu realisieren, aber vieles ist auch unter schwierigen (Rahmen-) Bedingungen möglich“ resümierte Prof. Dr. Annedore Prengel vor den  über 400 TeilnehmerInnen des Kongresses den derzeitigen Inklusionsprozess.


Im Zentrum das Kind mit seinen Bedarfen und Ressourcen

Als Grundlage der Inklusion verwies die Pionierin einer Pädagogik der Vielfalt in ihrem Auftaktvortrag auf die Menschenrechte und die UN-Behindertenrechtskonvention mit den darin formulierten Leitsätzen der Gleichheit und Solidarität.  In unserer „spätmodernen Demokratie“ müsse der Spagat gelingen „zwischen dem Leistungsprinzip und der Inklusion pluraler Lebensweisen.“

Annedore Prengel hob die inklusive Kita als Fundament eines inklusiven Bildungssystems hervor. Deutschlandweit seien mittlerweile 72% aller Kinder mit Behinderungen in einer integrativen bzw. inklusiven Kita. Hier würden schon vielfach exemplarische Ansätze zur Inklusion entwickelt und gelebt. Im Zentrum stehe dabei immer das Kind mit seinen Bedarfen und Ressourcen und dies sei „nicht nur Baustein der Inklusion, sondern jeder guten Pädagogik“.

Es gehe dabei auch um Anerkennung der jeweils individuellen und nicht an einer Norm zu bewertenden Lernleistungen. Im Sinne der Chancengleichheit plädierte sie daher für ein „Lernen mit Kompetenzrastern und ein individualisierbares Kerncurriculum für alle Lernausgangslagen“.  Dieser Punkt bildete auch einen von „Zwölf Bausteinen einer guten (inklusiven) Pädagogik“, die Annedore Prengel ihrer ZuhörerInnen präsentierte.

 
„Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt mit allen Konsequenzen“

Unter dem Titel  „Inklusion ja – aber wie?“ bündelte eine  Podiumsdiskussion unter der Moderation von Wolfgang Endres  weitere entscheidende Aspekte und Herausforderungen. Prof. Dr. Susanne Viernickel forderte so die „Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt mit allen Konsequenzen“. Wichtig sei es dafür durch Selbstreflexion auch „unbewussten Sortierungen und Differenzmarkierungen auf die Spur zu kommen und eigene Schwächen anzuerkennen“. Ziel müsse es sein, jedes Kind mit seinen Ressourcen und Kompetenzen ernst zu nehmen und zu fordern und ihnen das Gefühl geben „Du kannst über dich hinauswachsen“. Am Beispiel von autistischen Kindern verdeutliche Klaus Kokemoor vom Rut Bahlsen-Zentrum in Hannover,  wie wichtig es dafür auch ist, die Perspektive der Kinder einzunehmen. Inklusion sei „die Anpassung des Rahmens an die Situation“ und dafür seien auch multiprofessionelle Teams notwendig.

Einen Fokus der Podiumsdiskussion bildete aber auch die Bedeutung von Peer-Beziehungen: „Kinder profitieren voneinander und je vielfältiger die Peer-Group desto mehr“ unterstrich Prof. Dr. Susanne Viernickel. Jeder leiste hier seinen Beitrag und alleine das „Dabei sein“ sei schon von unschätzbarem Wert.


Peer-Interaktionen als unterschätzte Ressource

Diesen Aspekt führte Prof. Dr. Ulrike Lüdtke im Hinblick auf Sprachbildung und Sprachförderung in einem Vortrag weiter aus. Sprachenlernen sei grundsätzlich „nicht direkt steuerbar, sondern geschieht emergent.“ Ganz wesentlich hänge es von Faktoren wie „Beziehung, Emotion und Bedeutsamkeit“ ab und dies sei in den Peer-Interaktionen auf ideale Weise gegeben. Ein wichtiger Faktor sei hier auch ein moderates Kompetenzgefälle, mit dem schlechter sprechende Kinder von den besser sprechenden profitieren. In einem im Rahmen des nifbe geförderten Forschungsprojekt konnte Ulrike Lüdtke so auch den Erfolg der „Peer-vermittelten Sprachförderung für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache“ nachweisen. So haben sich die narrative Komplexität und die linguistische Mikrostruktur der Sprache bei den in Peer-Groups geförderten Kindern deutlich verbessert.


In ihrem Vortrag umriss Ulrike Lüdtke auch die Grundzüge einer Peer-Didaktik, eines „Peer Assisted Learnings“. Dabei nehme eines der Kinder in der Peer die Rolle eines Tutors und ein anderes die eines Tutanden ein. „So kann die Sprachlernherausforderung durch eine Vorbildrolle bewältigt werden“ und es könne auch zu einem wechselseitigen Tutoring in einer anderen Sprache oder einem anderen Lernfeld kommen, so dass die Kinder von Vielfalt in der Peer direkt profitieren könnten. Das PAL sei sowohl unstrukturiert und im Freispiel möglich als auch in vorstrukturierten Seetings. Im Gegensatz zum klassischen sprachdidaktischen Dreieck nehme die pädagogische Fachkraft hier die „Rolle einer Supervisorin und Moderatorin“ ein. Aus dem anglo-amerikanischen Raum adaptierte Techniken seien hier in aufsteigender Reihenfolge  „ein Auge drauf haben“, „Räuberleiter“, „Anstupsen“ und „Den Sack zumachen“.

 
Beziehung, Bedeutung, Dialog

Über die Peer-Interaktionen hinaus wurden auf dem Kongress von ReferentInnen wie Prof. Dr. Timm Albers weitere zentrale Aspekte einer gelingenden Sprachbildung bzw. –förderung vorgestellt. So müsse Sprachbildung grundsätzlich an den Eigenaktivitäten des Kindes ansetzen und mit dem „Alltagssinn“ verknüpft werden.  Entscheidend sei die Qualität der Fachkraft-Kind- und der Peer-Dialoge. Als „Königsweg“ markierte Timm Albers hier auch das „Dialogische Erzählen und (Vor-) Lesen“, das durch offene Fragen, erweiterte W-Fragen oder Erinnerungsfragen angeregt und weiter entwickelt werden könne.

Für die Alltagspraxis musste Prof. Dr. Susanne Viernickel allerdings aus ihrer Studie „Schlüssel zu guter Bildung und Erziehung“ heraus resümieren, dass für das „ruhige Zuhören“ und „intensive Dialogerlebnisse“ bei den derzeitigen Rahmenbedingungen oftmals schlichtweg die Zeit fehle und die Pädagogischen Fachkräfte in einem „Umsetzungsdilemma stecken“ – denn Konsens herrsche über die zentrale Bedeutung von Sprache und Kommunikation. Andererseits würden die Potenziale einer konsequenten alltagsintegrierten Sprachförderung aber auch noch nicht ausreichend genutzt. Der verbreiteten Überzeugung der ErzieherInnen, „eine entwicklungsförderliche Sprachkultur zu gestalten“ stehe so eine oftmals noch nicht ausreichende Selbstreflexion – beispielsweise durch Videoaufnahmen des eigenen Sprachverhaltens - gegenüber. Häufig ungenutzt blieben in den KiTas auch Ressourcen der Vielfalt wie die Mehrsprachigkeit von ErzieherInnen und auch von Kindern.

So wurden im Verlaufe des Kongresses doch zahlreiche Ansätze und Möglichkeiten deutlich, die Momente gelungener Inklusion und Sprachbildung in der KiTa auch unter schwierigen Rahmenbedingungen weiter zu vermehren. Als ein Mosaiksteinchen der inklusiven Kita „Ruth Bahlsen-Zentrum“ in Hannover erzählte  Klaus Kokemoor in diesem Sinne von einer Vereinbarung im Team auf das berühmte „Ja, aber….“ zu verzichten und schon damit eine bemerkenswerte Haltungsänderung spürbar werden zu lassen.


Karsten Herrmann




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Veranstaltungstipp:

Wege zur Inklusion in Kita, Schule & Gesellschaft