Workshop des nifbe zeigt Perspektiven und Visionen auf

Osnabrück Eine einzige Sekunde – auf die kann es es beim sicheren Beziehungsaufbau des Säuglings mit seiner Mutter ankommen. Denn in diesem schmalen Zeitfenster erwartet er eine Reaktion auf seine Aktion. Erfolgt diese nicht, kommt es zu einer Verunsicherung, die sich nachhaltig auswirken kann.
Diese experimentell heraus gefundene Erkenntnis stellte die Entwicklungspsychologin Liselotte Ahnert jetzt in einem Workshop des „Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung“ in Osnabrück vor. Rund 60 Wissenschaftler und Studenten waren in der gerade bezogenen nifbe-Forschungsstelle „Entwicklung, Lernen und Kultur“ in einem ehemaligen britischen Offizierscasino zusammen gekommen, um „Perspektiven und Visionen für die frühkindliche Bildung und Entwicklung“ aufzuzeigen und gemeinsam zu diskutieren.

 

Wie Liselotte Ahnert darlegte, bildet eine funktionierende Beziehungsstruktur die Basis für eine optimale frühkindliche Bildung und Entwicklung. Der Prototyp einer solchen Beziehung in den westlichen Kulturen sei dabei die Mutter-Kind-Beziehung, mit der in der Regel Aufmerksamkeit, Sicherheit und Stress-Reduzierung als zentrale Faktoren gewährleistet seien. Die frühen Beziehungserfahrungen werden internalisiert und zu grundlegenden „inner working models“ entwickelt, mit denen die Kinder den Herausforderungen des Alltags begegnen.


Ahnert warnte allerdings davor, diesen Prototyp der mütterlichen Betreuung einfach auf die Kindertagesbetreuung zu übertragen. Alters- und geschlechtsabhängig hätten hier durchaus andere Faktoren wie die Assistenz und Unterstützung bei der Welt- und Selbsterkundung Vorrang. Mit zunehmendem Alter etablierten sich die Kinder – und hier insbesondere die Jungen - auch in den eigenen peer-groups und entwickelten eigene Unsicherheits- und Stressreduktions-Mechanismen.


Doch für die Praxis der Kleinkindbetreuung in Kindertagesstätten forderte Ahnert angesichts ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse Konsequenzen: Hier sollte auf maximal drei Kleinkinder eine Erzieherin kommen. Denn bei einem schlechteren Schlüssel bleibe all zu oft die Reaktion der Erzieherin auf die Aktion des Kleinkindes innerhalb der magischen Sekunde aus - und gefährde somit eine sichere Beziehungsstruktur.

 

Qualität definieren und messbar machen

 

Doch ein solcher Schlüssel ist, wie Wolfgang Tietze in seinem Referat „Qualität in der Kindertagesbetreuung“ darstellte, leider noch weit von der derzeitigen Praxis der Kleinkindbetreuung entfernt. Offiziell liegt er hier bei rund 1: 5-6. Doch tatsächlich lägen die tatsächlichen Erzieher-Kind-Schlüssel aufgrund von Krankheit, Weiterbil-dung oder Schwangerschaft noch bei bis zu 30% darunter. Der Kleinkindpädagoge von der Freien Universität Berlin sah zudem beim geplanten massiven quantitativen Ausbau der Betreuungsplätze die Gefahr, dass Standards eher gesenkt, denn angehoben würden. In diesem Sinne sei es unabdingbar, Qualität zu definieren und messbar zu machen.


Tietze hat dafür vor rund zehn Jahren ein Instrumentarium zur Qualitäts-Messung (Kindergarten-Skala) entwickelt, in dem bewusst die Sichtweise und die stellvertretend wahrgenommenen Interessen eines Kindes als Maßstab im Fokus stehen – ganz unabhängig davon, welche pädagogische (Reform-) Konzepte jeweils vertreten werden. Die definierten Qualitätsbereiche reichen von der Raum-Konzeption und –Ausstattung über die Anregungen zur Kompetenzentwicklung und der Gesundheitsförderung bis zum Management und Controlling. Im Rahmen eines von seinem Institut „PädQUIS“ angebotenen Qualitätsentwicklungs-Prozesses können Kitas auf bislang freiwilliger Basis auch das „Deutsche Kindergarten-Gütesiegel“ verliehen bekommen.


Tietze verdeutlichte, dass – abhängig davon, ob ein Kind eine qualitativ sehr gute bzw. weniger gute Kita besuche - Entwicklungsunterschiede von bis zu einem Jahr bei kognitiver, sprachlicher und sozialer Kompetenz festzustellen seien. Er forderte daher die verpflichtende Anerkennung eines „Nationalen Qualitätskriterienkatalogs“ und die Koppelung von öffentlichen Zuschüssen an einen Qualitätsnachweis. Dies sei auch Grundvoraussetzung dafür, dass die sich andeutende Privatisierung und Kommerzialisierung der Kinderbetreuung funktionieren könne.

 

Bildung als primäres Erziehungsziel

 

Kinder mit Migrations-Hintergrund standen im Fokus von Birgit Leyendecker. Die Erziehungswissenschaftlerin von der Ruhr-Universität Bochum zog dabei zunächst den sozio-kulturellen Rahmen auf, in dem sich die kindliche Entwicklung abspiele. Neben individuellen Perspektiven seien hier die familiären, institutionellen und kulturellen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Als „primäres Erziehungs- und Sozialisationsziel“ in diesem Rahmen definierte Leyendecker die Bildung.
Während in deutschen Familien der Bildungsstand der Mutter einer der größten Einflussfaktoren für die Bildung der Kinder ist, ergibt sich aus Leyendeckers Untersuchungen in Familien mit türkischem Migrations-Hintergrund ein sehr viel komplexeres Bild. Obwohl die türkischen Väter häufig ein geringeres Bildungsniveau als ihre Frauen aufweisen, bilden sie für die Kompetenz-entwicklung ihrer Kinder eine wichtige Ressource. So sei es wichtig – was bisher kaum geschehe – türkische Väter durch attraktive und adäquate Angebote anzusprechen, „um sie in der Interaktion mit ihren Kindern zu unterstützen.“ Ähnliches finde bei türkischen Müttern beispielsweise schon durch das „Rucksack-Modell“ oder „Mama lernt Deutsch“ erfolgversprechend statt.

 

Kultursensitive Zugänge

 

Keine eindeutige Antwort hatte Leyendecker auf die Tatsache, dass Kinder mit türki-schem Migrationshintergrund im Vergleich zu deutschen Kindern nur wesentlich kürzer eine KiTa besuchen. Hier könnten neben sozialen Ursachen, wie Work-shop-Gastgeberin Heidi Keller vermutete, auch die unterschiedlichen kulturellen Prämissen ausschlaggebend sein. Denn während in westlichen Kulturen die Autonomie und feste Ich-Grenzen des Kindes Ziel des Sozialisationsprozesses seien, wären es in vielen afrikanischen, asiatischen und auch arabischen Kulturen die Bezogenheit auf die Familie und das „Wir-Bewußtsein“. So würden sich Kinder aus westlichen Kulturen auf einem Blatt Papier selber groß und mit vollständigem Gesicht malen, während solche aus afrikanischen Kulturen sich klein und häufig ohne Details darstellten.
Als Spezialistin für kulturspezifische Entwicklungspfade von Kindern forderte Heidi Keller daher eindringlich „kultursensitive Module und Modelle“ in der Kindertagesbetreuung. Das westliche kulturelle System der Autonomie könnte nicht von vornherein als verbindlicher Rahmen gesetzt werden. Stattdessen müsse jedes kulturelles Modell aus sich heraus verstanden und dürfe nicht wertend verglichen werden.

 

Plädoyer für Methodenvielfalt und Interdisziplinarität

 

Dass Universallösungen und einfache Rezepte gerade im Kontext der Migration und sozialen Benachteiligung nicht funktionieren, unterstrich auch Tom Weisner von der University of Los Angeles. Der Anthropologe berichtete von den Ergeb-nissen des „New Hope Experiments“. In diesem in Wisconsin durchgeführten Langzeitprogramm konnten „working poor parents“ aus einem tableau verschiedener Unterstützungsmaßnahmen auswählen. Basis bildete ein Sozial-Kontrakt, mit dem die Eltern bei einer Beschäftigung von mindestens 30 Stunden pro Woche 200% über der Armutsgrenze verdienten. Die Verbesserung der sozialen Situation führte dazu, dass diese Familien deutlich mehr Leistungen der öffentlichen Kinderbetreuung und Kinderfürsorge in Anspruch nahmen und dass die schulischen Leistungen der Jungen sich verbesserten.


Aufgrund dieser Erfahrungen plädierte Tom Weisner für die Methodenvielfalt und Interdisziplinarität der Forschung. Nur so könne der gesamte Kontext eines Kindes oder einer Familie in den Blick genommen und spezifisch abgestimmte Maßnahmen entwickelt werden. In diesem Sinne begrüßte er ausdrücklich die innovative Konzeption des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung. „Das Institut“, so Weisner, „hat die Chance, all die an der frühkindlichen Bildung und Entwicklung beteiligten Fachrichtungen und Kulturen zusammen und in den Austausch zu bringen“.

 

Das Gleiche für alle führt in die Sackgasse

 

Trotz aller positiven Effekte einer optimalen Kinderbetreuung warnte Wolfgang Tietze in einer abschließenden Podiumsdiskussion vor zu hohen Erwartungen an Erzieherinnen und Lehrer. Nach wie vor sei der elterliche Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder zwei bis dreimal so hoch wie der von Kitas. Daher gelte es „Erziehungspartnerschaften“ aufzubauen und Hand in Hand die Kinder individuell zu begleiten und zu fördern.


Gerade im Hinblick auf Kinder mit Migrations-Hintergrund forderte Heidi Keller, die Intensivierung der Erforschung von unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Lernstrategien. Nur so könnten in der frühkindlichen Bildung und Entwicklung auch passgenaue Modelle für unterschiedliche Zielgruppen entwickelt werden. „Für alle das gleiche zu fordern und umzusetzen“, so Keller, „führt in die Sackgasse. Gleichbehandlung vergrößert in diesem Kontext die Ungleichheit.“