Prof. Dr. Renate Zimmer im Interview

Osnabrück Für die Leiterin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung, Prof. Dr. Renate Zimmer, ist "Bewegung der Motor des Lernens". Bewegung sei entscheidend für eine "Weltaneignung mit allen Sinnen" und die Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache, des Schreibens, Lesens und Rechnens. In diesem Sinne mache Toben schlau und müsse wieder stärker gefördert werden - denn die Verführung durch die unterschiedlichsten Unterhaltungsmedien drohe viele Kinder zu "Stubenhockern" werden zu lassen.

 

 

 

Täuscht der Eindruck oder werden immer mehr Kinder zu Stubenhockern, die ihre Freizeit mit Fernsehen und Computerspielen verbringen und es nicht mehr zustande bringen auf einem Bein zu hüpfen, geschweige denn auf einen Baum zu klettern?

 

Zimmer: Der Eindruck täuscht nicht – viele Kinder sitzen immer mehr anstatt sich zu bewegen, sie bleiben häufiger im Haus anstatt im Freien zu spielen
Die Gefahr, zu einer Generation der Stubenhocker zu werden, ist heute also groß: Die Verführungen durch die unterschiedlichsten Unterhaltungs-Medien nehmen im Alltag der Kinder – aber auch der Erwachsenen - zunehmend mehr Raum ein. Draußen spielen scheint erstmal weniger bequem als im Sessel zu sitzen und die Fernbedienung zu drücken. Doch eigentlich haben kleine Kinder ein großes Bewegungsbedürfnis, das sie aber nicht immer befriedigen können, da es von Seiten der Erwachsenenwelt viele Einschränkungen gibt. Bewegungsmangel ist so zu einer Zivilisationskrankheit geworden – die im Erwachsenenalter zu ernsthaften Problemen führt, deren Ursachen aber in der Kindheit zu suchen sind.
Motorische Fähigkeiten können sich nur dann herausbilden, wenn sie ständig geübt werden. Kinder lieben es z.B., ihr Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen, indem sie keinen Baumstamm, keine Mauer, keine Bordsteinkante auslassen, um darauf zu balancieren. So wird die die Fähigkeit, sich im Gleichgewicht zu halten und die allgemeine Bewegungskoordination ständig geübt.


"Am Lernen ist immer der ganze Mensch beteiligt"


Für Sie hat die Bewegung aber nicht nur einen körperlichen und gesundheitlichen Aspekt, sondern bildet auch die Grundlage des Lernens, des Begreifens der Welt im doppelten Sinne. „Toben macht schlau“ lautet so ja auch einer Ihrer Buchtitel.

 

Zimmer: Lernen betrifft ja nicht nur den Kopf und den Verstand. Vor allem Kinder lernen mit all ihren Sinnen, mit ihrem Körper und ihren Emotionen. Am Lernen ist immer der ganze Mensch beteiligt. Erste Lernerfolge gewinnt das Kind über seinen Körper, dazu gehört das zielgerichtete Greifen, der aufrechte Gang oder das freie Laufen. Sie führen zu Selbständigkeit und Selbstvertrauen, denn es sind Errungenschaften, die das Kind aus eigenem Antrieb und mit eigener Kraft erreicht hat.
Über den Körper gewinnt das Kind aber auch Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Umwelt, über die Dinge und Gegenstände und ihre spezifischen Eigenschaften – diese Erfahrungen sind eng an die Bewegung gebunden. Nur durch Bewegung kann das Kind sich ein Bild davon machen, wann, warum und wie ein Ball springt, rollt oder fliegt und wie man dies beeinflussen kann. Und schließlich: Bewegung fördert den Informationsfluss im Gehirn, die Verknüpfung von Nervenzellen wird unterstützt, das Gehirn wird besser mit Sauerstoff versorgt, das erleichtert sogar die Konzentration.
Man kann also schon sagen, dass Bewegung der Motor und der Mittler des Lernens ist, sie ist eine Form der Weltaneignung, die dem Kind die Möglichkeit gibt, sich mit all seinen Sinnen mit der Umwelt auseinanderzusetzen
„Toben“ ist in diesem Sinne für mich ein Symbol für die kindliche Bewegungsfreude, für die unmittelbare Lust, sich über seinen Körper mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Und „schlau“ heißt über Strategien der Problemlösung zu verfügen, Zusammenhänge zu erkennen, sich gerne an Neues heranzuwagen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu besitzen. Dies sind wichtige Kompetenzen, um sich im Leben zurecht zu finden und auch bei auftretenden Schwierigkeiten nicht gleich aufzugeben. Und dazu kann Bewegung eine Menge beitragen.

 

Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen, wie der Zusammenhang zwischen Bewegung und Lernen zu nutzen ist?

 

Zimmer: Kinder gewinnen über Bewegung die Voraussetzungen für die Entwicklung der Sprache, für das Lernen des Schreibens, Lesens und Rechnens. So können z.B. über den Körper und die Sinne grundlegende Raumerfahrungen gemacht werden.
Die konkrete Raumvorstellung und - orientierung, die Beziehung des eigenen Körpers im Raum ist die Grundvoraussetzung für das Rechnen sowie das Schreiben- bzw. Lesenlernen. Ob es sich bei einem Buchstaben um ein b oder d, q oder p handelt, kann man nur über seine Lage im Raum erkennen. Kinder benötigen hierfür eine differenzierte Raumwahrnehmung, die sich insbesondere über Körpererfahrung und Körperwahrnehmung aufbaut.


"Bewegungsmangel beginnt bereits bei Kleinkindern"

 

Bewegung ist also der Kern einer ganzheitlichen Entwicklung des Kindes. Was können Eltern tun, um dies zielgerichtet zu fördern und was muss sich in unseren Kindergärten und Grundschulen ändern?

 

Zimmer: Bewegungsmangel beginnt bereits bei Kleinkindern, ja sogar schon im Babyalter. Sie werden in Tragschalen und Buggys transportiert und „aufbewahrt“. Im Alter von sechs bis acht Monaten kann ein Baby sich aber bereits selbständig fortbewegen, es kann robben und krabbeln und lernt auf diese Weise seinen Körper und seine Umwelt kennen, es setzt alle seine Sinne ein, lernt sich im Raum zu orientieren und macht intensive materiale Erfahrungen. Angeschnallt in einer Sitzschale gehen ihm also ganz wesentlich Sinnes- und Bewegungserfahrungen verloren.
Später regen sich Eltern dann über die ausgefallene Sportstunde weniger auf als über die ausgefallene Mathematik-Stunde. Dass es da Zusammenhänge gibt – z.B. zwischen dem abstrakten Raum der Zahlen und dem konkret körperlich erlebten Bewegungsraum - ist ihnen weniger bewusst.
Vor allem im Kindergarten sehe ich die große Chance, die Förderung der Vielfalt der kindlichen Ausdrucksmöglichkeiten, etwa durch Musik und Bewegung oder Spielsituationen, die die Sinneswahrnehmung herausfordern, zielgerichtet zu unterstützen.

 

Ihre Beispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, das Kind in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen und über die engen Fachgrenzen hinweg zusammen zu arbeiten. Welche Rolle soll hier das neu gegründete Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung spielen, dessen Leiterin Sie sind?

 

Zimmer: Mit dem neu gegründeten Institut ist die große Chance gegeben, die Entwicklung von Kindern aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, zu begleiten und zu fördern sowie alle daran Beteiligten zusammenzubringen. Es geht darum, die Bedingungen, unter denen eine optimale Entwicklung von Kindern von Anfang an möglich ist, herauszufinden und umzusetzen.
Meist verläuft Forschung so, dass die Ergebnisse gar nicht bei den Betroffenen ankommen: Erkenntnisse werden in Fachzeitschriften veröffentlicht, unter Fachleuten diskutiert und kommuniziert. Eltern, Erzieherinnen oder Lehrer erhalten kaum davon Kenntnis. Durch die Vernetzung der Akteure in dem Institut, die Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen von der Familienbildung über Kindergärten, Grundschulen bis hin zu Einrichtungen der Erwachsenenbildung und den Forschungsstellen an der Universität ist ein direkter Austausch gewährleistet. So wird es verstärkt möglich, dass z.B. auch von Seiten der Kindergärten bedeutsame Fragestellungen aufgeworfen werden, welche die Forschung aufnimmt – Fragen, die sich Forscherinnen und Forscher vielleicht gar nicht stellen würden, wenn sie nicht den direkten Bezug zur Praxis, zu den hier tätigen Pädagogen und Bezugspersonen hätten. Dies könnte z.B. die Frage nach einer optimalen Raumgestaltung für 0- bis 3-jährige sein, welche die Sinnesentwicklung fördert oder auch zur Begleitung des Spracherwerbs bei Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund.

 

Was sind knapp zusammen gefasst für Sie persönlich die Kernpunkte für eine optimale Entwicklung des Kindes?

 

Zimmer: Das Grundlegende ist natürlich eine gute Beziehung zu den Menschen, von denen es umgeben ist, eine liebevolle, aber auch anregende Umgebung, die die Bedürfnisse des Kinde ernst nimmt und ihm ausreichend Spielraum gibt, um die eigenen Fähigkeiten auszubilden und Selbstständigkeit zu entwickeln.
Für eine optimale Entwicklung braucht ein Kind darüber hinaus Gemeinschaften, in denen es sich gut und vertrauensvoll aufgehoben fühlt, Vorbilder, an denen es sich orientieren kann sowie Aufgaben, an denen es wachsen kann.
Ganz wichtig ist für das Kind aber auch Spielraum – und zwar im mehrfachen Sinne: Raum, den es sich selbst erobern und in dem es seine Spuren hinterlassen kann, Raum in dem es die eigene Phantasie entfalten und Eindrücke, die es gewonnen hat, verarbeiten kann und Raum, in dem es im Spiel seine vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten weiterentwickeln kann.