MG 1517 250Szene aus "Magic Journey"Zum Abschluss des 8. Kongresses „Bewegte Kindheit“ nahm das Schwerpunktthema Inklusion vor den 3.000 TeilnehmerInnen noch einmal richtig Schwung auf: Klein und groß, jung und alt, Jungen und Mädchen, Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Handycaps tanzten, stepten und sangen gemeinsam auf der Bühne Ausschnitte aus dem inklusiven Musical „Magic Journey“ der „Patsy- & Michael-Hull-Foundation“. „Gemeinsam werden wir das Schiff schon schaukeln“  hieß das frisch-fröhliche Motto – und so wurde auf der Bühne mit ansteckender Dynamik versinnbildlicht, was in deutschen Bildungseinrichtungen von der Krippe bis zur Schule bald Alltag sein soll: Das gemeinsame Leben und Lernen von allen Kindern und Jugendlichen.

Drei Tage lang stand die Inklusion als das bildungspolitisch zurzeit wohl am intensivsten diskutierte Thema im Fokus des Kongresses. In zahlreichen Vorträgen Seminaren und Workshops wurden die Chancen und Herausforderungen, aber auch die Grenzen der Inklusion im KiTa und Grundschule wissenschaftlich untermauert und in ihren Konsequenzen für die Praxis miteinander diskutiert.


Chancen und Grenzen der Inklusion

Viele der TeilnehmerInnen sahen in der Inklusion die Chance, ein menschlicher gestaltetes Bildungssystem mit weniger Seperation und Leistungs-Selektion zu etablieren. Aber es gab auch Bedenken: Können tatsächlich alle Kinder zusammen entsprechend ihren Lern- und Entwicklungsbedarfen gefördert werden? Sind die pädagogischen Fachkräfte in KiTa und Schule darauf ausreichend vorbereitet? Und: Droht hier ein Sparmodell ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen?

In ihrem Auftaktvortrag stellte Prof. Dr. Renate Zimmer unter dem Motto „Gemeinsamkeit von Anfang an!“ die Grundlagen einer gelingenden Inklusion im Elementar- und Primarbereich dar. Zunächst bedürfe es eines grundlegenden Wechsels der Perspektive: Weg von einer Defizitorientierung und hin zu einer wirklichen Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt: der kulturellen, sozialen, körperlichen und geistigen Vielfalt, der Unterschiedlichkeit in Alter und Geschlecht. Ziel müsse es sein, die Stärken und Talente aller Kinder tatsächlich zur Entfaltung zu bringen und zu fördern. Es gelte, die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren und die Barrieren und Hindernisse auf dem Weg zur Teilhabe aller zu identifizieren. In diesem Sinne unterstrich Zimmer: „Die wichtigste Ressource für die Inklusion liegt in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte - aber selbstverständlich müssten auch die entsprechenden strukturellen und personellen Rahmenbedingungen geschaffen werden.“


Haltung als "wichtigste Ressource"

Prof. Dr. Renate Zimmer stellte wissenschaftliche Vergleichsuntersuchungen vor, aus denen hervorgehe, dass das Leistungsniveau in integrierten genauso gut wie in herkömmlichen Grundschulklassen sei. Aber – und das mache Mut! – fühlen sich die SchülerInnen in integrierten Grundschulklassen demnach signifikant wohler, gehen mit mehr Freude zur Schule und entwickeln ein höheres Selbstkonzept. „Sogenannte ‚normale‘ Kinder lernen am meisten, wenn Kinder mit Lernbeeinträchtigungen dazu kommen“ unterstrich Zimmer.

Aber wie können gemeinsame Bildungsprozesse in der Praxis konkrete gestaltet werden? Hier stellte die Sport- und Erziehungswissenschaftlerin den Körper und die Bewegung als idealen Ausgangspunkt dar: „Wie alle Kinder suchen auch Kinder mit besonderen Bedarfen nach Herausforderungen, wollen sich körperlich spüren, sich wahrnehmen und ihre Selbstwirksamkeit erleben.“ Daher gelte es unter der Haltung einer „achtsamen Zuwendung“ Anlässe zur Exploration und Selbstmotivation zu schaffen und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu unterstützen.

Die verschiedenen Aspekte gemeinsamer Bildungsprozesse führte Renate Zimmer schließlich anhand von Videobeispielen aus ihrer psychomotorischen Praxis vor – und wohl niemand ihrer rund 2.000 ZuhörerInnen konnte sich diesen „beglückenden Momenten“ mit James und Amelie entziehen. „Gemeinsam macht stark“ lautete hier die eindrückliche und wegweisende Botschaft.

 
„Entdramatisierung“

Zur „Entdramatisierung“ der Inklusions-Diskussion riet Prof. Dr. Matthias von Saldern von der Leuphana-Universität Lüneburg. Er vergegenwärtigte den ZuhörerInnen, dass der Umgang mit Heterogenität schon immer eine zentrale Herausforderung der Pädagogik gewesen sei: „Es gibt keine homogenen Gruppen und Heterogenität ist schon immer da.“ In Teilbereichen der Elementar- und Primarpädagogik werde so schon längst und ganz unbewusst inklusiv gearbeitet, z.B. bei Kindern mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Schichten, bei hochbegabten Kindern oder solchen mit ADHS-Symptomen. Wenn ihnen die Teilhabe und die Entfaltung ihrer Ressourcen ermöglicht werde, sei das auch schon Inklusion. Und wenn nun alle Förder- oder Sonderschulen aufgelöst würden, dann käme in die bestehenden Regel-Klassen „statistisch gesehen nur jeweils ein halbes Kind mit Behinderung hinzu“. In Anbetracht des schon immer geleisteten Umgangs mit Heterogenität konnte der Schulpädagoge so auc Mut machen: „Inklusion kann und wird gelingen!“
 

"Überforderung"

Gegen den Strich bürstete Prof. Dr. Dörte Detert von der Fachhochschule Hannover die Diskussion und Positionen rund um die Inklusion. Kritisch fragte sie dabei: „Können wir tatsächlich jeden inkludieren? Und: wollen sich alle überhaupt inkludieren lassen?“. Völlig vernachlässigt sah sie in der aktuellen Diskussion so zum Beispiel die Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und machte Grenzen der Inklusion deutlich -  „zum Beispiel bei einem Kind mit schwerem Autismus“. In diesem Sinne stellte sie fest, „dass wir für bestimmte Kinder auch weiterhin Förder- und Sondereinrichtungen bereithalten müssen“.

Dörte Detert warnte auch davor, zu schnell zu viel zu wollen: „Wir überfordern uns und werden überfordert vom Tempo der Inklusion.“ Sie plädierte für kleinere Schritte wie zum Beispiel die Erhöhung der Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Systemen der Regel- und Integrations-KiTas auf der einen und der Sondereinrichtungen auf der anderen Seite. Es gelte dabei auch alle Beteiligten zu sensibilisieren: „Wir sind inklusiv, wenn wir ein Gespür für die jeweiligen Möglichkeiten der Kinder in einer konkreten Situation entwickeln.“

Trotz sehr vieler Mut machender Beispiele aus der Praxis sprach Dörte Detert mit ihrer Diagnose einer Überforderung vielen pädagogischen Fachkräften aus der Seele. Beklagt wurden in den Diskussionen insbesondere immer wieder die fehlenden Rahmenbedingungen wie der entsprechende Personalschlüssel, die heilpäagogische Unterstützung, Raumausstattung oder fehlende (Förder-) Regularien für inklusive Einrichtungen: „Die von der Inklusion überzeugten PädagogInnen werden von der Politik derzeit bitter enttäuscht“ konstatierte ein Teilnehmer frustriert. Große Einigkeit herrschte aber darin, dass der erste und wichtigste Schritt zur Inklusion die Entwicklung einer professionellen Haltung ist, die die Vielfalt tatsächlich als Chance und Ressource begreift und so gleichberechtigte Teilhabe erst ermöglichen kann – und hier haben sich auf dem Kongress viele TeilnehmerInnen schon gemeinsam in Schwung gebracht und auf den Weg gemacht.

musical-3 530Abschlussszene aus "Magic Journey"


















Fotos: Carsten Keller

Zur Kongress-Homepage