Die kulturellen Aspekte von Kinderzeichnungen standen im Fokus eines internationalen nifbe-Workshops, an dem ForscherInnen aus den USA, Italien, Ungarn und Deutschland teilnahmen. Gemeinsam diskutierten sie den aktuellen Forschungsstand zu diesem Thema und stellten eigene Forschungsergebnisse vor. Über die Ergebnisse sprachen wir mit Prof. Dr. Heidi Keller von der nifbe-Forschungsstelle „Entwicklung, Lernen und Kultur.“

  • Können nach dem jetzigen Forschungsstand kulturelle Unterschiede zuverlässig aus Kinderzeichnungen geschlossen werden?

Ja, Kinder aus verschiedenen Kulturen bilden in Zeichnungen ihre Alltagswelt ab. Insofern gibt es viele Belege für Unterschiede. Unser Ansatz zielt darauf ab, das kulturelle Selbstbild in Kinderzeichnungen zu ermitteln. Die Größe der Personendarstellung ist dabei ein robuster Indikator: Werden die Personen mit größerer Höhe und Breite gezeichnet, ist das Ausdruck eines independenten Selbstbildes und kleinerer Höhe und Breite ist es Ausdruck des interdependenten Selbstbildes. Auch unsere eigenen kulturvergleichenden Untersuchungen mit deutschen und kamerunischen Kindergartenkindern belegen das eindrucksvoll. So malen sich Kinder der afrikanischen Nso auf einem großen Blatt Papier selber verschwindend klein und ohne Gesicht, während gleichaltrige deutsche Kinder sich groß und mit ausgeprägten Gesichtsmerkmalen zeichnen. Die italienischen Arbeitsgruppen, von denen eine an unserem Workshop teilgenommen hat (Tallandini/ Dimitrova) zeigen auch deutliche Unterschiede in Bezug auf die Nähe der Personen in Familiendarstellungen

  • Ab welchem Alter manifestieren sich kulturelle Unterschiede in Kinderzeichnungen?

Wir können diese Unterschiede schon bei 4jährigen aufzeigen, d.h. in dem Alter, in dem Kinder Kopffüßler zeichnen können. Hier gibt es übrigens auch interessante kulturelle Gemeinsamkeiten, denn überall wird der gleiche Entwicklungsverlauf durchlaufen: Kritzeln, Kopffüßler, realistische Darstellung, auch die Körperproportionen sind ähnlich in verschiedenen Kulturen.

  • In welchen Kinderzeichnungen werden die kulturellen Unterschiede besonders deutlich?

Die Unterschiede im Selbstbild sind am offensichtlichsten In Zeichnungen des Selbst und in solchen der Familie.

  • Vor welchen Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen steht die Wissenschaft bei diesem Thema?

Die Herausforderungen liegen primär in der Auswertung. Man sieht vieles, was sehr schwierig ist, in eine objektive Auswertungsstruktur zu bringen – von Emotionen über soziale Beziehungen bis zum sozialen Status. Hier müssen differenzierte Auswertungs-Instrumente entwickelt werden, um zu aussagekräftigen und validen Ergebnissen zu kommen.

  • Welche unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen bzw. Ansätze gib es in Bezug auf die Auswertung von Kinderzeichnungen?

Kinderzeichnungen sind ganz verschiedenen Deutungsmustern unterworfen. Am bekanntesten sind hier natürlich die psychoanalytischen Deutungen in therapeutischen Zusammenhängen bei durch Missbrauch, Unfälle oder andere Katastrophen traumatisierten Kindern. Im Familien- und Kindergarten-Alltag stehen in erster Linie ästhetische Kategorien im Vordergrund, aber auch die Beurteilung von kognitiven Fähigkeiten. Dann gibt es verschiedene wissenschaftliche Positionen, die gemeinsam haben, dass sie in der Kinderzeichnung kein realistisches Abbild der Welt sehen, sondern die empfundene, erlebte Wirklichkeit - das ist auch die Berechtigung dafür, Zeichnungen als Ausdruck des Selbstkonzeptes und als Ausdruck kultureller Unterschiede zu betrachten.

  • Welche Praxis-Implikationen sehen Sie für die frühkindliche Bildung und Entwicklung sowie den KiTa-Alltag?
     

Kinder zeichnen überall und das mit Freude. Mit den Forschungsansätzen unserer Forschungsstelle können Kinderzeichnungen tatsächlich auch Auskunft über kulturelle Modelle geben. Bisher wird zum Beispiel häufig das Vorhandensein von Details in den Personen-Zeichnungen als Reife, Intelligenz oder Kompetenz gewertet. Wir haben aber herausgefunden, dass die kamerunischen Kinder häufig das Gesicht nur als einen leeren Kreis zeichnen - und das ist kein Hinweis auf mangelnde Reife oder Intelligenz, sondern ein Hinweis auf ein anderes kulturelles Muster. Kinderzeichnungen sollten also nicht nach einem die westliche Kultur zu Grunde legenden Maßstab bewertet werden, sondern könnten wunderbar als Mittel zur Verständigung und für die Entwicklung interkultureller Kompetenz dienen.

 Die internationalen ForscherInnen

Sitzend von re. n. li.: Heidi Keller, Radosveta Dimitrova , Maria Anna Tallandini, Hartmut Rübeling, Márta Fülöp, Judith L. Gibbons, Hanns Martin Trautner
Stehend von re. n. li.:  Sina Schwarzer
und Melanie Lenk