Körperkontakt und Berührung

Zu vernachlässigten Dimensionen in Bildung und Erziehung

„Eine Berührung macht etwas
mit zwei Menschen,
verbindet sie.
Und vielleicht bleibt diese Erinnerung“

Pierre Dulaine
(1944)

„Berührt, gestreichelt und massiert werden
das ist Nahrung für das Kind. Nahrung,
die genauso wichtig ist,
wie Mineralien, Vitaminen und Proteine.
Nahrung, die Liebe ist.
Wenn ein Kind sie entbehren muss,
will es lieber sterben.
Und nicht selten stirbt es wirklich.“

Frederick Leboyer



In diesem Beitrag geht es darum, haptische Wahrnehmung aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Dafür stellt die Berührung zwischen einem Säugling und dessen Eltern den Ausgangspunkt dar. Anschließend wird die Haut als wichtigstes Organ innerhalb eines Berührungsgeschehen vorgestellt. Danach richtet sich der Blick auf Berührung im Kontext weiterer Beziehungskonstellationen innerhalb pädagogischer Einrichtungen und die Berührungsmodi anderer Kulturen. Am Schluss richtet sich der thematische Bezug auf die Arbeit von Erzieherinnen. Die Fragestellung lautet, welche Rolle Berührungen vor allem die zwischen Kindern und Erwachsenen spielen. (Grunwald, M. 2017).

Die Haut als Kontakt- und Berührungsorgan

Die zentrale Rolle im Berührungsgeschehen spielt das größte und schon am frühesten ausgebildete Sinnesorgan: die Haut. Sie ist eine körperumspannende sichtbare Außenfläche und „Membran“ zwischen „Selbst und Welt“ (Benthien 1999, 23): Montagu (1990) nennt sie die „Mutter“ der Sinnesorgane", die atmet, vor Krankheiten schützt, fühlt sowie die Temperatur reguliert. Die Augen können wir schließen, uns die Ohren und Nase zuhalten, aber die Haut fühlt immer. Wir sind unseren Hautempfindungen „ausgeliefert“, mittels derer wir unentwegt mit unserer Umwelt Kontakt aufnehmen, sie berühren und von ihr berührt werden. Für unsere psychische und physische Gesundheit und unser Wohlbefinden spielt die Haut dementsprechend eine zentrale Rolle“ (Anders/Weddemar2002, 33ff.).

Die Arbeiten des englischen Anthropologen Maturana (1990) und des französischen Psychologen Anzieu (1992) konnten zeigen, wie abhängig wir von der Haut als Berührungsorgan für unser „In-der-Welt- und Bei-sich-selbst-Sein“ sind. In Anlehnung an Arbeiten Freuds spricht Didier Anzieu in seiner Theorie sogar vom „Haut-Ich“ (ebd., 55), dem er mehrere Funktionen zuspricht. Sie ist nach ihm auch eine Oberfläche, auf der die Zeichen einer Beziehung eingetragen werden (ebd., 61). Das Kind entdeckt mit zunehmendem Alter allmählich seine Haut als umhüllende Grenze, verbunden mit dem Gefühl: ich bin drinnen und das da ist draußen – das ist die übrige Welt (vgl. Fröhlich 1991, 149ff.).
Schon der Embryo reagiert sehr früh auf Berührungen, später verschafft sich der Fötus eigenständig Berührungen und wird auch durch die Flüssigkeit und die zunehmende Enge stimuliert. Das Neugeborene kommt sozusagen schon als „berührtes“ Wesen auf die Welt. Leboyer (1991) fordert uns auf, mit dem neugeborenen Kind in der Ursprache zu sprechen, die es versteht und meint damit in erster Linie die des Körperkontakts, der Berührung durch unsere Hände.

Die Frage, ob Hautstimulierungen für die weitere gesunde körperliche und seelische Entwicklung nötig sind und umgekehrt, ob ein Mangel daran und Unzulänglichkeit Auswirkungen haben, kann heute klar beantwortet werden. Viele interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.e Forscher*innen wie Hamnett, Spitz, Balint, Freud, Ayres u. a. der letzten 100 Jahre haben sich mit diesem Thema beschäftigt. Deren Forschungsergebnisse zeigen Folgendes:

Durch das Angefasst-, Liebkost-, Auf-dem-Arm-Gehalten-, Gewiegt-, Gestreichelt-, Gestillt- und Gefüttert-Werden, durch liebevolle Anrede und Körperwärme der Mutter bzw. des Vaters entstehen ganzheitliche Entwicklungsanregungen „von Haut zu Haut“, die für das Kind unverzichtbar sind. „Etwas berühren und berührt werden, sind wichtige Vorgänge für das Kleinkind mit Auswirkungen für das gesamte Leben“ (Ayres 1984, 8, Liedloff, 2006). Während der Liebkosungen wird gleichzeitig auch das sogenannte „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet, das die Empfindungen positiv verstärkt. (Benthien,1999 und Grunwald 2017)

Innerhalb einer von mir durchgeführten Forschungsarbeit zum Thema Körpererfahrung, Berührung und Beziehung zwischen Pflegeeltern und deren Pflegekindern konnte ich feststellen, dass dieses Thema innerhalb pädagogischer Arbeitsbereiche bis heute leider vernachlässigt wurde und wird (Thünemann-Albers 2020 336). Mittels verschiedener körperorientierter Interaktionen kam es in diesem Pilotprojekt zu vielen positiven Berührungen zwischen den Teilnehmern, die gleichsam auch Beziehungsthemen spiegelten. Am Ende der zweijährigen Fördermaßnahme brachte eine Pflegemuttern es durch ihre Aussage “Plötzlich ist da viel mehr Nähe!“ (s.o.) auf den Punkt Dies verdeutlicht, dass Berührungen im Kontext von Beziehungen betrachtet werden sollten. Dies gilt nicht nur bei Pflegekindern, sondern ebenso allgemein in der Erziehung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen für Erzieher*innen und Lehrer*innen, aber auch für Trainer*innen gehört bei ihrer Arbeit Berührung - wenn vom Gegenüber selbstbestimmt akzeptiert – zum naturgemäßen Teil ihrer Tätigkeit.

Um die Bedeutungsdimension eines Körperkontaktes erfassen zu können, ist zu fragen, welche Kriterien eine gute Berührung“ (Anders/Weddemar 2002) - und damit ein „Wohl-Befinden“ - aufweisen sollte, und was auf der anderen Seite eine problematische Berührung kennzeichnet.

Anders/Weddemar empfehlen zum Schutz der Kinder, dass sich. die Berührenden das eigene Körperbild bewusst machen, d. h. erfahrene „Erlebnisweisen“ hinsichtlich eigener Berührungen reflektieren, damit es nicht zu Projektionen kommt. Denn die Wirkweisen von Berührungen stehen in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander und eine isolierte Betrachtung reicht für einen positiven Umgang mit Berührungen nicht aus. Weiter ist es wichtig, sich mit der Wirkung verschiedener Berührungsqualitäten bzw. dem Zusammenhang von Einstellungen und Berührung zu beschäftigen. Es geht darum, sich selbst und die Qualität der Berührung besser wahr zu nehmen um diese variieren zu können. So kann für beide Seiten, wie beispielhaft innerhalb der Psychomotorik, durch das spielerische Tun ein neuer „Begegnungs- und Berührungsraum“ (Zimmer 2015) entstehen, durch den das Gegenüber bei allen Interaktionen die Möglichkeit behält, eigenaktiv zu reagieren und autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit. zu sein und damit einen zufriedenstellenden „Körperdialog“ zu erleben. Nach Anders und Weddemar ist in allen Altersstufen und Körperinterventionen von einer qualitativ guten Berührung zu sprechen, wenn dabei die folgenden 6 Kennzeichen vorhanden sind:

1. Freiwilligkeit (Autonomieerfahrung)
2. Druck und Dauer der Berührung (Intensität und Zeit)
3. In-sich-stimmige-Situation (Sozialer Kontext, Hierarchie),
4. Berührte Körperstelle (lokale Akzeptanz),
5. Vertrauen, Ehrlichkeit (soziale Akzeptanz, Sympathie) und
6. Transparenz, Intention (Erkennbarkeit des Motivs)

Kultur- und familienspezifische Unterschiede im Umgang mit Körperkontakt und Berührung

Es ist wichtig und sinnvoll, die oben aufgeführten Überlegungen zusätzlich in den Kontext von Einstellungen und Praktiken der verschiedenen Kulturen (Keller, Otto,2012 und 2019) und Milieus hinsichtlich deren Umgang mit Berührung zu kennen und dementsprechend zu berücksichtigen. Denn so, wie es insgesamt innerhalb der nonverbalen Kommunikation für bestimmte Situationen kultur- und milieuspezifische Regeln gibt – Margret Payer (2006) spricht diesbezüglich von „internationalen Kommunikationskulturen“ –, gilt dies auch für den Körperkontakt als dessen Teilbereich.

Je nach Kultur und entsprechender Sozialisierung gibt es ganz verschiedene Grenzen und Toleranzen für Berührungen oder Stimulierungen. Die „konstitutionellen, organischen und temperamentgemäßen Eigenschaften“ von Kindern (Montagu 1990, 170) können dadurch verstärkt oder vermindert werden. Im Extrem gibt es auf der einen Seite ganze „Rühr mich nicht an“-Kulturbereiche, die die Interaktion der verschiedenen Menschen beherrscht. In anderen Kulturen wiederum „ist das Berühren ein wichtiger Teil des Lebens und Umarmen, Streicheln und Küssen sind so selbstverständlich, dass es anderen evtl. merkwürdig und peinlich vorkommt.“ (Montagu 1990, 170).

Grundsätzlich weist Montagu (s.o.) aber auch darauf hin, dass sich Unterschiede in der Berührungsbefindlichkeit nicht nur kulturspezifisch, sondern auch in einzelnen Familien entwickeln – so gibt es Familien, in denen eine unbefangene und häufige Berührung mehr oder weniger selbstverständlich ist, und zwar nicht nur zwischen Eltern und Kind, sondern auch zwischen allen weiteren Familienmitgliedern. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Familien, in denen nur ein minimaler Berührungskontakt zwischen den einzelnen Angehörigen üblich ist.
Wichtig ist es also, sich über eine weite Spanne der möglichen Berührungstoleranzen bewusst zu sein und sich davor zu hüten, sein eigenes Berührungsverhalten als Maßstab zu nehmen.

Dass sich die allgemeinen kulturell entwickelten Berührungsmodi und die innerhalb einer Familie gegenseitig bedingen und gleichzeitig voneinander unterscheiden, wird an folgender beispielhafter Beobachtungwie deutlich: Eltern tauschen in einem Restaurant in Deutschland mit ihrem Kind Berührungen und Zärtlichkeiten aus und sind sich anscheinend sicher, dass dies von den anderen Gästen in unserem Kulturkreis toleriert wird. Auch das Stillen ist heute in der Öffentlichkeit möglich. Noch vor ein paar Jahrzehnten wäre dies nicht der Fall gewesen (vgl. Lloyd deMause (1980)).

Marie1Abwechselnd nehmen die jungen Eltern eines drei Monate alten plötzlich weinenden Säuglings ihn zur Beruhigung aus seiner liegenden Position und halten ihn mit beiden Armen umfassend dicht am Körper, wiegen ihn und summen dabei. Vorsichtig legen sie das so offensichtlich schnell beruhigte Kind wieder in seinen Wagen, schaukeln es und die Eltern setzen das Essen fort. Beiden – sowohl Kind als auch Erwachsenen – schien diese interaktive berührungsorientierte Dialogform vertraut zu sein: Vater und Mutter zeigten dies durch die selbstverständliche Art und Weise der Handhabung und das Kind durch sein unmittelbares Beruhigt-werden-Können. Erwirkt wird dies mittels einer Lageveränderung und dadurch, geschaukelt zu werden sowie durch das Spüren des eigenen und des anderen Körpers, das Hören des Herzschlags und der vertrauten Stimme der Mutter bzw. des Vaters Für die Beobachterin wurde eine „eingespielte“ Trias deutlich sicht- und spürbar durch ein anscheinend „bindendes“ Wechselspiel von Aspekten der Sicherheit, des Schutzes und Vertrauens. Das Kind erfährt eine zärtlich-zugewandte und akzeptierte Berührungsinteraktion, beide Eltern schauen das Kind an, wiederholen dessen Laute, sprechen mit ihm und unterstreichen dies durch Tonfall und Mimik. Sowohl Kind als auch Erwachsene zeigen deutlich: Wir gehören zusammen und reagieren aufeinander und sind miteinander verbunden. (vgl. Böhme 2018 und Liedloff 2006).

Heidi Keller (2012) stellte bei ihren ethnographischen Forschungen in Afrika fest, dass die Kinder dort zwar ebenfalls sehr viel und lange getragen werden, aber nicht nur wie bei uns – und wie auf dem Foto zu sehen ist – Mutter und Vater, sondern eher dem sozialen Umfeld zuge-wandt gehalten werden. Keller sieht dadurch bedingt einen Zusam-menhang zum frühen sozialen Verhalten der dortigen Kinder.

Zwischen leiblicher Präsenz und digitaler Distanz

Der Körper spricht mittels der Berührung eine „Sprache“ jenseits der verbalen Darstellung, deren Wahrnehmung einen wichtigen „Schlüssel“ für das Verstehen und die Interaktion zwischen Kind und anderen Menschen darstellt. Die Sportwissenschaftlerin Anke Abraham (2006) nimmt an, dass heute viele Eltern bereits den unmittelbaren körperlichen Kontakt zu ihren Kindern verloren haben und nicht mehr in der Lage sind, mit ihren Kindern körperorientiert zu kommunizieren. Statt, wie oben aufgezeigt, mit „leiblicher Präsenz“ durch Zugewandtheit und unmittelbarer Berührungen, würde im Alltag der Beziehung eher distanziert und/oder intellektualisiert kommuniziert. Das Zeitalter der Digitalisierung scheint diese Tendenz zu verstärken.

Ein Dilemma in der heutigen Internetgesellschaft ist, dass Online längst so gut wie alles, außer Berührung und somit unmittelbarer Körperkontakt, möglich ist Die Folgen dieses Mankos gehen tief „unter die Haut“. Die menschliche Psyche leidet ebenso wie die Gesundheit (vgl. Grunwald 2017). In der momentanen Corona-Zeit ist ausgerechnet das einfachste Heilmittel gegen Angst und Stress für viele Menschen besonders schwer zu bekommen und Nähe und damit Berührung wird bedrohlich.

Für Erzieherinnen ist es sehr wichtig, gegenüber Berührungen zwischen ihnen und den Kindern, aber auch zwischen ihnen und Erwachsenen, d. h. Eltern und Kollegen sensibel zu sein, die Kriterien einer guten Berührung zu kennen und zu erproben. Im Kindergarten gilt es auch unbedingt die diesbezüglichen kulturellen Unterschiede zu kennen und zu respektieren. Als Berührende sollten Sie sich - wie oben dargestellt - eigene Berührungserfahrungen bewusst machen und reflektieren Weiter könnten sie beobachten, inwieweit positive Berührung ihre Beziehung zum einzelnen Kind beeinflusst oder und sogar verändert und dieses komplexe Thema auch für ein Teamgespräch, Supervision, Elternabend oder Informationsbrief nutzen. Vergegenwärtigen Sie sich in Ihrer Praxis immer, dass eine positive Berührung eine gute Lösung sein kann, wenn Worte nicht helfen oder keine passenden gefunden werden können. Nehmen Sie Hautkontakt auf!

Literaturangaben: eine Auswahl:

  • Abraham, A. (2006). Der Körper im biographischen Kontext: Ein wissenssoziologischer Beitrag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Anders W, Weddemar M. (2002). Häute (schoen) berührt?: Körperkontakt in Entwicklung und Erziehung. Dortmund: Borgmann.
  • Ayres, A. (1984). Bausteine der kindlichen Entwicklung: Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Berlin, Heidelberg: Springer.
  • Anzieu, D. (1992). Das Haut-Ich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Benthien, C. (1999). Haut: Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Berlin.
  • Fröhlich, A. (1991). Basale Stimulation. Berlin: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
  • Grunwald,M. (2017).Homo Hapticus: Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer.
  • Keller, H., Otto, H. (2012). Bindung und Kultur. Nifbe Themenheft 1, 2011
  • Keller; H. (2019). Mythos Bindung: Konzept Methode Bilanz. Berlin: Das Netz
  • Leboyer, F. (1991). Sanfte Hände: Die traditionelle Kunst der indischen Baby-Massage. München: Kösel.
  • Liedloff, J (2006). Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. München: Beck
  • Payer, M. (2011). Selbstkonzept.: Internationale Kommunikationskulturen
  • Montagu, A. (2000). Körperkontakt: Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Menschen. Stuttgart: Klett–Cotta.
  • Spitz, R. (1996). Vom Säugling zum Kleinkind: Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Stuttgart: Klett-Cotta..
  • Thünemann-Albers, M (2020). “Plötzlich ist da viel mehr Nähe!“ Körpererfahrungen und Beziehung. Studien zur Konzeption und Erprobung einer Fördermaßnahme für Pflegefamilien. Dissertation.
  • Zimmer, R. (2015). Handbuch der Sinneswahrnehmung: Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder


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