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Was ist schon normal?

Verhaltensauffälligkeiten aus Sicht der Entwicklungspsychologie

Kein Kind ist wie das andere: Dass Kinder sich unterschiedlich schnell entwickeln und kindliche Persönlichkeitsunterschiede sich auch im Verhalten äußern, greift aus entwicklungspsychologischer Sicht jedoch zu kurz, wenn Verhaltensbesonderheiten Hinweise auf tiefersitzende Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen geben. Ist ein Kind normal entwickelt, bewegen sich die Entwicklungs- oder Verhaltensbesonderheiten noch innerhalb des breiten Normalbereichs oder deuten sich Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten an, die pädagogischer oder psychologischer Intervention bedürfen?

Was ist Verhaltensauffälligkeit?

„Wer bezeichnet welches Verhalten unter welchen Umständen bei wem mit welcher Verbindlichkeit und welchen Konsequenzen als welche Form abweichenden Verhaltens“ (Schenk 1977)?

Schenk (1977) hat die definitorischen Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Verhaltensauffälligkeiten in einem Satz zusammengeführt. Lassen Sie sich bitte für das Lesen dieses Zitates viel Zeit.

Es enthält in komprimierter Form die folgenden Fragen, die es bei der Betrachtung des auffälligen Verhaltens eines Kindes zu beachten gilt:
  • Wer stellt die Diagnose „verhaltensauffällig“?

In den letzten Jahren scheint in Kitas die Bereitschaft gestiegen zu sein, kindliches Verhalten als Verhaltensauffälligkeiten zu beschreiben. Erzieher*innen können einen entsprechenden Verdacht Eltern gegenüber äußern und diese auffordern, diesen Verdacht von einer Fachperson überprüfen zu lassen. Selbst sollten sie sich aber nie zu einem vorschnellen Urteil hinreißen lassen. Die häufig im Alltag zu hörenden Verdachtsdiagnosen: „Dieses Kind ist hyperaktiv (konzentrationsgestört, aggressiv, autistisch)“, entbehren häufig einer diagnostischen Grundlage. Diagnostische Instrumente (Psychologische Mess- und Testverfahren) gehören nicht in die Hände von Laien. Insofern ist die in den letzten Jahren gestiegene Erwartung an Erzieher*innen, selbst anhand von Fragebögen und Tabellen diagnostisch tätig zu werden, mit großer Sorge zu betrachten.

Was sind die Kriterien für „auffälliges“ Verhalten eines Kindes?
Ein auffälliges Verhalten ist zunächst ein Verhalten, das einer zweiten Person in irgendeiner Weise auffällt. Sobald ein Verhalten eines Kindes in den Aufmerksamkeitsfokus der Erwachsenen geraten ist, bedarf es sicherer und nachprüfbarer Kriterien, bevor der Verdacht einer Verhaltensauffälligkeit geäußert werden könnte. Diese Kriterien sind so zentral, dass sie nachfolgend genauer beschrieben werden.

Unter welchen Umständen kann „auffälliges“ Verhalten gemessen werden?
Warum tun Kinder, warum tun Menschen das, was sie tun? „Jedes menschliche Verhalten ist ein subjektiv problemlösendes“, beschreibt Manfred Wittrock (1998) den menschlichen Wunsch, mit den eigenen Verhaltensmöglichkeiten so gut wie es nur irgendwie geht im Alltag zurechtzukommen und die aktuellen Anforderungen zu bewältigen.

Kinder mit diagnostizierten Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten sind stärker eingeschränkt in diesen Möglichkeiten als „normale“ Kinder. Für die sie umgebenden Umstände verfügen sie nur über ein eingeschränktes Repertoire an Verhaltensweisen. Pädagogische Arbeit muss von daher immer daran ansetzen, zusätzliche Verhaltensmöglichkeiten zu entwickeln, nicht bereits erworbene (wenn auch aus pädagogischer Sicht unangemessene) Verhaltensweisen abzubauen. Viel zu häufig wird im Alltag gesagt, was das Kind nicht tun soll, anstatt ihm dabei zu helfen, Alternativen zu finden, die zum gleichen Ziel führen.

Als Beobachter von kindlichen Verhalten im Kitaalltag stoße ich häufig auf die Kritik, dass das Kind in meinem Beisein das auffällige Verhalten nicht zeige. „Sie haben ja auch Einzelbetreuung gemacht“, „Heute war das Kind leider ja ganz anders“, lauten Reaktionen darauf, dass ich die Kinder zumeist als „völlig normal entwickelt“ erlebe. Nicht beachtet wird dabei, dass nur dann von einer Störung mit Krankheitswert gesprochen werden kann, wenn das Kind seine Auffälligkeit immer zeigt. Ein Kind mit einer diagnostizierbaren Störung kann sich gar nicht anders verhalten als im Rahmen seiner eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten, auch nicht in meinem Beisein. Sollte es sich aber anders verhalten können, so ist eines der wichtigsten Kriterien einer Verhaltens- oder Entwicklungsstörung nicht erfüllt. Hier ergibt sich die Notwendigkeit einer Änderung der pädagogischen Arbeit mit dem Kind, nicht eine Ursachensuche im Kind selbst.

Kann ein Verhalten in einer speziellen Situation angemessen sein?
Das gleiche auffällige Verhalten eines Kindes in der Situation der Tagesstätte kann in seinem Elternhaus völlig angemessen und normal sein. Genauso kann auch eine (diagnostizierte) geistige Behinderung eines Kindes eine Erklärung für sein auffälliges Verhalten sein. Dann wird das Verhalten, das aus Sicht des durchschnittlichen Kindergartenkindes „auffällig“, aus dem Blickwinkel seiner besonderen Lebensumstände oder seiner eingeschränkten geistigen Leistungsfähigkeit auf einmal „unauffällig“.

Welche Konsequenzen hat eine beim Kind diagnostizierte Verhaltensauffälligkeit?
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine Diagnose „Verhaltensauffälligkeit“ nur mit großer Vorsicht und von Fachleuten zu treffen ist. Grund dafür ist, dass eine solche Diagnose für das Kind weitreichende Folgen hat. Ein Kind, das als verhaltensauffällig diagnostiziert ist, wird dieses Label für lange Zeit sichtbar mit sich herumtragen: Der hyperaktive Max, die schüchterne Lisa, der aggressive Paul – alle diese Kinder tragen ihren scheinbaren Makel in nahezu jedem Gespräch, das über das Kind geführt wird. Die Folgen daraus können die weitere Entwicklung des Kindes unter Umständen sogar noch schwerer belasten als die ursprüngliche Entwicklungsauffälligkeit selbst. Der Blick der Erwachsenen wird automatisch auf das auffällige Verhalten gerichtet sein, andere Verhaltensbereiche der Kinder werden der Wahrnehmung eher entgehen (Max’ Intelligenz, Lisas Gedächtnisvermögen, Pauls Feinmotorik).

Es besteht darüber hinaus die Tendenz, dass selbst kleine Kinder ihre diagnostizierte Auffälligkeit kennen und als entschuldigende Erklärung für ihr aktuelles Verhalten heranziehen („Die wissen doch, dass ich so schüchtern bin, ich kann beim Morgenkreis nicht mitmachen“). Andere Kinder können beginnen, die Auffälligkeit des Kindes auszunutzen (z. B. sich Paul gegenüber ebenfalls aggressiv zu verhalten und darauf zu vertrauen, dass sicher Paul den Ärger bekommt). Für die Eltern stellt eine Diagnose Verhaltensauffälligkeit eine langfristige Belastung dar, die die Zukunftsaussichten des Kindes trübt. Auch deshalb fällt es vielen Eltern schwer, sich auf vertrauensvolle Gespräche über auffälliges Verhalten ihres Kindes einzulassen.

Was sind die Maßstäbe für richtiges oder falsches Verhalten?
Was richtig und was falsch ist, ist immer eine subjektive Einschätzung, die schwer der objektiven und zuverlässigen Messung zugänglich ist. Letztendlich sind es immer Menschen, die über Menschen urteilen. Je länger ein Kontakt besteht, umso schwerer wird es, sich von diesen individuellen Maßstäben frei zu machen. Es ist nicht schlimm, dass jede Fachkraft eigene Vorstellungen davon hat, was normal ist. Im Handeln mit dem Kind droht jedoch pädagogische Willkür, wenn sie diese Normvorstellungen unreflektiert anwendet. Die Norm der Fachkraft wird dann für das Kind zum Gesetz, denn in der Regel kann es sich ja nicht aussuchen, ob es mit dieser Fachkraft und ihren Normvorstellungen gut harmoniert – die Norm der Fachkraft wird für das Kind zum belastenden Gesetz.

Kriterien für Verhaltensauffälligkeiten

Die folgende Aufzählung soll Ihnen dabei helfen, angesichts eines auffälligen Verhaltens eines Kindes eine Einschätzung zu treffen, ob möglicherweise „Gefahr im Verzug besteht“ oder ob dieses Verhalten – trotz seiner Auffälligkeit – sicher nicht in den Bereich der Verhaltensauffälligkeiten fällt. Streng genommen muss jedes der folgenden Kriterien (mit einer Ausnahme) zutreffen, damit eine Verdachtsdiagnose geäußert werden kann. Eine letztendliche Diagnose ist jedoch nur durch Spezialist*innen möglich.

  • Das Verhalten befindet sich sicher außerhalb des Normalbereichs von Kindern im entsprechenden Alter
Dieses Kriterium wird anhand der sozialen Bezugsnorm getroffen. Eine solche Entscheidung ist allerdings nur dann sicher zu treffen, wenn für das entsprechende Verhalten tatsächlich Statistiken vorliegen. Solche Statistiken gibt es zum Beispiel für gut erfassbare Verhaltensweisen (z. B. aus dem Bereich der Grob- und Feinmotorik sowie der Intelligenz), soziale Verhaltensweisen lassen sich demgegenüber weit schwerer statistisch vergleichen (z.B. Schüchternheit oder Aggressivität). Kinderärzte oder – psychologen verfügen über entsprechende Testverfahren. Bestimmte Grenzsteinverfahren, z.B. „Grenzsteine der Entwicklung“ (Laewen 2006) geben einen Hinweis darauf, ob sich die aktuellen Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Kindes tatsächlich weit außerhalb des Normalbereichs der Alterskameraden befinden. Diese ersetzen keine fachliche Diagnose, können aber ein „Bauchgefühl“ einer erfahrenen Fachkraft ergänzen und als Grundlage für Entwicklungsgespräche mit Eltern dienen.

  • Verhalten stellt eine Gefährdung des Kindes selbst oder anderer Kinder dar
Dieses Kriterium gilt es sehr selbstkritisch anzuwenden, da Fachkräfte im Alltag häufig Verhaltensweisen von Kindern kritisieren, die sie momentan als belastend empfinden, die aber nicht unbedingt eine längerfristige Gefährdung des Kindes oder anderer darstellen. Ein Kind, das andere Kinder angreift, kann einerseits als fremdgefährdend eingeschätzt werden oder aber auch als Entwicklungschance für andere, die an ihm lernen, sich selbst zu verteidigen. Schon dieses Beispiel verdeutlicht, wie viel Subjektivität im Alltag Anwendung findet.

  • Verhalten dauert länger als drei bis sechs Monate an
Dieses Kriterium macht darauf aufmerksam, dass eine echte Verhaltensauffälligkeit kein momentanes Geschehen ist, sondern tief im Verhalten und in der Psyche des Kindes verwurzelt ist. Erst wenn das Verhalten kontinuierlich über einen langen Zeitraum gezeigt wird, kann sicher davon ausgegangen werden, dass tiefgreifende Ursachen das Verhalten bestimmen und eine weitgehende therapeutische Einflussnahme notwendig sein kann.

  • Verhalten tritt situationsübergreifend auf
Zunächst berichten Fachkräfte häufig, dass das entsprechende Kind das auffällige Verhalten „immer“ zeige. Erst genaues Nachfragen verdeutlicht, dass es auch Zeiten gibt, in denen das Kind das auffällige Verhalten nicht zeigt. Ein Kind mit einer echten Verhaltensauffälligkeit (z.B. mit einer geistigen Behinderung, einer schweren Persönlichkeitsstörung, einer Depression, einem Gendefekt) zeigt seine Verhaltensauffälligkeiten situationsübergreifend in allen Alltagsgelegenheiten, in der Einrichtung genauso wie zuhause, bei den Großeltern genauso wie im Urlaub. Sollte es jedoch beim aktuell betrachteten Kind auch Situationen geben, in denen das Kind sein auffälliges Verhalten nicht zeigt, so ist das ein starker Hinweis auf die Situationsabhängigkeit des Verhaltens. Da gilt es die Situationen genau zu analysieren und ggf. zu ändern, bevor das Kind als „verhaltensauffällig“ beschrieben wird.

  • Verhalten tritt nicht nur bei einer pädagogischen Fachkraft auf
Ein besonderes Beispiel einer Situationsabhängigkeit von Verhalten liegt dann vor, wenn das Kind sein auffälliges Verhalten nur bei einer bestimmten Person (z.B. einer bestimmten Erzieherin) zeigt, bei anderen Erwachsenen jedoch nicht. Hier ist die Beziehung der beiden Ursache für das auffällige Verhalten, und das Kind kann nicht als verhaltensauffällig bezeichnet werden. Insofern ist in der Praxis jede Beobachtung eines Kindes mit Beobachtungen anderer Erzieher*innen abzugleichen und ggf. an einen Gruppenwechsel des Kindes zu denken.

  • Verhalten stellt keine unmittelbare Bewältigungsreaktion auf ein belastendes Umweltereignis dar
Jeder Mensch hat das Recht, auf ein belastendes Umweltereignis zunächst mit einem auffälligen Verhalten zu reagieren. Ein solches Umweltereignis (z. B. Geburt eines Geschwisterkindes) erfordert zahlreiche Neuanpassungen im Verhalten, die sich bei jedem Menschen über einen längeren Zeitraum erstrecken können. Das auffällige Verhalten ist somit als Bewältigungsreaktion zu verstehen. Dem Kind ist Unterstützung bei der Entwicklung von Verhaltensalternativen zu geben. Eine Bewältigungsreaktion stellt keine Verhaltensauffälligkeit dar, solange das oben genannte zeitliche Kriterium nicht überschritten wird.

  • Verhaltensauffälligkeit wurde sicher durch Fachleute (Ärzte, Psychologen) diagnostiziert
Die Bedeutung dieses Kriteriums ist an verschiedenen Stellen im Text betont worden. Letztendlich wird man aber auch bei den Fachleuten auf unterschiedliche Einschätzungen ein und desselben Verhaltens eines Kindes treffen. Erzieher*innen sollten auch auf ihr Bauchgefühl hören und Eltern dabei unterstützen, ggf. auch eine zweite Meinung einzuholen.


  • Kind selbst empfindet Leidensdruck
Dieses Kriterium ist das einzige Kriterium, das gegeben sein kann, aber nicht muss, damit eine Verdachtsdiagnose einer Verhaltensauffälligkeit erfolgen kann. Sollte ein Kind angesichts seines Verhaltens von sich aus Leidensdruck äußern, so ist die Prognose für die therapeutische oder pädagogische Begleitung des Kindes zumeist gut. Schwierig erweist sich die Begleitung des Kindes immer dann, wenn es selbst unter seinem auffälligen Verhalten nicht leidet oder sogar Vorteile empfindet. Hier kommt therapeutische Arbeit schnell an ihre Grenzen.

Der Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten

Die Beschäftigung mit all den Veränderungen, die sich im Laufe des Lebens im Erleben und Verhalten zeigen, steht im Mittelpunkt der Entwicklungspsychologie. Selten liegt dabei der Fokus entwicklungspsychologischen Interesses auf Störungen, im Gegenteil, die Normalität von menschlicher Entwicklung steht in ihr im Vordergrund.

Fragen erhält sie jedoch aus den Nachbarwissenschaften, der Klinischen Psychologie, der Medizin und – für uns hier von besonderer Bedeutung – aus der Pädagogik, wenn Grenzbereiche menschlicher Normalität berührt werden. Das entwicklungspsychologische Vorgehen ist dabei standardisiert und kann als Vorlage ebenso in der Pädagogik dienen. Was tun Entwicklungspsycholog*innen, wenn sie also mit dem Verdacht einer Entwicklungsauffälligkeit oder -störung eines Kindes konfrontiert werden?

Vier Fragen werden von Psycholog*innen nacheinander beantwortet. Diese vier Fragen bauen aufeinander auf und können von daher nicht in ihrer Reihenfolge der Betrachtung vertauscht werden:

1. Was passiert hier (jetzt gerade, sichtbar im Verhalten) ganz genau? (Beobachtung und Dokumentation)
Im Fokus dieser Frage steht die sachliche und interpretationsfreie Beobachtung und Dokumentation des aktuellen Verhaltens des Kindes. Die Verhaltensweisen des Kindes werden ohne Wertungen und ohne emotionale Beteiligung durch den Beobachtenden notiert. Vorgeschichte, Verhaltensberichte von Laien, Verallgemeinerungen oder moralische Kriterien finden hier keine Berücksichtigung. Eventuell werden standardisierte Entwicklungs- oder Intelligenztests mit dem Kind durchgeführt.

2. Wohin führt das beobachtete Verhalten? (Prognose)
Aus den gesammelten Beobachtungen muss eine Entwicklungsprognose gegeben werden. Der Blick von Entwicklungspsycholog*innen geht also zunächst in die Zukunft: Deutet sich im beobachteten und dokumentierten Verhalten des Kindes eine langfristige Störung mit Krankheitswert an? Verwendet werden für diese Entscheidung zwei Definitionen von „normal“ – Normalität im Sinne eines alterstypischen Verhaltens (ermittelt aus dem durchschnittlichen Verhalten von Kindern desselben Alters) oder Normalität im Sinne eines Vergleichs des Kindes mit seinen bisherigen Verhaltensweisen (dies erfordert selbstverständlich längerfristige Beobachtungen). Bei der Festsetzung von Normalität sind Psycholog*innen in der Regel sehr großzügig: von risikoreicher Entwicklung sprechen wir erst dann, wenn das kindliche Verhalten seltener ist als bei 90 bis 95 Prozent der Altersgleichen.

3. Woher kommt das Verhalten? (Diagnose)
Die Suche nach Verhaltensursachen – also eine Diagnose – wird erst betrieben, wenn die Entwicklungsprognose tatsächlich auf eine Risikoentwicklung hindeutet. Hier wird erneut deutlich, dass tagtägliche Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten erst dann als „Verhaltensauffälligkeiten“ untersucht werden, wenn sie tatsächlich Hinweis auf eine tiefgreifende Verhaltensstörung oder Entwicklungsverzögerung sind. Der Begriff der „Störung mit Krankheitswert“ mag dies verdeutlichen. Ursachen für das Verhalten werden „bio-psycho-sozial“ beschrieben, sie sind also aus entwicklungspsychologischer Sicht zumeist ein Zusammenspiel von biologischen (genetischen, medizinischen, körperlichen) Besonderheiten des Kindes, seiner erzieherischen Umwelt und Sozialisation sowie kindlicher Ausdruck von Individualität und Selbstbestimmung. In diesem komplizierten Spannungsfeld zwischen der Eigenaktivität des Kindes und seiner kontextuellen Handlungsmöglichkeiten ist es nicht möglich, genau eine Störungsursache zu identifizieren. Dies widerspricht oft dem pädagogischen Wunsch, die eine Ursache zu finden und dann zu bearbeiten.

4. Was kann man tun? (Möglichkeiten und Grenzen von Intervention)
Damit deutet sich auch bereits an, dass die vierte (aus Sicht vieler pädagogischer Fachkräfte aber erste und entscheidende) Frage nur dann befriedigend beantwortet werden kann, wenn tatsächlich eine klar umrissene Ursache gefunden werden konnte. Es gibt sicher Möglichkeiten, therapeutisch Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen zu behandeln, pädagogische Fachkräfte sind hier jedoch schnell an ihren Grenzen, da sie für echte Störungen mit Krankheitswert in der Regel nicht ausgebildet sind. Sollte also eine diagnostizierte Verhaltensauffälligkeit als Störung mit Krankheitswert beim Kind vorliegen, benötigen pädagogische Fachkräfte ein gutes Netzwerk an Beratungs- und Therapieeinrichtungen, das – selbstverständlich unter Einbeziehung der Eltern – frühestmöglich aktiviert werden muss. Nicht alle Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten sind überhaupt behandelbar. Hier gilt es in erster Linie eine dennoch entwicklungsförderliche Umwelt für das Kind zu finden und – auch wenn das merkwürdig klingt – dort mit den Besonderheiten des Kindes leben zu lernen und ihm zu ermöglichen, mit seiner Störung ein bestmögliches Leben zu führen.

Fällt Ihnen etwas auf? Diese vier Fragen stellen sich pädagogische Fachkräfte im Alltag auch. Anders als Psycholog*innen häufig aber in genau umgekehrter Reihenfolge: bei einem auffälligen, störenden oder besorgniserregenden Verhalten eines Kindes wird häufig zunächst nach der schnellen Lösung gefragt, die das Verhalten beseitigt (Frage 4).
Erst wenn dies nicht gelingt und die Auffälligkeit fortbesteht, wird nach Verhaltensursachen geforscht (leider häufig beschränkt auf vermeintliche Erziehungsfehler im Elternhaus). Die Entwicklungsprognose von pädagogischen Fachkräften ist dann eher schlecht, wenn es sich um störende, regelbrechende, aggressive Verhaltensweisen des Kindes handelt (solches Überagieren wird psychologisch als „externalisierendes“ Verhalten bezeichnet). Auch wenn diese Kinder den aktuellen Alltag belasten – die langfristige Prognose bei diesen Kindern ist häufig gut. Entwicklungspsychologische Forschung konnte zeigen, dass vermeintlich unangepasstes, regelbrechendes oder undiszipliniertes Verhalten sogar zukünftig eher erfolgreiche Berufsverläufe und höheres Einkommen vorhersagt (Mienert 2014). Das aus psychologischer Sicht langfristig eher risikoreiche „internalisierende“ Verhalten (Rückzug, Schüchternheit, Unsichtbarkeit im Alltag) wird demgegenüber im Kitaalltag zu häufig vernachlässigt.

Ein kleines Fazit

Auffälliges Verhalten oder Verhaltensauffälligkeit? Hinter diesem Begriffspaar steckt weit mehr als nur eine Unterscheidung von Wortbedeutungen. Der genaue Blick auf das kindliche Verhalten ermöglicht es, situationsbedingte, aktuelle Verhaltensweisen von überdauernden, tiefgreifenden Verhaltensproblematiken und Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden. Die Diagnose einer überdauernden Verhaltensauffälligkeit darf dabei nie leichtfertig und vorschnell erfolgen. Sie stigmatisiert das Kind, schränkt seine Möglichkeiten zur Verhaltensänderungen ein und entlässt Pädagog*innen zu leicht aus der Verantwortung, eigene Anteile am Verhalten des Kindes zu reflektieren. Vielleicht hilft ein Blick in die eigene Kindheit. Wie viel störendes, seltsames, merkwürdiges Verhalten haben Sie selbst dereinst gezeigt. Gras gegessen? Andere ausgelacht? Feuer gelegt? Exkremente untersucht? Nägel gekaut?

Auffälliges Verhalten sicher – aber aufgefallen ist es den Erwachsenen nicht. Viele Stunden am Tag haben wir uns ausprobiert und Dinge vor den Augen der Eltern und Fachkräfte verbergen können – beim freien unbeobachteten Spiel. In Zeiten überwachter Kindheit (Mienert 2016) entgeht kein Verhalten mehr dem strengen erwachsenen Blick. Die Individualität von Kindern wird zwar betont, gleichzeitig wächst aber der Druck zu Konformität und Anpassung in der Kindergruppe unter erwachsener Aufsicht. Ein Kind, dessen Verhalten auffällt, braucht Gleichaltrige, die regulierend auf ihn einwirken können und Erwachsene, die seine ungewöhnlichen Ausdrucksformen nicht pathologisieren, sondern akzeptieren.

Ein verhaltensauffälliges Kind hingegen braucht therapeutische Hilfe, die häufig über die Möglichkeiten einer Regelkindereinrichtung hinausgeht. Hier gilt es, für das verhaltensauffällige Kind Netzwerke zwischen Einrichtung, Elternhaus und therapeutischen Fachkräften zu knüpfen.


Literatur

  • Laewen, H.-J.: Die Grenzsteine der Entwicklung: Ein Frühwarnsystem für Risikoanlagen. In: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.): Umgang mit Differenzen: Entwicklungsbedarfe erkennen – Möglichkeiten erkennen. Verlag das netz 2006
  • Mienert, Mienert: Alles wirklich so schlimm?! Kinder, die anders sind, fordern uns heraus. Kita aktuell spezial, 05/2014. Wolters Kluwer 2014
  • Mienert, Malte: Das haben wir doch schon immer so gemacht Die "Ja,abers" in Kita und Hort (2. veränderte Aufl.). Vandehoeck & Ruprecht 2016
  • Schenk, J.: Abweichendes Verhalten. In: Pongratz, L. J. (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd.8/1, Klinische Psychologie, S.63-115. Hogrefe 1977
  • Wittrock, Manfred: Ansatz der Lebensproblemzentrierten Pädagogik. In: Wittrock, Manfred (Hrsg.): Verhaltensstörungen als Herausforderung. Pädagogisch-therapeutische Erklärungs- und Handlungsansätze. BiS 1998
Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus
klein&groß 9-2020


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