Bildungspläne zwischen Verbindlich- und Beliebigkeit

Jedes der 16 Bundesländer in Deutschland hat mittlerweile einen eigenen Bildungs- oder Orientierungsplan für die (früh-) kindliche Bildung und Erziehung vorgelegt. Doch so unterschiedlich ihr Umfang – in Nordrhein-Westfalen sind es schmale 16, in Bayern stolze 480 Seiten - so unterschiedlich sind sie in Entwicklung, Intention und Umsetzung. In einem nifbe-Expertenworkshop diskutierten daher jetzt rund 60 Länder-VertreterInnen aus den Ministerien, der Bildungs-Administration und wissenschaftlichen Begleitung sowie der Praxis den derzeitigen Stand der Dinge sowie Anforderungen an erfolgreiche Reformprozesse durch die Bildungspläne.

„Gemeinsames Ziel der Bildungspläne ist es zunächst einmal“, so nifbe-Direktorin Prof. Dr. Renate Zimmer, „den grundlegenden Bildungsauftrag von Kitas hervor zu heben und verbindlich zu beschreiben“. In diesem Sinne dienten sie auch der „Sicherung von Bildungsqualität“. Doch schon die ganz unterschiedlichen Bezeichnungen wie „Bildungs- und Erziehungsplan“, „Bildungsprogramm“, „Rahmenplan“ oder „Orientierungsplan“ deuteten auf eine große Vielfalt hin. Und so unterschieden sich die Bildungspläne in der Tat sowohl in der konzeptionellen Herangehensweise, Altersstufen-Ausrichtung oder pädagogischen Intention wie auch in ihrer Verbindlichkeit zum Teil gravierend.

Diese Unterschiede wurden auf dem nifbe-Expertenworkshop auch durch die exemplarische Vorstellung der Entwicklung und Umsetzung der Bildungspläne von Bayern, Hessen, Berlin, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verdeutlicht. Schon die Entwicklungsphase lief in diesen Bundesländern unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen ab: Während sie in Niedersachsen beispielsweise zentral über das Kultusministerium lief, wurden in den meisten anderen Bundesländern Hochschulen bzw. wissenschaftliche Institute mit der Federführung beauftragt. Gemeinsames Merkmal in der Entwicklungsphase war allerdings eine breite Beteiligung relevanter Akteure wie Kita-Träger, Kommunale Spitzenverbände, Elternverbände, Gewerkschaften oder Ausbildungseinrichtungen.


Doch während in Bayern, wie Eva Reichert–Garschhammer vom Institut für Staatspädagogik (IFP) in München ausführte, die Entwicklungsphase auf vier Jahre angelegt war und 80 AutorInnen daran mitwirkten, mussten die Bildungspläne in Berlin oder Sachsen-Anhalt Bildungspläne in nur wenigen Monaten fertig gestellt werden.

Im Kern richten sich die Bildungspläne der Bundesländer an Kinder zwischen 0 und 6 Jah-ren, in Niedersachsen derzeit sogar nur an Kinder zwischen 3 und 6 Jahren. Hier wird, wie Ulrike Bittner-Wolf vom Kultusministerium berichtete, zurzeit ein eigener Orientierungsplan für die Altersstufe von 0 – 3 Jahren erarbeitet. Institutionen übergreifend ist der Bildungsplan beispielsweise in Hessen und Sachsen-Anhalt, wo er sich an 0 – 10jährige bzw. sogar an 0 – 14jährige Kinder richtet. Hier liegt, wie Dr. Dagmar Berwanger vom begleitenden IFP darstellte, „die zentrale Herausforderung in der Entwicklung eines gemeinsamen Bildungsverständnisses“. Dazu wurden in Hessen Tandems aus ErzieherInnen und Grundschul-LehrerInnen eingerichtet.

Wie kommen die Bildungspläne in die Fläche?
 

Die Erprobung der Bildungspläne erfolgte in der Regel über die Einrichtung von intensiv begleiteten Pilot- bzw. Modell-Kitas. Die größere Herausforderung liegt jetzt aber darin, die Bildungspläne in die Fläche zu bringen und in der Praxis nachhaltig zu verankern – als nicht ausreichend erwies sich, Konsultations-Kitas bzw. Kompetenz- und Exzellenz-Zentren einzurichten sowie MultiplikatorInnen auszubilden und dann auf den automatischen Schneeball-Effekt zu setzen. So konstatierte Franziska Jaschinsky vom Institut bildung: elementar in Halle für Sachsen-Anhalt zunächst eine „nur schleppende Verbreitung“. Mittels EU-Geldern kann hier nun aber auf exemplarische Weise eine flächendeckende Qualifizierung von ErzieherInnen zur Implementierung des Bildungsprogramms starten.


Als zentrale Frage im Umsetzungs-Prozess stellte sich die Herstellung einer (rechtlichen) Verbindlichkeit der Bildungspläne dar. Hier nimmt Berlin eine Vorreiterrolle ein: Zwischen dem Senat und den Trägern wurde eine Qualitätsvereinbarung abgeschlossen, die direkt an die Vergabe von Mitteln gekoppelt ist. In Berlin konnte darüber hinaus im Zuge der Einführung des Bildungsprogramms sogar eine höhere Finanz- und Personalausstattung durchgesetzt werden. Eine Schlüsselfunktion nahmen hier, wie Dr. Christa Preissing vom Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung berichtete, die Elternverbände und eine eigens gebildete „Kita-Bürgerinitiative“ mit einer Unterschriftenaktion für ein Volksbegehren ein. Möglich wurde dieses Mut machenden Beispiel aber auch, wie Preissing ausführte, durch die „intensive Einbindung der Träger und eine intensive politische Lobbyarbeit“.

Gemischte Erfolgs-Bilanz

Insgesamt ergab sich aus den Darstellungen und Erfahrungen aus den Bundesländern eine sehr gemischte Bilanz. Positiv wurde heraus gestellt, dass sich mit den Bildungsplänen tatsächlich „viele Erzieherinnen auf den Weg gemacht haben“ und eine breite Vernetzung der Akteure angestoßen worden sei. Konkrete Effekte seien hier die Intensivierung der Kooperation zwischen Kita und Grundschule und erste Ansätze zu einem gemeinsamen Bildungsverständnis. Doch es bleiben, wie eine Teilnehmerin es ungeschminkt formulierte, „unglaublich viele Baustellen“. Wie ein roter Faden zog sich dabei die mangelnde finanzielle und personelle Ressourcenausstattung zur Implementierung der Bildungspläne sowie die vielerorts kritischen Rahmenbedingungen in den Kitas durch die Diskussionen. Dadurch droht der angeschobene Prozess immer wieder ins Stocken zu geraten oder sogar zum Erliegen zu kommen.


Plädoyers für mehr Chancengerechtigkeit

Im Anschluss an die Länderdarstellungen konstatierte Dr. Ilse Wehrmann in ihrem Vortrag „Bildung von Anfang an!“ trotz der Einführung der Bildungspläne und der damit verknüpften Erwartungen „täglich schlechter werdende Rahmenbedingungen für die frühkindliche Bildung und Entwicklung“. So hingen die Bildungschancen eines Kindes von der Kassenlage und der Prioritätensetzung eines „einzelnen Bürgermeisters“ ab und es sei zu befürchten, dass dieser Bereich „die Zeche für die Finanz- und Wirtschaftskrise zahlt“. „Wir zementieren so die Bildungsungerechtigkeit“ kritisierte sie und forderte einen „Pakt für Kinder“, einen „Staatsvertrag für frühkindliche Bildung und Entwicklung“. Der Bund müsse Rahmenrichtlinien setzen und eine stärkere Steuerungsfunktion übernehmen. Zur gleichmäßigen Finanzierung der Kitas schlug sie eine „Kinderkasse“ vor, die gemeinsam von Bund, Ländern und Kommunen getragen werden solle.

Im Kontext der „Bildungs- und Chancengerechtigkeit“ regte Prof. Dr. Maria-Eleonora Karsten von der Leuphana-Universität Lüneburg an, auf der „sozialrechtlichen Bühne“ die Definition eines menschenwürdigen Aufwachsens und Lebens zu klären – notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar dem Europäischen Gerichtshof. Die zentrale Frage sei hier, was das Recht des Kindes auf gute Bildung in der Praxis denn tatsächlich bedeute.

Verbindlichkeit als Schlüssel

Prof. Dr. Ursula Rabe-Kleberg wertete in ihrem Vortrag „Vom Programm zum Prozess“ die „rechtliche Verbindlichkeit“ als Schlüssel für die erfolgreiche Umsetzung der Bildungspläne. Diese müsse hergestellt werden, „ohne die Vielfalt in diesem Feld zu zentrieren.“ Als weitere zentrale Herausforderungen beschrieb sie die Professions-Entwicklung der ErzieheriInen und die Organisations- und Qualitätsentwicklung der Kitas. Grundsätzlich machte sie ein „Steuerungsproblem“ bei der Umsetzung der Bildungspläne aus. In Sachsen-Anhalt habe so die Bildungsvereinbarung mit den Trägern „nichts gebracht“, „weil nicht gesagt wurde, wie der Bildungsplan umzusetzen ist“. Sie forderte daher „eine flächendeckende und breit gefächerte Anregung und Unterstützung für einen eigenständigen Umsetzungs-Prozess in den Kitas“. Es reiche nicht aus, Modell- und Kompetenz-Kitas einzurichten und darauf zu setzen, dass deren Best Practice-Beispiele nachgeahmt würden. Rabe-Kleberg trat auch für Mindeststandards in den Kitas ein, „die nicht zu hintergehen sind.“ Diese seien durch eine „systematische Qualitätskontrolle, Prozess-Begleitung und Evaluation“ zu realisieren.


Anforderungen an erfolgreiche Reformprozesse

Zum Abschluss des zweitägigen nifbe-Expertenworkshops wurden im Plenum Anforderungen an erfolgreiche Reformprozesse in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung definiert. Grundvoraussetzung, so die einhellige Meinung aller TeilnehmerInnen, sei die Partizipation aller Akteure in diesem Bereich. Daneben seien desweiteren notwendig:

  • Eine breite politisch-gesellschaftliche Konsensbildung über Mindeststandards für pädagogisches Handeln und für die Strukturqualität bzw. die Rahmenbedingungen in den Kitas
  • Eine Prozess-Steuerung auf allen Entscheidungs- und Fachebenen
  • Die Verankerung der Bildungspläne in der Aus-, Fort- und Weiterbildung
  • Die Anerkennbarkeit von Aus-, Fort- und Weiterbildung im Rahmen des deutschen und europäischen Qualifikationsrahmens („Durchlässigkeit“)
  • Die Sichtbarmachung und historische Kontextualisierung von Veränderungsprozessen
  • Orte des Innehaltens, der Reflexion und des länderübergreifenden Austausches schaffen, um Stolpersteine und Erfolgsfaktoren für den Umsetzungsprozess identifizieren zu können

In der Diskussion um Mindeststandards stellte Dr. Christa Preissing heraus, dass diese als „Anspruch an das pädagogische Handeln der Fachkräfte und nicht als Anspruch auf bestimmte Kompetenzentwicklung bei den Kindern“ zu verstehen seien. Jedes Kind müsse die Möglichkeit haben in einem individuellen Bezugsrahmen ein „eigenes Kompetenzprofil“ zu entwickeln. In diesem Sinne sollten die Bildungspläne die „partizipative Gestaltung von guten Bildungsprozessen ermöglichen“ und den Kindern in erster Linie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ermöglichen. Breiter Konsens herrschte darüber, dass die Haltung und die Haltungsschulung der pädagogischen Fachkräfte hierbei eine ganz entscheidende Rolle spiele.

Der Austausch über die Bildungspläne zwischen den Bundesländern soll im nächsten Jahr voraussichtlich in Kooperation von nifbe und dem Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung (BeKi) fortgeführt werden.


Mit dem Expertenworkshop als Ausgangspunkt wird im Sommer bei Herder unter dem Titel „Starke Kitas – starke Kinder. Wie die Umsetzung der Bildungspläne gelingt“ auch ein Buch mit Beiträgen u.a. von Prof. Dr. Hilmar Hoffmann, Prof. Dr. Ursula Rabe-Kleberg, Prof. Dr. Susanne Viernickel, Dr. Ilse Wehrmann, Prof. Dr. Renate Zimmer sowie einer Reihe von Best Practice-Beispielen erscheinen.
 

Download PPT Dr. Ilse Wehrmann