Jahrestagung der Deutschen Liga für das Kind


wir sind da 250Unter dem Motto „Wir sind da!“ standen auf der Jahrestagung der Deutschen Liga für das Kind insbesondere die Kinder und Familien mit Fluchterfahrung und darüber hinaus grundsätzlich der Umgang mit Vielfalt im Fokus. Liga-Präsidentin Prof. Dr. Sabine Walper konnte in den Räumlichkeiten des Rheinischen Industriemuseums in Oberhausen rund 200 Gäste aus dem Feld der frühkindlichen Bildung und Entwicklung begrüßen.

Sie wies zur Einführung auf die rund 65 Millionen Menschen hin, die Ende 2015 auf der Flucht waren, darunter rund ein Drittel Kinder. „Kinder mit Fluchterfahrung sind besonders schutzbedürftig und brauchen sichere Orte“ sagte sie und unterstrich zugleich die Bedeutung der ersten Jahre für die gesamte Entwicklung. Daher seien neben der Gesundheit die Frühe Teilhabe und Bildung entscheidende Faktoren.

Fünf zentrale Forderungen

In diesem Sinne plädierte sie auch für eine zügige Aufnahme der Kinder mit Fluchterfahrung in die Kindertagesbetreuung. Für die Deutsche Liga stellte sie desweiteren fünf zentrale Forderungen an die Politik:

  1. Die verpflichtende Einführung von Kinderschutzstandards in allen Einrichtungen, in denen sich geflüchtete Kinder aufhalten
  2. Den Ausbau der Sprachförderung und Etablierung des Kinderrechtsansatzes in den Kindertageseinrichtungen
  3. Uneingeschränkte Gesundheitsleistungen für Flüchtlingskinder
  4. Beschleunigte Entscheidungen über Aufenthaltsperspektive und Familienzusammenführung unter Beachtung des Vorrangs des Kindeswohls
  5. Die Verankerung traumapädagogischer und interkultureller Inhalte in den Aus- und Fortbildungen für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sowie im Bildungs- und Gesundheitsbereich


„Gelingende Integration trägt Früchte“ resümierte Sabine Walper und daher lohnten sich die notwendigen Investitionen sowohl für die Kinder und Familien mit Fluchterfahrung wie auch für die gesamte Gesellschaft.

"Ungleiches ungleich behandeln"

Ganz in diesem Sinne unterstrich auch Bernd Neuendorf, Staatssekretär im Familienministerium, dass keine Bildungs-Investition ertragreicher sei als in den ersten Jahren. Er gab einen Einblick in die Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik Nordrhein-Westfalens, die dem Motto „Ungleiches ungleich behandeln“ folge und daher Geld dorthin steuern würde, wo die Bedarfe am größten seien. 45 Millionen Euro zusätzlich flössen so beispielsweise in die „PlusKiTas“ in benachteiligten Sozialräumen und für Kinder und ihre Familien mit Fluchterfahrung seien im Land niedrigschwellige Brückenprojekte aufgelegt worden.

Empowerment

Mit Ausschnitten aus dem Film „Ruhe auf der Flucht“ von Donata Elschenbroich und Dr. Otto Schweitzer erwartete die TeilnehmerInnen dann ein bildmächtiger Einstieg in das Tagungsthema. Präsentiert werden hier Beispiele der Selbstversorgung und Selbstorganisation aus Flüchtlingsunterkünften auf der ganzen Welt. Wie Otto Schweitzer im Anschluss erläuterte ist das Ziel dieser Ansätze, die „Menschen aus dem erzwungenen Nichtstun rauszuholen und ihr Leben wieder ein Stück weit selber in die Hand zu nehmen“. Dabei gelte es die „Kraftquelle Lernen“ zu nutzen, denn „wer lernt, sieht eine Zukunft vor sich“. Für deutsche KiTas besonders interessant dürfte der Ansatz sein, Flüchtlinge auf Basis eines „Ein-Euro-Jobs“ als Ehrenamtliche bzw. PraktikantInnen in der Betreuung einzusetzen.

"Die Krise ist anderswo"

Einen erschütternden, aber auch Mut machenden Einblick in die Schicksale von Kindern in den Kriges- und Krisenregionen dieser Welt gab Christian Schneider, der Geschäftsführer des Deutschen Komitees für UNICEF in Köln. Eines von neun Kindern wachse heutzutage mit der Erfahrung von bewaffneter Gewalt auf und unter dem Motto „Jetzt Kindsein!“ versuche UNICEF den Kindern in Flüchtlingslagern Schutz- und Ruheräume und die Gelegenheit zum Spielen und Lernen zu verschaffen. Mit seinem Blick auf Länder wie die Türkei, den Libanon, Jordanien oder den Kongo, die gemessen an Einwohnerzahl oder Wirtschaftsleistung teilweise das Vielfache an Flüchtlingen aufgenommen haben, relativiere sich auch die Herausforderung für das reiche Deutschland. „Die Krise ist anderswo“ unterstrich Christian Schneider und wies beispielsweis auf eine „zunehmende Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit“ in Syrien hin. Alleine im Ostteil Aleppos litten 200.000 Kinder unter den Bombardements mit Fass- und Streubomben und würden darüber hinaus auch noch gezielt von Scharfschützen ins Visier genommen.

Migrations- und Akkulturationsprozesse

Mit einem Blick auf die ökonomisch-demographischen Aspekte begann Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan, Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, seinen Vortrag. In Deutschland habe jeder Fünfte mittlerweile einen Migrationshintergrund, bei den Kindern sei es jedes Dritte. Zugleich stehe Deutschland vor einer rapiden Abnahme der Erwerbstätigen und es seien 300.000 Neu-ZuwanderInnen jährlich notwendig, um den Stand von heute zu halten. „Wir werden weniger, älter und bunter“ resümierte er den aktuellen Stand.

Im Anschluss nahm Haci-Halil Uslucan die Migrations- und Akkulturationsprozesse unter gesellschaftlichen, individuellen und gruppenbezogenen Aspekten in den Blick. Er machte dabei auch auf die Auswirkungen von Vorurteilen und Stereotypen in der aufnehmenden Gesellschaft aufmerksam. Dies verhindere ein Zugehörigkeitsgefühl und könne zu Stress, Depression und sozialen Rückzug sowie zu größerer Verletzlichkeit und geringerer Leistungsfähigkeit führen. In Bezug auf Kinder mit Fluchterfahrungen skizzierte er den „Zusammenhang zwischen Angst und Lernen“, durch den auch traumatisierte Kinder kognitiv schwerer erreichbar seien.

Grundsätzlich forderte Haci-Halil Uslucan die Integration von Kindern mit Fluchterfahrung in das deutsche Bildungssystem von Anfang an zu erleichtern. Dafür müssten die pädagogischen Fachkräfte und LehrerInnen sensibilisiert und qualifiziert werden. Es gelte hier, die Kompetenzen und Potenziale der Kinder zu stärken und so zum Beispiel auch die Muttersprache wertzuschätzen. Bewusst sollte diesen Kindern auch Verantwortung übergeben und ihre Leistungen nicht an einer sozialen, sondern an einer individuellen Bezugsnorm gemessen werden.

Gleiche Rechte für alle Kinder

Im Hinblick auf die Rechtsgrundlagen zur möglichst frühzeitigen Integration in das Bildungssystem stellte Dr. Thomas Meysen vom DJI eine umfassende Rechtsexpertise (Flüchtlingskinder und ihre Förderung in KiTa und Tagespflege) vor und resümierte schließlich: „Das Recht bietet uns alle Möglichkeiten!“ Auch wenn sich Völker-, EU- und Bundesrecht teilweise widersprächen, gäbe insbesondere der § 6 Abs. 4 im SGB mit seinem Passus zu „Schutzmaßnahmen bei gewöhnlichem Aufenthalt“ den Kindern mit Fluchterfahrung „weitgehend die gleiche Leistungsberechtigung wie anderen Kindern in Deutschland auch“ – eine Auffassung, die wie Thomas Meysen einräumte, allerdings nicht ganz unstrittig sei.

Seelische Gesundheit und traumasensible Pädagogik

Die Seelische Gesundheit von Flüchtlingskindern nahm Dr. med. Kerstin Stellermann-Strehlow vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in den Blick. Entscheidend für diese seien neben der physiologischen Bedürfnisbefriedigung Komponenten wie Bindung und Beziehung sowie Exploration und Selbstwirksamkeit. Von grundsätzlicher Bedeutung sei für die seelische Gesundheit auch ein feinfühliges Gegenüber. Mit einer traumatischen Erfahrung als einem „Diskrepanz-Erlebnis zwischen einer bedrohlichen Situation und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ werde das Selbst- und Weltverständnis und damit die seelische Gesundheit von Kindern erschüttert und sie fühlten sich schutzlos preisgegeben. Es komme zu einer „Schock-Starre“, einem „freezing“. Dabei sei die Großhirnrinde, in der auch die kognitiven und kommunikativen Zentren lägen, stillgelegt und das Limbische System und das Stammhirn übernähmen die Regie.

Wie Dr. Dima Zito vom Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf in einem folgenden Workshop ausführte, sind 30 – 50 % der nach Deutschland geflüchteten Kinder von einem solchen Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) betroffen. Wie Kinder jeweils auf ein traumatisches Ereignis reagierten, hänge von den jeweiligen individuellen Schutz- und Risikofaktoren wie das Soziale Umfeld, den persönlichen Kompetenzen und Haltungen sowie dem Alter und den Lebensumständen zusammen.

Grundsätzlich sei eine Traumatisierung, so Dima Zito, im frühen Kindesalter nicht sicher zu diagnostizieren, als Symptome des PTBS gälten aber eine konstante und durch das Stresshormon Cortisol ausgelöste angstbedingte Erregung, das Wiedererleben (z.B. Reinszenierungen) und Vermeidungsstrategien. Begleiterscheinungen könnten eine Dissoziation („innerlicher Ausstieg“), psycho-somatische Beschwerden, depressive Symptome sowie Entwicklungsverzögerungen bzw. –rückfälle sein.

Kitas als "Inseln der Sicherheit"

„Entscheidend ist, was nach einer traumatischen Erfahrung geschieht“ unterstrich Dima Zito und in diesem Sinne könnten KiTas als „Inseln der Sicherheit, in denen die Kinder entspannen und Kraft tanken können“, eine ganz wichtige Funktion übernehmen. Neben der absoluten Voraussetzung der Gewaltfreiheit komme es hierbei einerseits auf eine „strukturelle Klarheit“, auf Einschätzbarkeit, Kontrollierbarkeit und Transparenz an. Wichtig seien so feste Tagesabläufe und wiederkehrende Rituale. Andererseits komme es aber auch ebenso stark auf eine „Atmosphäre der Wertschätzung, Offenheit und Unterstützung“ sowie auf „helle, Geborgenheit vermittelnde Räume“ an. „Die Kinder müssen die reale Sicherheit auf verschiedenen Ebenen spüren können“ unterstrich Dima Zito. Die Fachkraft könne dabei als „sicherer Hafen“ auf der Beziehungsebene fungieren und eine „professionelle Nähe“ gewährleisten, die gleichzeitig aber auch Selbstfürsorge impliziere.

Im KiTa-Alltag komme es darauf an, positive Erfahrungen zu vermitteln, die Kinder teilhaben zu lassen und an ihren Ressourcen anzusetzen – hier böten sich insbesondere auch körperliche und kreative Ausdrucksmöglichkeiten oder Achtsamkeitsübungen an. „Sinnvoll ist alles, was den Kindern hilft, mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu sein“ fasste Dima Zito zusammen. Das gelte insbesondere auch bei akuten traumatischen Symptomen. Hier sei die Orientierung auf die Gegenwart und die Kontaktherstellung durch Berührung (z.B. Igelball, Kuscheltier), gezielte Sinneswahrnehmungen und „ein konkretes Tun“ zielführend.

"Vielfalt respektieren - Ausgrenzung widerstehen"

Vor einer abschließenden Podiumsdiskussion unter anderem mit NRW-Familienministerin Dagmar Friedrich, ordnete Petra Wagner das Tagungs-Thema in den Kontext der Inklusion und einer Pädagogik der Vielfalt ein und unterstrich die Chancen der Heterogenität. Zunächst nahm die Direktorin des Instituts für den Situationsansatz und Leiterin der Fachstelle Kinderwelten jedoch die aktuelle (mediale) Atmosphäre in Deutschland kritisch in den Blick, die durch Vorurteile und Vokabeln der Bedrohung wie „Flut“, „Schwemme“ oder „Welle“ geprägt sei. Im Vordergrund stünden nicht die Belastungen und Nöte der Geflüchteten, sondern die angebliche Überlastung der deutschen Gesellschaft. So würden die Flüchtlinge in der Regel auch „ohne Gesicht und ohne Geschichte“ dargestellt und in der Öffentlichkeit würde stetig eine Differenz von „wir“ und „die anderen“, von „Nähe“ und „Fremdheit“ sowie von „Normalität und Abweichung“ konstruiert.

„Wir sollten aber nicht die Menschen zum Problem erklären, sondern die Probleme und Barrieren erkennen, die Menschen an Teilhabe hindern“ forderte Petra Wagner und stellte in der Folge die inklusive Bildung mit ihrem grundsätzlichen „Ja zur Vielfalt“ als Antwort auf Bildungsbenachteiligung vor. In diesem Sinne komme es darauf an, alle Facetten einer in sich immer schon vielfältigen Identität wertzuschätzen und die Kinder entsprechend individuell zu fördern. Kinder dürften sich nicht länger auf die Bildungsinstitutionen einstellen müssen, sondern diese müssten sich auf die Kinder einstellen.

Unter dem Motto „Vielfalt respektieren – Ausgrenzung widerstehen“ stellte Petra Wagner auch ein Praxiskonzept der Kinderwelten für KiTas mit drei zentralen Bausteinen vor:
  • Kinder in ihrer Identität stärken
  • Kinder Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
  • Kinder zum kritischen Denken über Gerechtigkeit und Fairness anreizen
  • Kinder zum Aktivwerden gegen Diskriminierung und Unrecht ermutigen

In diesem Sinne, so umriss Petra Wagner abschließend ihre Vision, sollten „KiTas und Schulen zu Orten der ‚kulturellen Demokratie‘“ werden, an denen auch Aushandlungsprozesse zwischen den Kulturen der Institutionen und der Familien stattfänden.


Karsten Herrmann