Interview mit Prof. Claudia Solzbacher, Ko-Leiterin der Forschungsstelle „Begabungsförderung“ im nifbe

Aktuellen Studien zufolge werden 50 Prozent der Talente unserer Kinder nicht entdeckt, geschweige denn gefördert. Welche Chancen bietet hier die Begabungsförderung?
Sie haben recht: Viele Begabungen bleiben unerkannt. Das hat zum einen damit zu tun, dass die PädagogInnen aufgrund vielfältiger Problemlagen häufig mehr damit beschäftigt sind Defizite von Kindern zu erkennen und zu beheben als ihre Ressourcen in den Blick zu nehmen. Zum anderen gibt es bestimmte Gruppen von Kindern, denen man offensichtlich eher Begabungen zuspricht als anderen.
  

Prof. Claudia SolzbacherDie große Chance der Begabungsförderung liegt in der individuellen Förderung aller Kinder im Bereich frühkindlicher Bildung und im Bereich Grundschulbildung. Wesentlich ist dabei die verbesserte Identifikation und Entfaltung von Begabungen sowie die Entwicklung persönlicher Kompetenzen, die für die Transformation von Begabung in Leistung relevant sind. Denn damit Begabung tatsächlich in Leistung umgesetzt wird bedarf es einer Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen, wie z.B. der Selbstmotivation oder einer bestimmten Arbeitshaltung. Wir wissen aus einschlägigen Begabungsmodellen, wie wichtig es ist eben auch diese Persönlichkeitsmerkmale bewusst und reflektiert auszubilden und sich des Zusammenhangs von Begabung und Leistung bewusst zu sein. Hier gibt es noch eine Reihe von Forschungslücken, die es in Zusammenarbeit mit der Praxis zu schließen gilt. In unserer Forschungsstelle haben sich nicht zuletzt aufgrund dieses z.T. vernachlässigten Zusammenhangs von Persönlichkeit und Lernen Psychologen (Prof. Dr. Julius Kuhl und sein Team) und Erziehungswissenschaftler zusammengeschlossen.

Optimale individuelle Förderung aller Kinder als Ziel

Begabungsförderung wird oft mit Hochbegabtenförderung in einem Atemzug genannt. Wo liegt Ihr Fokus und was ist Ihr Ziel?


Wir haben für unsere Forschungsstelle den Begriff „Begabungsförderung“ und bewusst nicht „Begabtenförderung“ gewählt. Allgemein kann man "Begabung" als individuelles Fähigkeitspotential verstehen, das es zu erkennen und zu fördern gilt. Diese Forschungsrichtung ermöglicht uns die Breite der Forschung, die wir anstreben, nämlich die – wie schon betont - optimale „individuelle Förderung“ aller Kinder. Dazu gehören dann logischerweise auch die hochbegabten oder besonders begabten Kinder. Es geht um die Einführung und den Ausbau begabungsgerechter Instrumente, Konzepte und Lehr-Lernkulturen.


Im weitesten Sinne ist unser Ziel einen sinnvollen Umgang mit der zunehmenden Heterogenität in unserer Gesellschaft zu gewährleisten. Lerngruppen sind heute in vielfacher Hinsicht heterogener als früher: aufgrund vielfältigerer kultureller Gruppen, aufgrund eines immer größer werdenden gesellschaftlichen Pluralismus aber auch aufgrund der leider erst langsam in den Fokus kommenden unterschiedlichen Lerntypen und Lernstile Einzelner.
 

Denken Sie nur an Erkenntnisse der Lernpsychologie, die die Individualität von Lernwegen, Lernbedürfnissen, Lernmotivationen etc. herausstellen. Wir wissen aus der Unterrichtsforschung, dass – jedenfalls tendenziell – jenem Unterricht eine höhere Wirksamkeit zugeschrieben wird, der auch individuelle Unterstützung anbietet. Die Hirnforschung scheint dies zu untermauern. Wir hören von messbaren Erfolgen und der zunehmend hohen Reputation von (zumeist reformpädagogisch orientierten) Kitas und Schulen, die Formen der Differenzierung und Individualisierung in ihren Programmen verankert haben. Und schließlich zeigt der Blick auf die Erfahrungen sog. PISA-Siegerländer, dass jene reüssieren die auf ein Bildungs- und Erziehungskonzept setzen, das die Zuwendung zum Einzelnen zum Gütemaßstab erhebt (z.B. die skandinavischen Länder). So argumentiert auch nicht zuletzt die Bildungspolitik, die in der individuellen Förderung das zentrale Thema der nächsten Jahre sieht. Individuelle Förderung soll dabei z.B. laut Kultusministerkonferenz durch „Umschichtung“ der Ressourcen, veränderte Konzepte bzw. durch Kompetenzschulung der Lehrkräfte erreicht werden.


Bestimmte Gruppen von Kindern fallen noch durch das Netz

Ist Begabungsförderung in diesem Sinne auch als ein Beitrag zur Chancengleichheit zu sehen, um die es laut den PISA-StudiePISA-Studie||||| In der PISA- Studie der OECD werden alle drei Jahre seit 2000 in den Mitgliedsstaaten der OECD die alltags- und berufsrelevanten Fähigkeiten von 15- Jährigen durch Testfragen gemessen. Die mittelmäßigen bis schlechten Ergebnisse 2001 in Deutschland führten dazu, dass vielfach von einem PISA-Schock geredet wurde.  n in Deutschland ganz schlecht bestellt ist?

Die Ergebnisse der einschlägigen Forschungen zum Thema Bildungsgerechtigkeit sind tatsächlich nach wie vor alarmierend. Deutschland hinkt, trotz aller Bildungsexpansion, anderen Ländern hinterher. Alle Bildungsbemühungen haben offensichtlich nicht dazu geführt, dass herkunftsbedingte Einflüsse z.B. auf die Höhe der erreichten Abschlüsse im allgemein bildenden Schulsystem wesentlich geringer geworden wären; vielmehr ist ein stärkerer Einfluss des Elternhauses, der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen festzustellen.


Eine frühe, aber auch über die gesamte Schulzeit kontinuierliche Diagnose und eine möglichst weitgehend vom sozialen Herkunftsmilieu unabhängige Förderung ist deshalb unabdingbar. Ich habe zu Anfang schon darauf hingewiesen, dass bestimmte Gruppen von Kindern „durchs Netz“ fallen. Das sind z.B. Kinder aus sozial schwächeren Familien. Sie werden nachgewiesenermaßen deutlich seltener als begabt oder besonders begabt identifiziert als Kinder aus oberen sozialen Schichten. Es gibt immer noch Bereiche, in denen Mädchen benachteiligt sind (z.B. in den sogenannten MINT-Fächern) aber ebenso gibt es aktuell Belege dafür, dass Jungen zunehmend Probleme im Bildungsbereich bekommen. Benachteiligungen ziehen sich, wie wir alle wissen, durch die gesamte Lebensbiographie der Betroffenen. Niedersachsen hat schulpolitisch hier bereits erste wichtigen Schritte getan: indem Begabungsförderung bzw. individuelle Förderung insgesamt einen deutlich höheren Stellenwert in den einschlägigen Erlassen und ministeriellen Veröffentlichungen einnimmt sowie u.a. mit den „Kooperationsverbünden Hochbegabung“ und der Förderung des Frühstudiums etc. Diese Schritte gilt es mit einem Fundament zu versehen, d.h. früher zu beginnen und wissenschaftlich begleitet auszubauen, damit alle ErzieherInnen und Lehrkräfte Begabungen und besondere Fähigkeiten, aber auch Interessen zu diagnostizieren lernen und Förderkonzepte (Lehr-Lernkulturen) kennenlernen, die allen Begabungen und Lerntypen gerecht werden. Die Qualität von Kitas und Schule wird damit – davon sind wir überzeugt - deutlich verbessert.

Kontinuität der Diagnose und Förderung ist entscheidend

Die Begabungsförderung im frühkindlichen Bereich scheint ein noch weitgehend unbestelltes Feld zu sein. Was sind hier die ersten notwendigen Schritte?


Grundvoraussetzung ist es zunächst einmal zu wissen, was die PraktikerInnen in KiTas und Grundschulen über das Thema individuelle Förderung denken und welche Erfahrungen sie bisher gemacht haben. Begabungen werden durch intrapersonelle und durch Umweltfaktoren beeinflusst, die maßgeblich von den PädagogInnen vor Ort gestaltet werden. Ihre Konstrukte sind entscheidend dafür, wie die individuelle Förderung in den einzelnen Einrichtungen umgesetzt wird und was bei den Kindern ankommt.


Aktuell führen wir deshalb auch gerade eine empirische Untersuchung zu Positionen von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen zur individuellen Förderung durch. Wir erhoffen uns von diesem Projekt auch Aufschluss über den Fortbildungsbedarf von ErzieherInnen und Lehrkräften, um entsprechend Fortbildungsmodule entwickeln und anbieten zu können.
 

In einem weiteren Projekt entwickeln und erforschen wir die systematische Förderung von Lernkompetenz in Kitas und Grundschulen. Dahinter verbirgt sich die Vermittlung von Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz als eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Begabung in Leistung überführt wird. Wir kennen diese Forderung nach mehr Lernkompetenz bereits aus der Schulpädagogik. In der Tat ist es aber immens wichtig reflexive Lernprozesse schon möglichst früh anzustoßen und abzustimmen damit eine erfolgreiche, d.h. nachhaltige und zugleich motivierende Förderung auf Dauer gelingt.
 

Ziel dieses Projektes ist es zusammen mit der Praxis Konzepte für eine systematische Lernkompetenzförderung vom Kindergarten über die Grundschule zu entwickeln. Wir wollen dazu u.a. gemeinsame Lernwerkstätten in und mit den Regionen entwickeln und etablieren. Meine Mitarbeiterin Dr. Silvia Thünemann hat so im Sommersemester 2008 an der Universität Osnabrück schon eine Forschungswerkstatt mit PraktikerInnen aus Kitas und Grundschulen (aber auch weiterführenden Schulen) und Studierenden der Uni Osnabrück zu diesem Thema durchgeführt. Die Werkstatt war ein erster sehr erfolgreicher Schritt in diese Richtung.
 

Den Erfolg dieses Forschungsprojekts kann man dann beispielsweise mit Hilfe des Forschungsansatzes meines Kollegen Prof. Julius Kuhl – der gemeinsam mit mir die Forschungsstelle leitet - evaluieren. Er hat ein Diagnoseverfahren zur Ermittlung von Persönlichkeitskompetenzen (Sozial- und Selbstkompetenzen) für Erwachsene und Schulkinder entwickelt (EOS) und arbeitet gerade daran dies auch auf die frühe Kindheit auszuweiten sowie für Grundschulkinder handhabbar zu machen. Mit Hilfe dieses Verfahrens könnte man also u.a. sehen, ob unsere Fördermaßnahmen erfolgreich waren und wo sie ggf. weiterentwickelt werden müssten.
 

Grundsätzlich ist es uns ganz wichtig, eine Kontinuität der Identifikation und Förderung von Begabungen über die Bildungssysteme hinweg zu realisieren und die Übergänge bewusst und aktiv mitzugestalten.

 
Wie sieht Ihre Vision für die Bildung in unseren Kindertagesstätten und Grundschulen aus?
 

Ich wünsche mir kreativitätsfördernde Umgebungen, in denen der Entdeckerdrang und die Lernbegierde von Kindern im Mittelpunkt stehen. Kinder brauchen Zeit um Erfahrungen zu sammeln, zu entdecken und auszuprobieren. Unsere Fanfare des „höher, schneller, weiter“ steht mitunter wirklicher Bildung im Wege. Ich wünsche mir PädagogInnen, die um die unbedingte Notwendigkeit von Beziehungen zwischen Kindern und ihnen wissen und alles tun um diese Beziehungen zu pflegen. Das selbsttätige Kind ist eben nicht das mit diffusem Material alleine gelassene Kind, sondern das sensibel begleitete Kind. Meine geträumte Kita der Zukunft und meine geträumte Grundschule hat PädagogInnen , die wissen das Lernen nur dort funktioniert, wo die Kinder ihr Leben und ihre Beziehungen als sinnvoll erachten, denn dann engagieren sie sich nachhaltig mit ganzem Herzen und Verstand. Ich wünsche mir ErzieherInnen und Lehrkräfte, die sich ständig weiterbilden um diese Ziele zu erreichen und ich wünsche mir eine Bildungspolitik, die den PädagogInnen genügend Zeit und (finanzielle) Ressourcen zur Verfügung stellt, damit sie diese Ziele erreichen können ohne dabei ihre eigene Kreativität zu verlieren.