182Immer wieder kommt es in KiTas auf einem breiten Spektrum zu verletzenden Verhaltensweisen von Fachkräften gegenüber Kindern und noch immer ist dies häufig ein Tabu-Thema in den Teams. Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm haben nun ein Praxisbuch vorgelegt, in dem sie ganz konkrete Hinweise geben und Methoden vorstellen, wie über verletzendes Verhalten in der KiTa gesprochen und wie dem Thema bewusst begegnet werden.

In ihrer theoretischen Einführung unterstreichen die Autorinnen, wie wichtig eine feinfühlige Interaktionsgestaltung für die Entwicklung von Kindern ist: „Kinder entwickeln dann Wohlbefinden und ein Selbstwertgefühl, wenn sie Geborgenheit durch vertraute Bezugspersonen erhalten, die sie kontinuierlich betreuen, die ihre körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllen und die voraussagbar und angemessen auf Kinder reagieren.“ Schlüssel hierfür ist eine „Sensitive Responsivität“ der Fachkraft. Diese zeichnet sich im Idealfall unter anderem durch Zugänglichkeit und Aufmerksamkeit, prompte Reaktion und Richtigkeit der Interpretation sowie auch dadurch aus, dass sie auf die Initiativen der Kinder eingeht und im Bedarfsfall Impulse gibt, um das Interaktionsgeschehen aufrecht zu erhalten oder zu vertiefen.

Breites Spektrum von verletzendem Verhalten

In der KiTa-Praxis gibt es aber nun eine Vielzahl von Gründen, warum eine solche Sensitive Responsivität nicht gelebt wird. Wie Boll & Remsperger-Kehm ausführen, zeigen Studien mittlerweile auf, dass einerseits ungünstige Rahmenbedingungen und eine entsprechende Be- oder Überlastung der Fachkräfte es erschweren, angemessen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Signale von Kindern einzugehen. Daneben lägen die Ursachen aber auch in einem persönlichen und berufsbiografischen Bereich und es gebe komplexe Wechselwirkungen.

Ein verletzendes Verhalten von Fachkräften kann dabei auf einem sehr weiten Spektrum stattfinden von „unterschwellig, wenig offensichtlich und unbeabsichtigt“ bis zu „deutlich nach außen sichtbar und auch mit Macht verbunden“. Dies könne aus Überforderung resultieren, aber auch daraus, „dass sich Kolleg*innen verletzend verhalten, um den Kindern zu zeigen, wer die oder der Stärkere ist. Ziel schient es manchmal auch zu sein, den Willen eines Kindes zu brechen und es gefügig zu machen“.

Auch wenn die Auswirkungen von verletzendem Verhalten noch nicht hinreichend empirisch untersucht sind, liegt es für die Autorinnen nahe, „dass Kinder das Vertrauen in die Kita als sicheren Ort verlieren“ und dass Verhaltensauffälligkeiten, seelische Störungen, Kontakt- und Beziehungsstörungen oder auch psychosomatische Beeinträchtigungen“ die Folge sein können.

Schock und Hilfslosigkeit im Team

Auf der Ebene der Kolleg*innen und des Teams löst verletzendes Verhalten Boll & Remsperger-Kehm zufolge häufig starke Empfindungen aus „wie Erschütterung, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Atem- und Sprachlosigkeit“. Dem ersten Schock folgt dann oftmals ein Gefühl der Hilflosigkeit: „Für pädagogische Fachkräfte ist es schwer, verletzende Verhaltensweisen anzusprechen und darüber zu reden. Es scheint, als wüssten viele oder alle Fachkräfte eines Teams über die Vorkommnisse Bescheid, aber viel zu oft sagt oder tut niemand etwas.“

Wie kann im Team nun trotzdem über das Thema gesprochen und verletzendem Verhalten auch präventiv begegnet werden? Die Autorinnen unterstreichen hier die zentrale Rolle der KiTa-Leitung und einer Team-Kultur der Wertschätzung, Fehlerfreundlichkeit sowie „gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung“. Zur Auseinandersetzung mit dem Thema schlagen sie drei Phasen vor:
  • Annäherung
  • Vertiefung
  • Gemeinsam handeln

Konkretes Handwerkszeug

Für diese drei Phasen stellen Boll & Remsperger-Kehm nun in einem Praxisteil detailliert ein breites Repertoire an Methoden und Impulsen vor – von ersten persönlichen Annäherungen über Fallbeispiele und ein „ABC“ des verletzenden Verhaltens bis hin zu vertiefenden Methoden der Selbst- und Team-Reflexion. Sie stellen damit KiTa-Leitungen, Fachberatungen sowie Aus- und Weiterbildner*innen vielfältiges Handwerkszeug zur Verfügung, dass je nach konkreter Ausgangslage und Zielrichtung flexibel eingesetzt werden kann. Über QR-Codes können auf der Verlagsseite zusätzlich auch entsprechende Vorlagen heruntergeladen werden.

Gerahmt wird dieser Praxisteil abschließend noch durch ein Kapitel zu den rechtlichen Rahmenbedingungen und einem Kinderschutz von Anfang an – und damit auch zur strukturellen Prävention von verletzendem Verhalten.

Wertvolle Pionierarbeit

Den theoretischen Hintergrund des Buches bildet eine Explorationsstudie der Autor*innen zu verletzendem Verhalten aus dem Jahr 2020 und eine Online-Befragung von KiTa-Leitungen aus 2021. Mit ihrer Übersetzung der wissenschaftlichen Ergebnisse und Implikationen in die konkrete pädagogische Praxis sowie die Erprobung in Modell-KiTas haben Boll & Remsperger-Kehm wertvolle Pionierarbeit geleistet. Es ist zu hoffen, dass sie hiermit entscheidend dazu beitragen von einer noch allzu oft vorherrschenden Kultur des Verschweigens und Wegschauens beim Thema veletzendes Verhalten zu einer aktiven Sensibilisierung, Auseinandersetzung und Prävention in den KiTas zu kommen.

  • Astrid Boll & Regina Remsperger-Kehm: Verantwortlich handeln! Verletzendes Verhalten in der Kita gemeinsam verhindern. verlag das netz, 162 S., 24,90 Euro

Karsten Herrmann