Anja Cantzler

Spurensuche – Weiterentwicklung durch biografische Selbstreflexion

Reflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte ■ Inwieweit kann durch Biografiearbeit das eigene pädagogische Handeln reflektiert und weiterentwickelt werden? Warum kann dies hilfreich und sinnvoll im Rahmen der Konzeptentwicklung sein? Und was ist überhaupt unter Biografiearbeit im Kontext Tageseinrichtung für Kinder zu verstehen? Darauf versucht der folgende Beitrag die ein oder andere Antwort zu geben.

Zur Einstimmung ein Beispiel aus der Praxis: Im Rahmen einer Dienstbesprechung wird wiederholt über den Umgang der pädagogischen Fachkräfte mit Kindern, die nicht aufessen wollen, gesprochen. Die Meinungen gehen bei diesem Thema im Team weit auseinander: Von »was ein Kind sich selbst genommen hat, muss es auf jeden Fall aufessen, weil Lebensmittel viel zu schade zum Wegschmeißen sind« bis »kein Kind darf zum Aufessen gezwungen werden, da es noch nicht in der Lage ist, die Menge angemessen und passend einschätzen zu können« sind die verschiedensten Positionen vertreten.

Die Leiterin nimmt dies zum Anlass und bittet alle Mitarbeiter/innen, sich an ihre Kindheit zu erinnern und eine typische Essenssituation aus der Kindheit zu erzählen. Sie fordert ihr Team auf, abzuleiten, inwieweit diese biografischen Erfahrungen prägend für ihre Haltung mit Blick auf das Aufessen sind.

Mit Hilfe dieser Bewusstmachung der individuellen Erfahrung gelingt es schließlich, sich auf das Fachwissen über das Ernährungsverhalten von Kindern und den Grundsätzen der Partizipation auf ein einheitliches Handeln zu verständigen.

In jeder Einrichtung kommen Menschen mit unterschiedlichen Biografien und daraus resultierenden Erlebnissen und Erfahrungen in einem Team zusammen. Diese unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse prägen und beeinflussen oftmals unbewusst das pädagogische Denken und Handeln jeder einzelnen Fachkraft. Und so kommt es dann, ähnlich wie in unserem Beispiel, zu Diskussionen und Auseinandersetzungen, bei denen allgemeingültiges Fachwissen und pädagogische Grundsätze in den Hintergrund geraten.

Die Leiterin hat hier mit Hilfe der Biografiearbeit interveniert und so den Blick für pädagogische Grundlagen wieder geöffnet.

Biografiearbeit und biografische Selbstreflexion

Aber was versteht man nun eigentlich unter Biografiearbeit? Bei der Biografiearbeit handelt es sich um einen Ansatz in der psychosozialen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Sie ist in allen Lebensphasen einsetzbar. Es ist eine Methode, die einen Menschen unterstützt, lebensgeschichtliche Ereignisse individuell zu verarbeiten, indem dieser Mensch die eigene Lebensgeschichte reflektiert. Diese »biografische Selbstreflexion unterstützt und fördert so die individuelle Identitätsfindung« (vgl. Gudjons 2008, S. 16 ".). Durch die Reflexion und das dadurch gewonnene Verständnis für die eigene Lebensgeschichte kann ein Mensch Ressourcen und Kompetenzen entdecken, die dann als Grundlage für die persönliche Weiterentwicklung dienen.

Nach Klingberger (vgl. Klingberger 2003) geht es bei der Biografiearbeit darum, mit Blick auf die Gegenwart bzw. auf das eigene Denken und Handeln in der Gegenwart, Ursprünge im Vergangenen zu erinnern, um daraus zukünftiges Handeln entwickeln zu können.

Die Biografiearbeit hat ihren wesentlichen Ursprung in der Altenarbeit. Darüber hinaus wird sie in der Erwachsenenbildung, in verschiedenen Beratungsformen wie Coaching und Supervision und in verschiedensten Kontexten der Jugend- und Erziehungshilfe angewendet. Auch in therapeutischen Zusammenhängen findet sich die Biografiearbeit wieder, wobei sie nicht als explizite Therapieform zu verstehen ist. Biografiearbeit kann zwar Ausgangspunkt für eine Therapie werden, wenn dadurch konfliktbehaftete Denk- und Handlungsmuster und unverarbeitete Problemlagen sichtbar werden, dies geschieht in der Regel jedoch nur im Einzelfall.

Reflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte

Im Zentrum der Biografiearbeit steht die Reflexion und Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen. Hierbei geht es anders als im Lebenslauf nicht um die Erfassung aller Daten und deren zeitliche Abfolge, sondern in erster Linie um die Interpretation dieser Daten und Fakten, also um die Bedeutung der einzelnen Ereignisse für den jeweiligen Menschen (vgl. Miethe, S. 12).

Im Rahmen der Biografiearbeit können verschiedene Teilbiografien näher betrachtet und bearbeitet werden, je nachdem welcher Fokus benötigt wird, um sich explizit weiterzuentwickeln. Aus diesen Teilbiografien ergeben sich viele Detailfragen mit deren Hilfe pädagogische Fachkräfte oder Teams pädagogische Themen und Handlungsweisen unter biografischen Gesichtspunkten reflektieren und bearbeiten können.
Im Folgenden hierzu ein paar Beispiele, wie das im Kontext Tageseinrichtung für Kinder aussehen könnte:


Weitere Teilbiografien sind die Lern- und Bildungsbiograe mit den individuellen Lernprozessen und Lerngewinnen, die  Biografie mit geschlechtsspezifischen Aspekten, bei der es um das geschlechtsspezifische Rollenbild geht und die Biografie aus nationaler Herkunft, die in der Entwicklung einer inklusiven, vorurteilsbewussten und kultursensiblen Pädagogik eine große Rolle spielt.

All diese verschiedenen Aspekte ergeben in der Summe die Persönlichkeitsbiografie eines Menschen. Sie nehmen Einfluss auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. Die biografische Selbstreflexion ermöglicht das Bewusstmachen der eigenen Potenziale, Strategien, Schwächen und Entwicklungsressourcen. Das Verständnis für die eigene Vergangenheit eröffnet das Feld für die Weiterentwicklung und Veränderung von pädagogischen Denk- und Handlungsansätzen für die Gegenwart und Zukunft.

Formelle und informelle Biografiearbeit

Biografiearbeit kann sich formell mit Biografie auseinandersetzen, indem die Biografiearbeit explizit als Thema benannt wird z.B. in Kursen, Seminaren, Workshops oder Veranstaltungen für spezielle Zielgruppen. Oder es findet die eher informelle Auseinandersetzung mit Biografie statt, wobei Alltagssituationen im professionellen Umfeld genutzt werden, um biografische Aspekte einzubringen oder zu erfragen. Dies geschieht häufig nebenbei und für den Befragten eher unbewusst.

In unserem Beispiel hat sich die Leiterin der informellen Variante bedient. Ähnliches geschieht auch, wenn pädagogische Fachkräfte mit den Eltern im Eingangsgespräch einen AnamneseAnamnese|||||Anamnese "bedeutet Basiserfassung von Daten und Informationen. Das Wort Anamnese stammt aus dem Griechischen und bedeutet Erinnerung, Wiedererinnerung und Gedächtnis. Ziel einer Anamnese ist es, Informationen zum biografischen Hintergrund des Kindes und seiner Familie zu erhalten." (Quelle: Schlösser, KiTa Fachtexte, 2011)bogen bearbeiten und sich hierdurch über viele Teilaspekte der Biografien der Kinder und Eltern informieren. So, wie die biografische Selbstreflexion zum besseren Verständnis des eigenen Handelns führt, kann die Beschäftigung mit den Biografien der Kinder und Eltern zum besseren Verständnis des Gegenübers beitragen.

Methoden der Biografiearbeit

Hierzu stehen der Biografiearbeit die unterschiedlichsten Methoden zur Verfügung (vgl. Miethe 2011, S. 41 ".):

In dem Beispiel zu Beginn hat die Leiterin sich spontan für einen narrativen Zugang entschieden. Welche Methode in welcher Situation Anwendung findet, hängt im Wesentlichen von Alter, Entwicklung und Erfahrung der beteiligten Personen ab.

Einsatzmöglichkeiten in der Kita

Welche Einsatzmöglichkeiten bieten sich im Kontext Tageseinrichtung für die Biografiearbeit? Beginnen wir mit der Selbstreflektion jeder einzelnen pädagogischen Fachkraft in Bezug auf die eigenen biografischen Hintergründe und Handlungsmuster. Eine gute Kenntnis der eigenen Persönlichkeit mit den individuellen Zielen, Potenzialen und Ressourcen ist Basis einer professionell denkenden und handelnden Fachkraft.

Darüber hinaus bietet die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Biografien gemeinsam im Team weiterführende Erkenntnisse für einen gemeinsamen beruflichen Entwicklungsprozess. Dieser Prozess kann sich positiv auf die pädagogische Handlungsmotivation und Reflektionsfähigkeit auswirken. Im Kontakt mit Kindern und Eltern können dann eigene biografische Hintergründe reflektiert werden, was schließlich zu einem verbesserten Verständnis und Kontakt zu Kindern und Eltern und deren Lebensbedingungen führen kann.

Auch in der Praxisanleitung nimmt eine biografiesensible Herangehensweise eine zentrale Rolle ein. In Ergänzung zur
kompetenzorientierten Ausbildung angehender Fachkräfte, in der biografisches Lernen fester Bestandteil ist, kann die
Praxisanleitung gemeinsam mit den Praktikanten und Praktikantinnen deren pädagogisches Handlungsrepertoire aus dem biografischen Hintergrund reflektieren.

Fazit

Zusammenfassend bietet die Biografiearbeit pädagogischen Fachkräften und Teams eine hilfreiche Möglichkeit zur professionellen Auseinandersetzung mit den individuellen Lebensgeschichten der einzelnen Fachkräfte im Team, der Praktikanten/Praktikantinnen und der Kinder und Familien. Die Biografiearbeit ist als ein Perspektiven erweiternder Ansatz zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit der Biografie in der Gegenwart leistet Erinnerungsarbeit auf Basis der Vergangenheit mit Blick auf Veränderungspotenzial für die Zukunft. Unter dem ressourcenorientierten Fokus »Schatzsuche statt Fehlerfahndung« geht es hauptsächlich darum, durch die Reflexion und das Verstehen der eigenen Lebensgeschichte den pädagogischen Fachkräften zu ermöglichen, ihre Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als Grundlage für ein gut reflektiertes und tragbares Fundament professionellen Denkens und Handelns zu entdecken.

Literatur


Übernahme des Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa Aktuell ND5-2020, S. 116-118



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