Petra Wagner

Die Corona-Krise in der Kita vorurteilsbewusst angehen

Co-Autorin: Tajan Ringkamp


In diesem Beitrag betrachten wir aktuelle Corona-Fragen mit der Brille der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Wir wenden uns damit an Kitaleitungen, Fachberater*innen und Trägervertreter*innen.

Die Corona-Krise verstärkt soziale Ungleichheiten und Belastungen im Kitasystem

COVID-19 trifft nicht alle Menschen gleich. In ihren Auswirkungen verstärkt die Corona-Krise die bestehenden sozialen Ungleichheiten. (1) Diskriminierung nimmt zu, unmittelbar und strukturell. (2) Kitas sind ein Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit. Schieflagen und Missstände treten auch hier deutlicher hervor:

Das Kitapersonal stellt seine „Systemrelevanz“ mit jedem Tag der Kitaöffnung unter Beweis. Doch der Personalmangel, den es schon davor gab, spitzt sich zu. Die Aufgaben werden zugleich mehr: Hygienemaßnahmen, Umstrukturierungen des Alltags, Informationsaufnahme und -vermittlung sowie Eingehen auf Ängste und Unsicherheiten…

Pädagogische Fachkräfte erleben Kinder in dieser Krisenzeit sehr unterschiedlich. Manche wirken gestärkt, manche gestresst und verzagt. Viele Kinder kooperieren bereitwillig beim Befolgen der neuen Regelungen in der Kita. Viele sind froh, wieder mit Kindern zu sein. Für die Möglichkeiten der Teilhabe von Kindern in der Corona-Krise spielt der soziale Status ihrer Familie eine wesentliche Rolle. In von Armut betroffene Familien sind auch die Einschränkungen für die Kinder erheblich. (3)

Leitungen stehen unter einem enormen Druck: Es müssen viele Gespräche geführt werden mit dem Träger, Mitarbeiter*innen und mit Eltern/ Bezugspersonen. Einschätzungen über Risiken, Abwägungen und Beratung sind ständig aufs Neue gefragt. Personalmangel, weil Mitarbeiter*innen zur Risikogruppe gehören, müssen kompensiert werden. Projekte liegen brach, Routinen müssen überdacht werden und es gibt keine Planungssicherheit. Die Kitas selbst funktionieren im Krisenmodus, mit Belastungen für alle Beteiligten.

Kitas im Krisenmodus: Spannungsverhältnisse und Bewältigungsstrategien

Die Spannungsverhältnisse, in denen pädagogische Fachkräfte, Leiter*innen und Kitaträger stehen:
Spannungsverhältnisse entziehen Kraft und Energie. Sie können lähmen oder Hektik und Aktivismus auslösen. Die Unklarheiten können dazu führen, dass die eigenen Aufgaben diffus werden. Eine Reaktion kann Verantwortungsabwehr sein, indem man Regelungen „von oben“ einfordert oder indem die Covid-19-Gefahren geleugnet oder ignoriert werden. Unter Stress kommen Schuldzuweisungen vor, die häufig mit Verallgemeinerungen, Diskriminierungen und der Stigmatisierung von Menschen einhergehen. Diese Bewältigungsstrategien sind nicht hilfreich. Im Gegenteil: Sie erschweren das Zusammenstehen, das in der Krise so nötig ist. Gefragt sind Strategien, die zur Solidarisierung und zur Stärkung der Handlungsfähigkeit beitragen.

Ein Beispiel hierfür könnte Fokussierung sein: Das Tempo drosseln, zur Ruhe kommen, Konzentration auf die eigenen Aufgaben, Rückbesinnung auf eigene Werte und pädagogische Ansprüche. Den Dialog mit Kindern, Eltern/ Bezugspersonen, Kolleg*innen suchen. Das ständige Abwägenmüssen als Teil der eigenen Aufgabe akzeptieren, genauso wie das Kommunizieren darüber. Fehler als unvermeidlich sehen und interessiert sein an Lernchancen und neuen Perspektiven, die sich in der unübersichtlichen Situation auftun. Für all dies Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen, auch das gehört dazu.

Was kommt bei Kindern an?

Kinder sind von den Corona-bedingten Einschränkungen und Spannungen in ihren Familien und in ihrem Umfeld unmittelbar betroffen. Ihre Bedürfnisse sind jedoch selten ein Thema. Darin zeigt sich ein bekanntes Muster: Wenn es um politische Entscheidungen mit Tragweite geht, wird die Meinung der Kinder und Jugendlichen nicht berücksichtigt. (4) Die Geringschätzung trifft tendenziell alle Kinder. Im Machtungleichgewicht gegenüber Erwachsenen ziehen sie den Kürzeren. Werden Belastungen, Erlebnisse und Sichtweisen von Kindern abgetan oder ignoriert, so zeigt sich darin Adultismus. (5)

Kinder erleben zusätzlich Benachteiligungen und Diskriminierungen auf Grund zugeschriebener weiterer Merkmale: „Geh weg, du bist ein Virus!“ (6) – im Kindergarten von einem anderen Kind gesagt, ist verstörend und braucht pädagogische Fachkräfte, die intervenieren. Wenn Freund*innen wegen der Berufe ihrer Eltern früher in die Kita durften als sie selbst, können Kinder schlussfolgern, dass ihre Eltern nicht die „richtigen“ Berufe haben. Kinder können kombinieren: Wenn ein Virus auftritt, bleiben die Mütter zuhause, versorgen die Kinder und den Haushalt. Um solche Botschaften in den Kitas nicht zu verstärken, braucht es ein bewusstes Entgegenwirken.

Was kann Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung beitragen?

Manchmal heißt es jetzt, das Krisenmanagement in Kitas und Schulen lasse keinen Raum mehr für „das Pädagogische“. Für Kinder gibt es eine solche Trennung nicht: Was Erwachsene jetzt tun oder unterlassen, signalisiert Kindern wie sonst auch, welche Lern- und Handlungsmöglichkeiten sie haben. Gibt es jetzt weniger Partizipation, so verstehen Kinder, dass Beteiligung an Voraussetzungen geknüpft ist, die sie nicht beeinflussen können. Aufgeregte und überlastete pädagogische Fachkräfte signalisieren Kindern, dass es gerade nicht um sie geht. Erwachsene mögen hoffen, dass die Krise bald vorbei ist und eine Rückkehr zur „Normalität“ möglich ist. Für Kinder bedeutet die Krise die Gegenwart, mit der sie einen Umgang finden müssen. Sie dabei zu unterstützen kennzeichnet professionelles Handeln.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung verhilft zur Fokussierung, um auch in der Krise Ruhe zu bewahren. Es geht darum, sich am Wohlergehen der Kinder und Erwachsenen, an den Kinderrechten, an Solidarisierung und sozialer Gerechtigkeit zu orientieren. (7)

Empfehlungen für die Praxis in der Kita

Kinder als Akteur*innen in der Krise ernstnehmen
Kinder machen sich eigensinnige Bilder von der aktuellen Situation und haben Fragen. Sie erfassen genau, wie darauf reagiert wird und ob sie ernst genommen werden. Sie brauchen nun Erwachsene, die sich mit ihnen über ihre Gefühle austauschen, ihr Wissen teilen und sich nicht scheuen, Fragen umfassend zu beantworten oder gemeinsam nach Antworten zu suchen.

Unterscheiden Sie Erwachsenenthemen und Kinderthemen
Zeigen die Erwachsenen selbst große Ängste und Unsicherheiten, so zweifeln Kinder, ob sie sicher und gut aufgehoben sind. Das Kitapersonal und erwachsene Familienmitglieder sollten daher getrennt von Kindern reflektieren, was die Corona-Krise bei ihnen auslöst. Nur so können sie Kinderthemen und Erwachsenenthemen in Bezug auf Corona unterscheiden und darauf achten, beides nicht zu vermischen.
Wichtig sind jetzt Gespräche mit Kindern über Gefühle und darüber, was anders ist als sonst. Geben Sie Kindern korrekte Sachinformationen. Nutzen Sie Kinderbücher zum Thema. (8)

Schützen Sie Kinder vor Adultismus.
Wenn volle Gruppen, Personalmangel und gesteigerte Lautstärke zu mehr Reglementierungen führen, ist die Gefahr groß, dass adultistische Verhaltensweisen legitimiert werden. „Setz dich endlich mal hin oder hast du Hummeln im Hintern!“ „Mal doch einfach mal ein Bild!“ „Halt jetzt endlich mal den Schnabel und sei leise“ „Schon wieder du…“
Es braucht immer wieder eine Erinnerung, dass Adultismus Kindern schadet und Kinder kooperieren wollen, wenn sie einbezogen werden. Nun sind kreative Ideen gefragt, wie ihre Beteiligung auch unter den spannungsreichen Rahmenbedingungen gelingen kann. (9) Es ist eine gute Gelegenheit, nun ein diskriminierungssensibles Beschwerdeverfahren einzuführen. (10)

Reflexionsprozesse im Team ermöglichen
„Druck von allen Seiten…“ „Die Pädagogik muss hinten runterfallen, wir müssen nur noch Anweisungen ausführen, die sich jeden Tag ändern.“ Solche Äußerungen sind alarmierend und geben Hinweise auf Austausch- und Handlungsbedarf. Klare Absprachen geben Sicherheit. (11) Nehmen Sie dafür Hilfe in Form von Coaching und Supervision in Anspruch. Es muss nicht alles allein geschafft werden. Leitungen sollten sich professionelle Unterstützung gönnen.

Nehmen Sie sich Zeit, um sich im Team auszutauschen
Unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen unter Kolleg*innen können im Team zu Barrieren werden. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Bedürfnissen in Bezug auf die Corona-Pandemie kann helfen. Die unterschiedlichen Perspektiven werden dabei deutlich und verständlich. Sie werden als gleichberechtigt anerkannt.

Ein nächster Schritt ist der Austausch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede z.B.: Werden bestimmte Sorgen als mehrfachbelastete Bezugsperson geteilt? Oder als pflegende*r Angehörige*r eines Familienmitglieds? Welchen Unterschied macht es, wenn Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit in der Familie deren sozio-ökonomische Grundlage bedroht? Wer teilt mit wem zunehmenden Alltagsrassismus und welchen Unterschied macht das im Erleben der Corona-Krise? In den persönlichen Geschichten spiegelt sich auch soziale Ungleichheit.
Inklusive Werteklärungen: Besinnen Sie sich auf Ihre pädagogischen Ansprüche

Auf der Grundlage persönlicher Betroffenheiten von sozialer Ungleichheit, die sich in der Corona-Krise verschärft, kann sich das Team darüber austauschen, welche Ausschlüsse und Diskriminierungen in der Kita beobachtet werden. Und sich fragen: Welche unserer Werte werden damit verletzt?

Verständigen Sie sich über Ihre Wertebasis und besinnen Sie sich auf Ihre Verantwortung, für Inklusion, für die Teilhabe aller, für den Schutz vor Diskriminierung. Einigen Sie sich darauf, in diskriminierenden Situationen zu intervenieren. Treffen Sie die Abmachung, sich gegenseitig darauf hinzuweisen.

Wege der Kommunikation mit Eltern /Bezugspersonen suchen
„Warum hat diese Familie einen Notbetreuungsplatz bekommen und wir nicht?“ „Warum muss ich mein Kind schon wieder abholen?“ Familien haben erfahren, nicht „systemrelevant“ zu sein und waren mit der Kinderbetreuung auf sich gestellt. Das Wegbrechen des Hilfesystems musste und muss in den Familien kompensiert werden, worüber insbesondere Eltern/Bezugspersonen von Kindern mit Behinderungen klagen. (12) Besonders Alleinerziehende kommen an körperliche und psychische Belastungsgrenzen.

Schaffen Sie Austauschräume mit Familien
Ärger oder Empörung darüber, im Stich gelassen zu werden, kann nachwirken und die Beziehung zum Kitapersonal belasten und dadurch zu einer Beeinträchtigung im Kontakt führen. Solche „Reste“ bedürfen des Austauschs. Doch die üblichen Austauschräume, wie Gespräche zwischen Tür und Angel, Familiennachmittage, Eltern-/ Bezugspersonen-Treffs, Elternabende stehen nicht zur Verfügung.

Was tun, wenn plötzlich der persönliche Kontakt fehlt, der bisher als Basis einer guten Beziehung und Zusammenarbeit gegolten hat? Wie findet nun eine Verständigung über Geschehnisse aus dem Kitaalltag statt?

Die Herausforderungen als solche anzuerkennen und zu benennen ist ein Anfang. Auf die Eltern/ Bezugspersonen gezielt zuzugehen und nachzufragen, welche Formen des Austauschs für sie stimmig sind, kann Hinweise auf fehlende Begegnungsräume geben.

Überprüfen Sie die Kommunikationswege und bauen Sie Barrieren ab
Die Überprüfung ist vom Interesse geleitet, eine gute Verständigung mit allen Familien herzustellen und ALLE Familien im Blick zu behalten. Die Strategie „Ich informiere alle gleich“ geht nicht auf, weil sich die Möglichkeiten und Zugänge der Familien unterscheiden.

Überprüfungsfragen müssen die vorhandenen Unterschiede berücksichtigen, z.B. Erreichen die aktuellen Kommunikationswege und -kanäle wirklich alle Familien? Erhalten alle Eltern/ Bezugspersonen alle relevanten Informationen oder werden Informationen nur auf Deutsch und schriftlich vermittelt? Wie gelangen Informationen an Eltern/ Bezugspersonen, deren Kinder in verschiedenen Haushalten leben?
Nach der Bestandsaufnahme geht es darum, geeignete Gesprächsanlässe zu schaffen, die den Perspektiven und Anliegen der Eltern/Bezugspersonen gerecht werden. Unterschiedliche Kommunikationswege und -kanäle sind gefragt:

Für Kinder ist die Zugehörigkeit ihrer Eltern/ Bezugspersonen zur Kita ein wichtiges Signal, dass ihre Familien hier wichtig sind. Es ermutigt sie, sich aktiv zu beteiligen, wenn sie die Erfahrung machen, dass es auf sie und ihre Familie ankommt und dass ihre Beiträge geschätzt werden. So wird die Kita als demokratischer Lernort erlebbar, für Kind und Erwachsene.

Ausblick: Kompass gesucht

Die gegenwärtige Corona-Krise verunsichert und belastet, auch die Kitas. Wie immer in unübersichtlichen Zeiten ist es ratsam, auf das Eigentliche zu fokussieren und nicht zu erlauben, dass es zerfasert oder sich auflöst. Was ist für das Kitapersonal „das Eigentliche“? Pädagog*innen übernehmen Verantwortung für gelingende Bildungsprozesse von jungen Kindern. Dafür brauchen sie eine sichere Navigation entlang von Zielen und Werten, die sie auch in Krisenzeiten nicht verlässt. Die Orientierung an den Kinderrechten, an Inklusion, an Teilhabe, am Respekt für Unterschiede und am Schutz vor Diskriminierung liefert hierfür einen geeigneten Kompass.


(1) Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/detailpolitisches-feuilleton.1005.de.html?dram:article_id=476308%3B+https%3A%2F%2Fwww.dgb.de%2Fthemen%2F++co++6bf77ed6-9f34-11ea-9db2-525400e5a74a
(2) Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat vermehrt Anfragen wegen Diskriminierung im Zusammenhang mit der Corona-Krise, wovon auch junge Kinder betroffen sind:
https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUnd-Forschung/Corona/Corona_node.html
(3) https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/factsheet-kinderarmut-in-deutschland; https://www.awo-mittelrhein.de/media/3-2020-bima-rz.pdf
(4) https://www.kma-online.de/aktuelles/politik/detail/kinder-sind-verlierer-der-corona-krise-a-43224
(5) Adultismus ist die Vorstellung von der Höherwertigkeit der Anliegen und Perspektiven der Erwachsenen vor denen von Kindern, vgl. Sandra Richter in: https://dev.situationsansatz.de/wp-content/uploads/2019/08/Richter2018_Dafürbist-du-noch-zu-jung_kinderleicht.pdf
(6) https://taz.de/Rassismus-in-Zeiten-von-Corona/!5668862/ Zu Erfahrungsberichten über rassistische Diskriminierung von als „asiatisch“ gelesenen Menschen: https://www.ichbinkeinvirus.org/erfahrungsberichte/
(7) Vgl. Wagner, Petra (2020): Was Demokratie mit Vielfalt und Schutz vor Diskriminierung zu tun hat, https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2020/07/Wagner_2020_Demokratie_wamiki.pdf
Beispiele in Praxisbüchern „Inklusion in der Kitapraxis“ https://situationsansatz.de/?s=inklusion+in+der+kitapraxis-&post_types=publikationen
(8) Kinderbuchempfehlungen der Fachstelle Kinderwelten zu Corona: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2020/09/Corona_Kibuchliste_fin.pdf
(9) Vgl. https://www.duvk.de/blog/partizipation-kitas-zeiten-von-corona/
(10) https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2020/07/Kids_Arbeitshilfe_webversion.pdf
(11) https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/200421_orientierungshilfe-kitas-corona.pdf
(12) https://www.eltern-beraten-eltern.de/corona-und-kindermit-behinderung-familien-brauchen-besondere-beachtung/

Drucken


Verwandte Themen und Schlagworte